Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 95



120 V 95

13. Urteil vom 25. April 1994 i. S. Bundesamt für Sozialversicherung,
gegen L. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 11 IVG, Art. 23 IVV. Die Invalidenversicherung hat die
Behandlungskosten im Rahmen von Art. 11 IVG vollumfänglich zu übernehmen,
selbst wenn die Schädigung nur teilweise adäquat kausal auf eine
Eingliederungsmassnahme zurückzuführen ist (Erw. 4).

    Art. 103 lit. b und 132 lit. c OG, Art. 4 Abs. 1 BV: reformatio in
peius. Im Falle einer Behördenbeschwerde nach Art. 103 lit. b OG muss das
beschwerdeführende Bundesamt nicht auf eine drohende Schlechterstellung
aufmerksam gemacht werden (Bestätigung von BGE 120 V 89 Erw. 5).

Sachverhalt

    A.- Der 1961 geborene L. wurde am 31. Januar 1968 von einem Lastwagen
angefahren und zog sich dabei im wesentlichen eine Oberschenkelfraktur
links, eine offene Tibiafraktur links, eine offene Trümmerfraktur des
distalen Unterschenkels rechts mit Unterbrechung der Blutversorgung
sowie ein Décollement am rechten Unterschenkel zu. Noch am gleichen
Tag musste ihm im Bezirksspital Rüti/ZH notfallmässig der rechte
Unterschenkel amputiert werden. Zudem hatte er sich am 21. Februar und
9. März 1968 einer Thiersch-Lappentransplantation am Amputationsstumpf
zu unterziehen. Mit Verfügung vom 15. Mai 1968 gab die Ausgleichskasse
des Kantons St. Gallen eine Unterschenkelprothese mit Tubersitz ab, die
in der Folge wiederholt zu Lasten der Invalidenversicherung abgeändert
oder ersetzt wurde. Seither stellten sich immer wieder pathologische
Folgeerscheinungen ein, welche eine medizinische Behandlung des Stumpfes
notwendig machten. Im Anschluss an eine zweite Nachamputation (1976)
kam es zu einer Fistelbildung bei chronischer Stumpfosteitis, was im
September 1977 eine weitere Nachamputation bedingte. Zudem stellten sich
seit 1980 eine rezidivierende Ulzeration sowie ab 1984 eine zunehmende
Verschlechterung mit chronischer Instabilität über dem Unterschenkelstumpf
ein.

    In der Zeit vom 11. Januar bis 18. Februar 1990 hielt sich L. im
Inselspital Bern auf, wo er sich am 12. Januar 1990 einer operativen
Stumpfsanierung zu unterziehen hatte. Mit Verfügung vom 22. Mai 1990
lehnte die Ausgleichskasse das Gesuch um medizinische Massnahmen ab mit
der Begründung, die Operation sei unmittelbar auf das Leiden an sich
gerichtet und stelle einen Eingriff in labiles pathologisches Geschehen
dar, weshalb die Voraussetzungen des Art. 12 IVG nicht erfüllt seien.

    B.- L. liess hiegegen beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
Beschwerde erheben und zur Hauptsache beantragen, die Invalidenversicherung
sei, in Aufhebung der angefochtenen Verfügung, zu verpflichten, die Kosten
für die medizinische Behandlung zu übernehmen.

    Das kantonale Gericht verneinte eine Leistungspflicht nach Art. 12
IVG, gelangte jedoch zum Schluss, dass die Stumpfsanierung durch
die Hilfsmittelversorgung massgeblich mitverursacht worden sei. Es
verpflichtete daher die Invalidenversicherung, unter dem Titel von
Art. 11 IVG 20% der Kosten für die medizinischen Massnahmen zu übernehmen
(Entscheid vom 4. Juli 1991).

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt die Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheides.

    Während der Versicherte auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliessen lässt, trägt die Ausgleichskasse auf deren Gutheissung an.

    Auf die Rechtsschriften wird, soweit erforderlich, in den Erwägungen
eingegangen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Kognition)

Erwägung 2

    2.- Aufgrund der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist nur mehr streitig,
ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Invalidenversicherung die
Kosten für die Korrektur des Amputationsstumpfes gestützt auf Art. 11
IVG zu übernehmen hat.

    a) Gemäss Art. 11 IVG hat der Versicherte Anspruch auf Vergütung der
Behandlungskosten, wenn er im Verlaufe von Eingliederungsmassnahmen krank
wird oder einen Unfall erleidet. Der Bundesrat regelt die Voraussetzungen
und den Umfang des Anspruchs. Gestützt auf diese Delegationsnorm hat der
Bundesrat in Art. 23 IVV bestimmt, dass der Versicherte Anspruch auf Ersatz
der Heilungskosten für Krankheiten und Unfälle hat, die durch Abklärungs-
oder Eingliederungsmassnahmen verursacht wurden, sofern diese von der
Kommission angeordnet oder aus wichtigen Gründen vor der Beschlussfassung
durchgeführt wurden (Abs. 1).

    b) Das Eidg. Versicherungsgericht hat im Zusammenhang mit der Haftung
für das Eingliederungsrisiko folgende Grundsätze aufgestellt:

    aa) Die Haftung der Invalidenversicherung besteht nur, wenn eine
von der Versicherung angeordnete Eingliederungsmassnahme die adäquate
Ursache einer den Versicherten schädigenden Krankheit oder eines diesen
beeinträchtigenden Unfalles ist. Es genügt nicht, dass die Krankheit
bzw. der Unfall während der Eingliederung eingetreten ist.

