Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 III 461



123 III 461

71. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 19. November 1997 i.S.
Christine Z.-B. gegen Susanne S.-R. und Peter R. (Berufung) Regeste

    Art. 738 ZGB und 975 ZGB; Ermittlung des Inhaltes einer Dienstbarkeit.

    Soweit sich der Inhalt einer Dienstbarkeit aus dem Wortlaut des
Grundbucheintrages deutlich ergibt (Art. 738 Abs. 1 ZGB), ist es
unzulässig, für die Ermittlung des Inhaltes auf den Erwerbsgrund
zurückzugreifen (Art. 738 Abs. 2 ZGB) (E. 2a und b).

    Stehen sich nicht mehr die ursprünglichen Parteien gegenüber, kann
die Löschung oder Änderung des Grundbucheintrages unter Hinweis darauf,
dass der Eintrag nicht mit dem Erwerbsgrund übereinstimmt, nur mit einer
Grundbuchberichtigungsklage (Art. 975 ZGB) verlangt werden (E. 2c).

Sachverhalt

    Am 1. Februar 1947 verstarb Johann R. und hinterliess als gesetzliche
Erben seine drei Söhne Walter R., Max R. und Ernst R. Mit öffentlich
beurkundetem Kauf- und Pfandvertrag vom 30. September 1950 verkaufte die
aus den drei Söhnen bestehende Erbengemeinschaft die Liegenschaft X zum
Preis von Fr. 70'000.-- an den Miterben Ernst R. In Ziff. 9 des erwähnten
Vertrages wurde ein Wohnrecht an der Parterrewohnung der betreffenden
Liegenschaft vereinbart mit folgendem Wortlaut:

    "Dienstbarkeitserrichtung, im Nachgang zum Pfandrecht von
Fr. 30'000.--.

    Der Mitverkäufer, Herr Walter R., behält sich auf Lebenszeit vor
und zwar
   für sich, seine Ehefrau und seine beiden Kinder Peter R. und Suzanna
   R. das

    Wohnrecht in der Parterrewohnung im vorbeschriebenen Hause,
bestehend aus
   drei Zimmern, Küche, Bad und übrige Dependenzen, wie auch die

    Gartenbenützung.

    Dieses Recht ist als Dienstbarkeit ins Grundbuch einzutragen, wozu die

    Bewilligung erteilt wird."

    Gestützt darauf wurde die Dienstbarkeit am 2. November 1950 mit
folgendem Wortlaut im Grundbuch eingetragen:

    "Wohnrecht zG Walter R., Gertrud R. & Peter & Susanna R."

    In der Folge wurde vom Wohnrecht kein Gebrauch gemacht. Am 24. Januar
1963 verkaufte Ernst R. das betreffende Grundstück an Paul B. Nach dessen
Tod wurde die Liegenschaft am 21. Dezember 1988 von Christine Z.-B. aus
dem Nachlass übernommen. Mit Schreiben vom 18. Juli 1995 wurden Gertrud R.,
Peter R. sowie Susanne S.-R. - früher Susanne R. - im Zusammenhang mit der
Neuerrichtung von Grundpfandrechten ersucht, gegenüber den bestehenden und
den neu zu errichtenden Pfandrechten für das Wohnrecht den Nachgang zu
erklären; der ebenfalls im Grundbuch eingetragene Walter R. war bereits
im Jahr 1987 verstorben. Mit Schreiben vom 7. August 1995 liess Susanna
S.-R. mitteilen, dass sie sowie Gertrud R. und Peter R. sich vorbehielten,
in die in Frage stehende Parterre Wohnung einzuziehen und dort Wohnsitz
zu begründen bzw. die Wohnung als Ferienwohnung zu benützen; sie seien
allerdings auch bereit, über eine Löschung des Wohnrechtes im Grundbuch
gegen Entschädigung zu verhandeln.

