Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 III 274



123 III 274

44. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 10. Juni 1997 i.S. B.
gegen X. Versicherung (Berufung) Regeste

    Art. 61 Abs. 1 SVG; Schadenersatz zwischen Motorfahrzeughaltern.

    Die Haftungskollision unter Haltern bezüglich des durch den Tod eines
Motorfahrzeughalters verursachten Versorgerschadens bestimmt sich nach
Art. 61 Abs. 1 SVG (E. 1a/aa).

    Die falsche Einstellung von Bremsen durch einen Garagisten ist dem
Halter nicht als Verschulden anzulasten. Die fehlerhafte Beschaffenheit
des Fahrzeuges ist als besonderer Umstand im Sinne von Art. 61 Abs. 1
SVG zu gewichten (E. 1a/bb).

    Kognition des Bundesgerichts bei der Gewichtung der Umstände
(E. 1a/cc).

Sachverhalt

    Am 10. Dezember 1990 fuhr C. mit einem vierachsigen Milchtanklastwagen
der Marke Saurer, an dem kurz zuvor ein grosser Service und eine Kontrolle
durch das kantonale Verkehrsamt Schwyz durchgeführt worden waren, auf der
Autostrasse N8 in Richtung Luzern durch den Loppertunnel. Als C. bemerkte,
dass Schnee vom Dach des vor ihm fahrenden Lastwagens herunterfiel,
bremste er leicht, was aufgrund der nassen Fahrbahn und des nicht richtig
eingestellten Bremskraftreglers zur Blockierung der hinteren Achsen,
dem Abstellen des Motors und damit auch dem Aussetzen der Lenkhilfe
führte. Dieser unerwartete Umstand erschreckte C. derart, dass er das
Bremspedal voll durchtrat und damit auch die Vorderräder blockierte. Der
Lastwagen wurde dadurch vollends instabil und geriet mit dem vorderen
Teil auf die linke Fahrbahn, wo er mit dem korrekt entgegenkommenden Jeep
Cherokee des W.B. zusammenstiess. Bei der Kollision wurde W.B. getötet.

    In der Folge eröffnete das Verhöramt Obwalden gegen C. ein
Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung. Das Kantonsgericht Obwalden
(als Strafgericht) sprach ihn jedoch am 17. Dezember 1993 von diesem
Vorwurf frei.

    Am 29. Juni 1992 klagten R.B., die Ehefrau des W.B., und dessen Söhne,
N.B. und M.B., beim Kantonsgericht Obwalden gegen die X. Versicherung als
Haftpflichtversicherung des Halters des Lastwagens und verlangten gestützt
auf Art. 65 SVG Schadenersatz und Genugtuung in der Höhe von insgesamt Fr.
2'108'080.55 zuzüglich Zins zu 8% seit 10. Dezember 1990.

    Das Kantonsgericht (als Zivilgericht) hiess die Klage am 24. Oktober
1994 im Umfang von Fr. 188'299.80 nebst 5% Zins seit 10. Dezember 1990 gut.

    Auf Appellation der Kläger und Anschlussappellation der Beklagten hin
reduzierte das Obergericht des Kantons Obwalden mit Urteil vom 26. Oktober
1995 den von der Beklagten zu bezahlenden Betrag auf Fr. 178'663.70
zuzüglich Zins zu 5% seit 10. Dezember 1990.

    Die Kläger haben dieses Urteil mit Berufung angefochten, welche das
Bundesgericht abwies.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das Obergericht kam zum Ergebnis, die Kläger hätten einen
Nettoversorgerschaden von insgesamt Fr. 179'926.30 erlitten. Diese
Schadensberechnung wird nicht angefochten. Umstritten ist hingegen die
Frage, in welchem Umfang die Beklagte für den Versorgerschaden haftet.

