Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 III 193



123 III 193

33. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 14. März 1997 i.S.
Verband der Schweizerischen Uhrenindustrie FH gegen Titoni AG (Berufung)
Regeste

    Ausschlussautonomie des Vereins im Verhältnis zum Persönlichkeitsrecht
des einzelnen Mitglieds auf wirtschaftliche Entfaltung (Art. 72 Abs. 2
ZGB und Art. 28 ZGB).

    Tritt ein Verein in der Öffentlichkeit wie auch gegenüber Behörden,
potentiellen Kunden seiner Mitglieder usw. als massgebende Organisation
des betreffenden Berufsstandes oder Wirtschaftszweigs auf, so verfügt er
nicht über die umfassende Ausschlussautonomie des Art. 72 Abs. 2 ZGB. Ein
Mitglied eines solchen Vereins kann angesichts seines Persönlichkeitsrechts
auf wirtschaftliche Entfaltung nur aus wichtigen Gründen ausgeschlossen
werden (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Der Verband der Schweizerischen Uhrenindustrie FH ist ein Verein
im Sinne von Art. 60 ff. ZGB. Mit Beschluss seiner Generalversammlung vom
24. November 1994 schloss er eines seiner Mitglieder, die Titoni AG, in
Anwendung von Art. 72 ZGB aus mit der Begründung, dieses Unternehmen habe
durch sklavische Nachahmung der Produktereihe eines andern Mitgliedes
(Rolex Oyster) eines der zentralen Vereinsziele verletzt. Die Titoni
AG erhob beim Appellationshof des Kantons Bern Klage mit dem Begehren,
den besagten Beschluss nichtig zu erklären, eventuell ihn aufzuheben,
und verlangte gleichzeitig Schadenersatz.

    B.- Mit Urteil vom 17. April 1996 hiess der Appellationshof die
Anfechtungsklage gut und hob den angefochtenen Beschluss auf. Das Begehren
um Schadenersatz wies er jedoch ab.