    Nachdem Verhandlungen zwischen den Beteiligten zu keinem Ergebnis
geführt hatten, erhoben Susanne S.-R. und Peter R. am 15. Juli 1996
gegen Christine Z.-B. Klage beim Appellationshof des Kantons Bern;
sie beantragten im wesentlichen, das Bestehen des Wohnrechtes an der
erwähnten Wohnung sei festzustellen und Christine Z.-B. zu verpflichten,
die Parterrewohnung samt Gartenanteil innert richterlich zu bestimmender
Frist zu räumen und ihnen zur Verfügung zu stellen. Mit Urteil vom
30. April 1997 hiess der Appellationshof des Kantons Bern die Klage
gut und stellte fest, dass Susanne S.-R. und Peter R. das umstrittene
Wohnrecht zustehe; Christine Z.-B. wurde verpflichtet, die Wohnung bis
spätestens 1. November 1997 zu räumen und den Klägern zur freien Verfügung
zu stellen. Eine von Christine Z.-B. dagegen erhobene Berufung wies das
Bundesgericht ab, soweit es darauf eintrat.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Appellationshof des Kantons Bern ist in seinem Urteil vom
30. April 1997 im wesentlichen davon ausgegangen, dass mit dem am 30.
September 1950 vereinbarten und am 2. November 1950 im Grundbuch
eingetragenen Wohnrecht nicht nur zugunsten von Walter R. - und seiner
Ehefrau -, sondern auch zugunsten ihrer beiden Kinder - den heutigen
Klägern - je ein Wohnrecht an der Parterrewohnung in der Liegenschaft
der Beklagten auf Lebenszeiten errichtet worden sei. Dieses Wohnrecht
sei nicht untergegangen; weder könne aus dem Nichtausüben des Rechtes
während längerer Zeit auf einen Verzicht auf das Wohnrecht geschlossen
werden, noch könne die Geltendmachung des Wohnrechtes durch die Kläger
als rechtsmissbräuchlich bezeichnet werden, da ein Interesse der nicht
mehr erwerbstätigen Kläger bestehe, zumindest zeitweise im Haus zu wohnen.

    Die Beklagte hält diese Begründung in verschiedener Hinsicht für
bundesrechtswidrig.

Erwägung 2

    2.- In erster Linie stellt sich die Beklagte auf den Standpunkt,
dass das vertraglich begründete und im Grundbuch eingetragene Wohnrecht
nur zu Gunsten von Walter R. und nicht auch zugunsten von dessen beiden
Kindern - den heutigen Klägern - begründet worden sei.

    a) Gemäss Art. 738 Abs. 1 ZGB ist der Grundbucheintrag für den Inhalt
der Dienstbarkeit massgebend, soweit sich Rechte und Pflichten daraus
deutlich ergeben. Art. 738 Abs. 2 ZGB bestimmt sodann, dass sich im Rahmen
des Eintrages der Inhalt der Dienstbarkeit aus ihrem Erwerbsgrund oder
aus der Art ergeben kann, wie sie während längerer Zeit unangefochten
und in gutem Glauben ausgeübt worden ist. Der Appellationshof hat es
unterlassen zu prüfen, ob sich der Inhalt der Dienstbarkeit nicht bereits
aus dem Wortlaut des Grundbucheintrages deutlich ergebe; vielmehr kam
er mittels Auslegung von Ziff. 9 des öffentlich beurkundeten Kauf- und
Pfandrechtsvertrags vom 30. September 1950 zum Schluss, dass den Klägern
ein Wohnrecht zustehe.