    Das Obergericht nahm an, die Beklagte habe eine Haftungsquote
von 90% zu übernehmen. Dem Lenker des Lastwagens könne am Unfall
kein Verschulden angelastet werden, da er im Strafverfahren vom
Verschuldensvorwurf freigesprochen worden sei und kein Grund bestehe,
von dieser strafrechtlichen Beurteilung abzuweichen. Ein eventuelles
Verschulden der Garagenmitarbeiter, welche die Bremsen falsch eingestellt
hätten, könne dem Halter nicht angerechnet werden, weil diese Mechaniker
keine Hilfspersonen des Halters seien. Dem korrekt fahrenden W.B. könne
ebenfalls kein Verschulden vorgeworfen werden. Es seien somit die
Fahrzeuge zweier schuldloser Halter zusammengestossen, weshalb sich
die Haftung der Beklagten nach Massgabe der Betriebsgefahren der beiden
beteiligten Unfallfahrzeuge bemesse. Dabei sei zu berücksichtigen, dass
beide Fahrzeuge mit einer Geschwindigkeit von etwa 80 km/h gefahren
seien und das Gewicht des leeren Lastwagens knapp 12 t und dasjenige
des Jeeps rund 2 t betragen habe. Infolge des viel höheren Gewichts
des Lastwagens sei dessen Betriebsgefahr höher zu veranschlagen, als
diejenige des Personenwagens. Hinzu komme die fehlerhafte Beschaffenheit
des Lastwagens infolge des unrichtig eingestellten Bremskraftreglers. Die
Betriebsgefahr des Lastwagens habe sich durch die Blockierung der Räder in
besonders gravierender Weise konkretisiert, so dass die vom Fahrzeug des
W.B. ausgehende Betriebsgefahr in den Hintergrund getreten sei. Dennoch
dürfe sie nicht völlig vernachlässigt werden. In Würdigung der gesamten
Umstände rechtfertige es sich, die Haftungsquote auf seiten des Jeeps
bei 1/10 und auf seiten des Lastwagens bei 9/10 festzusetzen.

    Die Kläger gehen demgegenüber davon aus, die Beklagte habe für den
ganzen Schaden einzustehen. Das Obergericht habe missachtet, dass die
fehlerhafte Einstellung der Bremsanlage des Lastwagens durch Garagisten
dem Halter als Verschulden anzulasten sei. Die Beklagte hafte aber auch
ohne Mitberücksichtigung dieses Verschuldens voll für den Schaden, weil
sie aufgrund des falsch eingestellten Bremskraftreglers und des erheblichen
Gewichts des Lastwagens die grössere Betriebsgefahr zu vertreten habe.

    a) aa) Gemäss Art. 58 Abs. 1 SVG haftet der Halter für den durch den
Betrieb eines Motorfahrzeugs verursachten Schaden. Wird ein Schaden durch
mehrere Motorfahrzeuge hervorgerufen, so stellt sich die Fragen nach der
Haftungskollision. Diese wird bezüglich der Schäden der Halter in Art. 61
SVG geregelt. Bei der körperlichen Schädigung eines Halters sieht Art. 61
Abs. 1 SVG vor, dass der Schaden den Haltern aller beteiligter Fahrzeuge
nach Massgabe des von ihnen zu vertretenden Verschuldens auferlegt
wird, wenn nicht besondere Umstände, namentlich die Betriebsgefahren,
eine andere Verteilung rechtfertigen. Diese Regelung gilt auch für den
durch die Körperschädigung bzw. Tötung eines Halters hervorgerufenen
Versorgerschaden (Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht,
Besonderer Teil, Bd. II/2, 4. Aufl. 1989, S. 280 Fn. 1065; ANDRÉ BUSSY,
Durch einen Motorfahrzeughalter verursachter Personenschaden eines anderen
Halters, SJK 916 Ersatzkarte, S. 2 Rz. 2; vgl. auch BUSSY/RUSCONI,
Code suisse de la circulation routière, commentaire, 3. Aufl. 1996,
N 1.1.1 zu Art. 61 SVG).