    C.- Dagegen hat der Beklagte beim Bundesgericht unter anderem Berufung
eingereicht mit dem Antrag, das Urteil des Appellationshofs aufzuheben
und die Klage abzuweisen. Die Klägerin beantragt ihrerseits, die Berufung
abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab und bestätigt den angefochtenen
Entscheid aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Die Vorinstanz hat die Ausschliessung der Klägerin aus dem
Beklagten aufgehoben und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, bei
einer Berufs- oder Standesorganisation verletze die Ausschliessung eines
Mitgliedes dessen Persönlichkeitsrecht auf wirtschaftliche Entfaltung und
berufliches Ansehen in gravierender Weise; ein Ausschluss könne daher nur
dann als zulässig gelten, wenn im Einzelfall das Interesse des Vereins
an der Ausschliessung höher zu werten sei als dasjenige des Mitgliedes an
der Beibehaltung der Mitgliedschaft; er dürfe mit anderen Worten nur aus
wichtigen Gründen erfolgen. Die Vorinstanz hat solche Gründe verneint und
dazu festgehalten, die Klägerin habe ihre Uhren "Genre Rolex" während
Jahrzehnten produziert, ohne dass Rolex oder der Beklagte, die beide
davon hätten wissen müssen, bis 1990 je eingeschritten seien. Abgesehen
davon habe sich die Klägerin in ihrer Tätigkeit in Gesellschaft mehrerer
Mitglieder des Beklagten befunden und sich qualitativ von diesen nicht
unterschieden. Wie alle anderen Hersteller und Brancheninsider habe
sie davon ausgehen dürfen, dass Rolex Oyster im Fernen Osten als modèle
public gelte, und sich dabei auf ein Urteil i.S. Rolex c. Sicura stützen
können. Die zwiespältige Haltung von Rolex ihren Nachahmern gegenüber
sei auch nicht dazu angetan gewesen, die Klägerin an ihrem Vorgehen zu
hindern. Da auch nicht bewiesen sei, dass sie sich mit ihrer Produktion
mengenmässig von derjenigen anderer Mitglieder des Beklagten abgehoben
habe, könne ihr für die Zeit vor 1990 keine schwerwiegende Verletzung
der Statuten oder der Verbandsinteressen vorgeworfen werden. Nach
1990 habe sich die Klägerin in durchaus vernünftigem und angemessenem
Rahmen kompromissbereit gezeigt, was vom Beklagten ja auch unterstützt
worden sei. Dass sie sich nicht bereit erklärt habe, ein rechtliches
Schuldbekenntnis abzulegen, könne ihr angesichts der schweizerischen
Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen nicht zum Vorwurf gemacht
werden. Zwei Instanzen hätten in dem von Rolex gegen die Klägerin
angestrengten Verfahren zu deren Gunsten entschieden. Auch die in der
Schlussphase von der Klägerin an Rolex gestellte Forderung, ebenfalls
gegen die anderen Nachahmer vorzugehen, sei angesichts der wirtschaftlichen
Konsequenzen eines Rückzuges der Klägerin aus dem Markt des "Genre Rolex"
im Fernen Osten durchaus gerechtfertigt. Nachdem der Beklagte lange
Zeit die Position eines Schiedsrichters eingenommen habe, sei er von
dieser Position abrupt abgewichen und habe sich im Frühling 1994 ohne
jeden ersichtlichen Grund gegen die Klägerin gestellt. Er habe ihr die
Schuld am Fehlen einer gütlichen Lösung zugewiesen, obwohl von ihm nie
ein eigener Kompromissvorschlag unterbreitet worden sei, an dem sie das
Verhandlungsverhalten und die Kompromissbereitschaft der Parteien hätte
messen können. Nachahmungen von Rolex durch andere seiner Mitglieder
seien vom Beklagten, ohne sich auf Untersuchungen stützen zu können,
bagatellisiert und nicht als Entschuldigung für das Verhalten der Klägerin
akzeptiert worden. Abgesehen davon habe der Beklagte sich bei seinem
Ausschliessungsentscheid weder mit der in der Stellungnahme der Klägerin
vom 18. Oktober 1994 geltend gemachten langjährigen Produktion ihrer Linie
Cosmo noch mit dem in der Stellungnahme ebenfalls erwähnten Urteil vom
31. März 1994 des Amtsgerichtes Solothurn-Lebern auseinandergesetzt. Mithin
könne der Klägerin auch für die Zeit nach 1990 nicht vorgeworfen
werden, sie habe durch ihr Verhalten in den Verhandlungen mit Rolex
die Statuten oder die Interessen des Beklagten in schwerwiegender Weise
verletzt. Gesamthaft gesehen sei damit das Interesse der Klägerin daran,
nicht ausgeschlossen zu werden, als grösser zu gewichten als dasjenige
des Beklagten an der Ausschliessung.

    Überdies verletze der gegenüber der Klägerin verfügte Ausschluss
das Gebot der Gleichbehandlung der Vereinsmitglieder, da der Beklagte
um die Nachahmung von Rolex-Uhren durch andere Mitglieder gewusst habe,
den entsprechenden Vorwürfen aber nicht nachgegangen sei.

    b) Der Beklagte erblickt einen Verstoss gegen Art. 72 ZGB, weil die
Vorinstanz trotz Art. 72 Abs. 2 ZGB den Ausschliessungsentscheid nicht
allein unter dem Gesichtswinkel des Rechtsmissbrauchs geprüft habe, der im
konkreten Fall zu verneinen sei; abgesehen davon, dass er keinen Verein
mit wirtschaftlicher Zwecksetzung darstelle, sei auch die Auffassung
der Vorinstanz unzutreffend, bei atypischen Vereinen, insbesondere
solchen mit wirtschaftlicher Zwecksetzung, könnten die Mitglieder nur
aus wichtigen Gründen ausgeschlossen werden. Solche würden im übrigen zu
Unrecht verneint, und es treffe auch nicht zu, dass er mit seinem Vorgehen
gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstossen habe.