    b) Die vom Appellationshof vorgenommene Auslegung der Dienstbarkeit
nach dem Erwerbsgrund erweist sich als unzulässig, weil sich der Inhalt
der Dienstbarkeit aus dem Grundbucheintrag deutlich ergibt (Art. 738
Abs. 1 ZGB) und der Eintrag infolgedessen ausschliesslich massgebend
ist. Einerseits ist der Kreis der benutzungsberechtigten Personen
eindeutig umschrieben. Dem Grundbucheintrag ist klar zu entnehmen,
das ein Wohnrecht Walter R., Gertrud R. sowie deren Kinder Peter
R. und Susanne S.-R. eingeräumt wurde. Bei den Klägern handelt es
sich demnach nicht einfach um vom Aufnahmerecht eines Wohnberechtigten
profitierende Familienmitglieder (Art. 777 Abs. 2 ZGB), denen aber kein
Wohnrecht zusteht; vielmehr haben sie aufgrund des Eintrages selber als
Wohnberechtigte zu gelten, denen je ein selbständiges dingliches Recht
zusteht. Andrerseits ist der Grundbucheintrag nicht nur bezüglich des
Kreises der berechtigten Personen, sondern auch hinsichtlich der Dauer der
Wohnrechte eindeutig. Die zeitliche Beschränkung eines Wohnrechtes wäre
zwar ohne weiteres möglich, doch ergibt sich dafür aus dem Grundbucheintrag
nicht der mindeste Hinweis; vielmehr wird den vier berechtigten Personen
unterschiedslos ein Wohnrecht ohne zeitliche Befristung eingeräumt. Damit
gelangt aber die gesetzliche Regelung zur Anwendung, dass das Wohnrecht
- ohne gegenteilige Anordnung - mit dem Tod des Berechtigten endigt
(Art. 776 Abs. 2 ZGB und Art. 776 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 749
Abs. 1 ZGB). Ist aber der Grundbucheintrag sowohl hinsichtlich des Kreises
der begünstigten Personen als auch hinsichtlich der Dauer der ihnen
eingeräumten Wohnrechte klar, bleibt kein Raum, um für die Ermittlung
des Inhaltes der Dienstbarkeit auf ihren Erwerbsgrund zurückzugreifen.

    c) Nun kann aber auch ein deutlicher Eintrag unrichtig sein. Dies
macht die Beklagte sinngemäss geltend, wenn sie behauptet, aus dem
Erwerbsgrund ergebe sich, dass nur dem Vater der beiden Kläger, Walter R.,
ein eigenständiges bzw. auf Lebenszeit errichtetes Wohnrecht eingeräumt
worden sei. Während im Verhältnis zwischen den Parteien, die einander zur
Zeit der Begründung der Dienstbarkeit gegenübergestanden haben, nicht der
Eintrag, sondern der Erwerbsgrund, d.h. der vertragliche Begründungsakt
die Wirkung inhaltlicher Gestaltung hat (PETER LIVER, Zürcher Kommentar,
N. 23 zu Art. 738 ZGB), ist in Fällen wie dem vorliegenden, wo sich nicht
mehr die ursprünglichen Vertragsparteien gegenüberstehen, die Auslegung des
Erwerbsgrundes an die Schranke des Eintrags gebunden (LIVER, aaO, N. 91
zu Art. 738 ZGB): Ergeben sich aus diesem Rechte und Pflichten deutlich,
ist er allein massgebend. Der Dritterwerber kann sich dagegen wehren,
dass einer im Grundbuch klar umschriebenen Dienstbarkeit mittels Auslegung
des Erwerbsgrundes ein anderer Inhalt beigemessen wird; umgekehrt ist
ihm aber auch verwehrt, sich auf den Erwerbsgrund zu berufen, um daraus
einen für ihn vorteilhaften Inhalt einer Dienstbarkeit abzuleiten, der
dem Grundbucheintrag widerspricht. In einem solchen Fall wäre vielmehr
gestützt auf Art. 975 ZGB mittels Grundbuchberichtigungsklage die Löschung
oder Abänderung des Eintrages zu verlangen, falls der Grundbucheintrag
unter Berücksichtigung des Erwerbsgrundes als ungerechtfertigt erscheint
(LIVER, aaO, N. 26 zu Art. 738 ZGB). Eine Grundbuchberichtigungsklage
zur Löschung des nach Auffassung der Beklagten zu Unrecht eingetragenen
Wohnrechtes der Kläger wurde im vorliegenden Fall indessen nicht erhoben.

    d) Aus diesen Gründen ergibt sich, dass der Einwand der Beklagten
unbegründet ist, dass das Wohnrecht nur zu Gunsten von Walter R. und
nicht auch zugunsten von dessen beiden Kindern - den heutigen Klägern -
begründet worden sei.