    bb) Art. 61 Abs. 1 SVG ist bei einer Änderung des Bundesgesetzes
über den Strassenverkehr vom 20. März 1975 neu formuliert worden, wobei
in Anlehnung an eine Vereinbarung unter den Haftpflichtversicherungen
und die Entwicklung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung das
Verschulden als primäres Kriterium der Haftungsaufteilung genannt
wurde (Botschaft des Bundesrates vom 14. November 1973, BBl. 1973 II
1173 ff. S. 1198 f.; ROBERT GEISSELER, Haftpflicht und Versicherung
im revidierten SVG [Änderung vom 20. März 1975], Diss. Freiburg 1980,
S. 88 f.; DESCHENAUX/TERCIER, La responsabilité civile, 2. Aufl. 1982,
S. 255 Rz. 34). Dies bedeutet gemäss der herrschenden Lehre, dass bei
einseitigem erheblichem Verschulden der schuldhafte Halter grundsätzlich
die volle Haftung zu übernehmen hat (KELLER, Haftpflicht im Privatrecht,
Bd. II, S. 168; SCHAFFHAUSER/ZELLWEGER, Grundriss des schweizerischen
Strassenverkehrsrechts, Bd. II, S. 177 Rz. 1333 und S. 179 Rz. 1340
f.; DESCHENAUX/TERCIER, aaO, S. 255 Rz. 38; ROBERT GEISSELER, aaO,
S. 91 f.; JÜRG BAUER, Kollision der Gefährdungshaftungen gemäss SVG mit
anderen Haftungen, Diss. Zürich 1979, S. 80; HANS OSWALD, Revision
des Strassenverkehrsgesetzes, Änderung im IV. Titel "Haftpflicht und
Versicherung", ZBJV 111/1975, S. 209 ff., S. 216; vgl. auch OFTINGER/STARK,
Schweizerisches Haftpflichtrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1995, Bd. I,
S. 509 Rz. 56 und die Botschaft, aaO, S. 1199 unter Hinweis auf BGE 99
II 93 E. 2c S. 97). Die Bedeutung des Verschuldens wird aber insoweit
relativiert, als besondere Umstände, namentlich die Betriebsgefahren, eine
andere Verteilung rechtfertigen können (Art. 61 Abs. 1 SVG). Der schuldlose
Halter hat daher dann einen Teil des Schadens zu übernehmen, wenn sich
die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs besonders stark ausgewirkt hat oder
wenn den allein schuldigen Halter nur ein geringfügiges Verschulden
trifft (Botschaft, aaO, S. 1199; BGE 99 II 93 E. 2c S. 98, KELLER,
Haftpflicht im Privatrecht, Bd. I, 5. Aufl. 1993, S. 363; GIGER/SIMMEN,
Strassenverkehrsgesetz mit Kommentaren sowie ergänzenden Gesetzen und
Bestimmungen, 5. Aufl. 1996, N. 2b zu Art. 60 SVG; SCHAFFHAUSER/ZELLWEGER,
aaO, S. 179 Rz. 1340; BAUR, aaO, S. 83; GEISSELER, aaO, S. 92 ff.;
vgl. ferner BGE 84 II 304 E. 3a S. 311). Bei der Beurteilung des
Verschuldens ist zu beachten, dass sich ein Halter das Verhalten des
Fahrzeugführers und der mitwirkenden Hilfspersonen wie sein eigenes
anrechnen lassen muss (Art. 58 Abs. 4 SVG; Schaffhauser/Zellweger, aaO,
S. 176 Rz. 1330; OFTINGER/STARK, aaO, Bd. II/2, S. 75 Rz. 131). Das
Verschulden von Hilfspersonen ist dann "mitwirkend" und damit dem
Halter anzurechnen, wenn es sich auf den Betrieb im Sinne von Art. 58
Abs. 1 SVG bezieht (OFTINGER/STARK, aaO, Bd. II/2, S. 77 Rz. 135;
SCHAFFHAUSER/ZELLWEGER, aaO, S. 51 Rz. 926). Dies trifft zum Beispiel
dann zu, wenn bei einem Fahrmanöver eine Hilfsperson des Fahrzeugführers
diesem durch Zeichen falsche Anweisungen gibt (OFTINGER/STARK, aaO,
Bd. II/2, S. 76 f. Rz. 134; SCHAFFHAUSER/ZELLWEGER, aaO, S. 51 Rz.
927, GIGER/SIMMEN, aaO, N. 3 zu Art. 58 SVG; BUSSY/RUSCONI, aaO, N. 3b
zu Art. 58 SVG). Die unrichtige Einstellung von Bremsen bezieht sich
demgegenüber nicht auf den Betrieb, sondern auf den Zustand des Fahrzeuges.