    c) aa) Gemäss Art. 72 Abs. 1 ZGB können die Vereinsstatuten Gründe
bestimmen, aus denen ein Mitglied ausgeschlossen werden darf, oder aber
die Ausschliessung ohne Angabe von Gründen gestatten. Gemäss Art. 72
Abs. 2 ZGB ist in diesen Fällen eine Anfechtung der Ausschliessung wegen
ihres Grundes nicht statthaft, wobei dies allerdings nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesgerichts lediglich unter dem Vorbehalt des
Rechtsmissbrauchsverbots i.S.v. Art. 2 Abs. 2 ZGB gilt (BGE 51 II 237
E. 2 S. 242; 85 II 525 E. 8 S. 541; 90 II 346 E. 1 S. 347); ausserdem
schliesst Art. 72 Abs. 2 ZGB eine Anfechtung der Ausschliessung wegen
vereinsinterner Verfahrensmängel nicht aus (BGE 51 II 237 E. 2 S. 242;
vgl. auch BGE 114 II 193 ff.). Soweit im Zusammenhang mit Art. 72 ZGB
eine Anfechtungsklage erhoben wird, richtet sich diese grundsätzlich -
insbesondere auch hinsichtlich der Frist - nach Art. 75 ZGB.

    Gemäss Art. 8 der Statuten des Beklagten kann dessen Generalversammlung
ein Mitglied ausschliessen, wenn dieses eine Politik verfolgt oder
Tätigkeiten ausübt, die mit den allgemeinen Zielen des Verbandes
unvereinbar sind, oder wenn es seinen Verpflichtungen gegenüber dem
Verband nicht nachkommt. Gestützt darauf erfolgte am 24. November 1994
die Ausschliessung der Klägerin.

    Vorliegend ist unbestritten, dass diese Ausschliessung unter
den ersten Teil von Art. 72 Abs. 1 ZGB fällt und daher aufgrund von
Art. 72 Abs. 2 ZGB nicht anfechtbar ist; einig sind sich die Parteien
und die Vorinstanz ferner darin, dass kein Fall von Rechtsmissbrauch
vorliegt, Verfahrensmängel nicht zur Diskussion stehen und die formellen
Anfechtungsvoraussetzungen gemäss Art. 75 ZGB erfüllt sind.

    bb) In der neueren Lehre wird indessen überwiegend die Ansicht
vertreten, bei Berufs- und Standesorganisationen bzw. Wirtschaftsverbänden
würden der Ausschliessungsbefugnis des Vereins auch durch den Schutz der
Persönlichkeit des Mitgliedes (Art. 28 ZGB) Grenzen gesetzt: Angesichts
der wirtschaftlichen bzw. beruflichen Bedeutung einer derartigen
Vereinsmitgliedschaft für das einzelne Mitglied, insbesondere auch im
Hinblick auf seinen geschäftlichen Ruf, könne die Ausschlussautonomie
des Vereins nicht so (weitgehend) schrankenlos sein wie bei einem
"gewöhnlichen" Verein; vielmehr sei in solchen Fällen eine Abwägung
zwischen den Interessen an der Ausschliessung des Mitgliedes und dessen
Interessen an der Mitgliedschaft vorzunehmen; ein Ausschluss könne
nur bei überwiegenden Interessen des Vereins - und damit im Ergebnis
nur aus wichtigen Gründen - erfolgen (vgl. RIEMER, BERNER KOMMENTAR,
N. 44 ff. zu Art. 72 ZGB; HEINI, Das Schweizerische Vereinsrecht,
Basel 1988, S. 65; derselbe, Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht,
Schweizerisches Zivilgesetzbuch I, Basel 1996, N. 11/12 zu Art. 72 ZGB;
ANDREAS KELLER, Die Ausschliessung aus dem Verein, Diss. Freiburg
i.Ue. 1979, S. 120/121; THOMAS BÜTLER, Der Persönlichkeitsschutz
des Vereinsmitglieds, Diss. Basel 1986, S. 72 ff.; HANS BODMER,
Vereinsstrafe und Verbandsgerichtsbarkeit, Diss. St. Gallen 1989, S.
191 ff.; in Erwägung gezogen auch von MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER, Grundriss
des Schweizerischen Gesellschaftsrechts, 7. Aufl., Bern 1993, § 16 N. 43,
und VON TUOR/ SCHNYDER/SCHMID, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch,
11. Aufl., Zürich 1995, S. 142 Anm. 31). Die gegenteilige Meinung wird
von Beat Badertscher (Der Ausschluss aus dem Verein nach Schweizerischem
Zivilgesetzbuch, Diss. Zürich 1980, S. 216/217, 218/ 219) vertreten. Die
vorherrschende Auffassung entspricht dem Standpunkt, welcher in der neueren
kantonalen Rechtsprechung und in der Literatur betreffend Sportvereine
eingenommen wird, sobald bei diesen erhebliche wirtschaftliche Interessen
des Mitgliedes eine Rolle spielen (vgl. ZBJV 124/1988, S. 311 ff.; SJZ
84/1988, Nr. 13 S. 85 ff. und auch schon SJZ 75/1979, Nr. 13 S. 78; KUMMER,
Spielregel und Rechtsregel, Bern 1973, S. 55 ff.; MARGARETA BADDELEY,
L'association sportive face au droit, Basel 1994, S. 97 f.).