    Liegt kein Verschulden vor, so ist bei der Aufteilung der Haftung
gemäss Art. 61 Abs. 1 SVG namentlich auf die Betriebsgefahren der am
Unfall beteiligten Fahrzeuge abzustellen (BGE 105 II 209 E. 4b S. 213;
SCHAFFHAUSER/ZELLWEGER, aaO, S. 180 Rz. 1342; GIGER/SIMMEN, aaO,
N. 2b zu Art. 60 SVG; OFTINGER/STARK, aaO, Bd. II/2, S. 286 Rz. 661;
KELLER, aaO, Bd. II, S. 169; GEISSELER, aaO, S. 94). Es gilt dann
das Prinzip der Selbsttragung des Schadens, soweit dieser durch die
Betriebsgefahr des eigenen Fahrzeugs verursacht wurde (THEODOR GSCHWEND,
Die Haftpflicht zwischen Motorfahrzeughaltern im schweizerischen und im
deutschen Recht, Diss. Zürich 1977, S. 101 f.; vgl. auch OFTINGER/STARK,
aaO, Bd. II/2, S. 283 Rz. 650). Neben den Betriebsgefahren sind aber
auch andere an der Entstehung des Schadens beteiligte Umstände, wie der
Verlust der Urteilsfähigkeit eines Fahrzeuglenkers oder die vom Halter
nicht verschuldete fehlerhafte Beschaffenheit seines Fahrzeuges, zu
berücksichtigen (GEISSELER, aaO, S. 98). Diese Umstände sind neben
den Betriebsgefahren zu gewichten. Sie können jedoch höchstens
in Ausnahmefällen zu einer ausschliesslichen Haftung des dafür
verantwortlichen Halters führen (GEISSELER, aaO, S. 98; vgl. auch BGE
105 II 209 E. 3 und 4; a.M. KELLER, aaO, Bd. I, S. 296; derselbe, aaO,
Bd. II, S. 169 f. und ihm folgend Bauer, aaO, S. 82, welche annehmen,
es solle voll haften, wer auf die linke Strassenseite gerät, weil ihm
das Bewusstsein oder die Lenkung versagt).

    cc) Die Beurteilung der Umstände im Sinne von Art. 61 Abs. 1 SVG
beruht weitgehend auf richterlichem Ermessen (GEISSELER, aaO, S. 97;
OFTINGER/STARK, aaO, Bd. II/2, S. 284 Rz. 655; GSCHWEND, aaO, S. 102).
Solche Ermessensentscheide überprüft das Bundesgericht an sich frei. Es übt
dabei aber Zurückhaltung und greift nur ein, wenn die Vorinstanz grundlos
von in Lehre und Rechtsprechung anerkannten Grundsätzen abgegangen
ist, wenn sie Tatsachen berücksichtigt hat, die für den Entscheid im
Einzelfall keine Rolle hätten spielen dürfen, oder wenn sie umgekehrt
Umstände ausser Betracht gelassen hat, die hätten beachtet werden müssen.
Es greift ausserdem in Ermessensentscheide ein, wenn sich diese im Ergebnis
als offensichtlich unbillig, als in stossender Weise ungerecht erweisen
(BGE 122 III 262, E. 2a/bb mit Hinweisen).

    b) Im vorliegenden Fall ist die Vorinstanz richtigerweise davon
ausgegangen, den Haltern der Unfallfahrzeuge sei kein Verschulden
anzulasten, weil den Fahrzeugführern kein solches vorzuwerfen ist
und entgegen der Auffassung der Kläger der Halter des Lastwagens
ein Verschulden des Garagisten nicht zu vertreten hat, da dieser
keine betriebsbezogene Hilfsperson ist. Die Vorinstanz hat deshalb in
Übereinstimmung mit den genannten Grundsätzen auf die weitere Umstände
abgestellt, wobei sie die höhere Betriebsgefahr des Lastwagens und
dessen fehlerhafte Beschaffenheit in einem Haftungsanteil von 90%
gewichtete. Damit hat die Vorinstanz das ihr zustehende Ermessen nicht
überschritten. Eine Bundesrechtsverletzung ist somit zu verneinen.