    Das Bundesgericht hat sich zu dieser Frage nicht abschliessend
geäussert. In einem nicht publizierten Entscheid vom 22. November 1996
i.S. C./GST hat es die Anwendbarkeit von Art. 28 ZGB gegenüber Art. 72
ZGB eher bejaht (E. 4b), in einem weiteren, ebenfalls nicht publizierten
Urteil vom 28. Februar 1997 i.S. B./SVMD hingegen eher verneint (E. 3),
wobei es allerdings in diesem Fall die Voraussetzungen für eine Prüfung
nach Art. 28 ZGB als nicht gegeben erachtet hat.

    cc) Der herrschenden Lehrmeinung, welche auch dem vorinstanzlichen
Urteil zugrunde liegt und in der Sache überzeugt, ist zu folgen. Tritt
ein Verein in der Öffentlichkeit wie auch gegenüber Behörden,
potentiellen Kunden seiner Mitglieder usw. als massgebende Organisation
des betreffenden Berufsstandes oder Wirtschaftszweigs auf, so kann er
für sich nicht dieselbe umfassende Ausschlussautonomie gemäss Art. 72
Abs. 2 ZGB beanspruchen, wie sie etwa einem Geselligkeitsverein
oder dergleichen zugestanden wird; vielmehr verlangt hier das
Persönlichkeitsrecht der Mitglieder auf wirtschaftliche Entfaltung
(Art. 28 ZGB) nach einer Beschränkung des Rechts auf Ausschliessung;
andernfalls lägen der geschäftliche bzw. berufliche Ruf der betreffenden
Mitglieder (und ihrer Unternehmen) und weitere für sie wichtige
wirtschaftliche Rahmenbedingungen, wie Marktzutritt mittels Ausstellungen,
Marktinformationen usw., zu einem beträchtlichen Teil in der Macht des
Vereins.

    Beim Beklagten handelt es sich offensichtlich um einen Verein im
vorgenannten Sinn; dabei erweist sich allerdings die Umschreibung mit
"wirtschaftlicher Zweck" als ungenau, da es sich in Wirklichkeit um einen
wirtschaftspolitischen Zweck handelt. Das ergibt sich ohne weiteres aus
Art. 2 der Statuten, wonach der Verband die repräsentative Organisation der
gesamten schweizerischen Uhrenindustrie darstellt, und wird vom Beklagten
auch eingeräumt. Die Vorinstanz hat mithin zu Recht die Ausschliessung
nicht unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs überprüft, sondern
aufgrund von Art. 28 ZGB eine Interessenabwägung vorgenommen und abgeklärt,
ob ein wichtiger Grund vorliegt. Sie hat dies aufgrund der vorstehend
(E. 2a) wiedergegebenen, für das Bundesgericht verbindlichen tatsächlichen
Feststellungen (vgl. Art. 55 Abs. 1 lit. c und Art. 63 Abs. 2 OG) verneint
und damit das ihr in dieser Frage zustehende Ermessen (Art. 4 ZGB) weder
überschritten noch missbraucht (BGE 119 II 197 E. 2 a.E. mit Hinweis;
zum Umfang der Prüfung bei Ermessensentscheiden: BGE 118 II 50 E. 4 S. 55).

    dd) Ist aber der angefochtene Entscheid in dieser Hinsicht nicht zu
beanstanden, so kann offenbleiben, ob der Beklagte mit seinem Entscheid
auch gegen das Gebot der Gleichbehandlung der Mitglieder verstossen hat.