    bb) Der die Haftung auslösende Kausalzusammenhang ist auch zu bejahen,
wenn die in Frage stehende Eingliederungsmassnahme lediglich eine adäquate
Teilursache der Krankheit oder des Unfalles ist.

    cc) Die Haftung besteht so lange, als die Gesundheitsschädigung
adäquat kausal auf eine von der Versicherung angeordnete Massnahme
zurückzuführen ist.

    dd) Der adäquate Kausalzusammenhang ist unterbrochen bei Auftreten
nachteiliger Folgen von grundsätzlich gelungenen Eingliederungsmassnahmen,
die im Rahmen voraussehbarer bzw. in Kauf genommener geringfügiger
Risiken bleiben.

    ee) Ein adäquater Kausalzusammenhang besteht, wenn die als Folge
einer medizinischen Eingliederungsmassnahme entstandene Krankheit ein
dieser Massnahme inhärentes Risiko darstellt.

    ff) Es liegt dagegen kein adäquater Kausalzusammenhang und
damit keine Haftung der Invalidenversicherung vor, soweit sich der
behandlungsbedürftige Zustand aus der begrenzten Erfolgsdauer der
Eingliederungsmassnahme selbst ergibt.

    gg) Die Invalidenversicherung haftet nach Art. 11 IVG selbst dann für
die durch Eingliederungsmassnahmen verursachten Krankheiten und Unfälle,
wenn jene Vorkehren zu Unrecht als Eingliederungsmassnahmen qualifiziert
und zugesprochen worden sind.

    hh) Die Invalidenversicherung haftet für den Ersatz von Heilungskosten
für Krankheiten und Unfälle, welche durch eine gemäss Art. 2 Abs. 5 IVV
von ihr zu übernehmende Behandlung des Leidens an sich verursacht werden.

    ii) Der Umstand, dass eine Eingliederungsmassnahme nicht vorgängig
durch die Verwaltung, sondern - nach erfolgter Durchführung - erst vom
Richter zugesprochen wird, steht der Haftung der Invalidenversicherung
nicht entgegen.

    kk) Die Ansprüche gemäss Art. 11 IVG sind begründet in der Haftung
der Versicherung für die Folgen der von ihren Organen angeordneten
Eingliederungsmassnahmen. Es handelt sich dabei um eine Kausalhaftung,
weshalb es im Verhältnis zwischen Versicherung und Versicherten unerheblich
ist, ob den Schadensverursacher ein Verschulden trifft oder nicht (BGE
105 V 255 f. Erw. 3, 103 V 163 f. Erw. 1 mit Hinweisen; ZAK 1987 S. 97
f. Erw. 2b).

Erwägung 3

    3.- Zu prüfen ist zunächst, ob die von der Invalidenversicherung
als Hilfsmittel abgegebene Prothese adäquate (Teil-)Ursache des
Gesundheitsschadens war, der die Sanierung des Stumpfes im Januar/Februar
1990 notwendig machte.

    a) Im vorliegenden Fall geht aus den Akten hervor und ist unbestritten,
dass die Beinprothese von allem Anfang an fachmännisch angefertigt und
richtig angepasst war (vgl. Berichte der Dres. S., Bezirksspital Rüti,
vom 25. Juli 1968 und H., Rapperswil, vom 3. September 1969). Bereits
im erwähnten Bericht wies jedoch Dr. H. darauf hin, dass die Prothese
mit grösster Vorsicht getragen werden müsse, da die Narbenverhältnisse
prekär und die Durchblutung schlecht seien; es träten immer wieder
leichte Ulcera auf, die nach Entlastung jeweils abheilten. In dem im
Rentenverfahren eingeholten Gutachten vom 22. November 1989 stellten
die Ärzte des Zentrums für Medizinische Begutachtung, Basel, fest,
dass es trotz mehrfacher Nachamputationen und plastischer Deckung am
rechten Unterschenkel wegen der Einwirkung der Prothese auf den Stumpf
infolge Scherwirkung zu rezidivierenden Nekrosen der Weichteile gekommen
sei. Wegen kleinerer Hautläsionen seien immer wieder Nachkorrekturen
notwendig gewesen. Seit Anfang der 80er Jahre sei das Problem grösser
geworden, weil sich ein Hautdefekt am Stumpfende gebildet habe. Dieser
sei, zum Teil durch mehrmonatiges Weglassen der Prothese, offenbar
vorübergehend immer wieder zur Heilung gebracht worden. Die derzeitigen
Ulcera-Infektionen im Gebiet des Stumpfes würden mit entsprechender
Behandlung in absehbarer Zeit zur Abheilung gebracht, wenn und insoweit
die Prothese in dieser Zeit nicht getragen werde. Sobald aber die Prothese
angelegt werde, sei immer wieder mit neuen Druckstellen, Infektionen-Ulcera
zu rechnen. Eine wesentliche Verbesserung des momentanen Zustandes könne
nur durch Schaffung anderer Stumpfverhältnisse erreicht werden. Nach dem
Bericht des Inselspitals Bern vom 27. Februar 1990 ist es seit 1980 wegen
des Prothesenzuges zu einer rezidivierenden Ulzeration gekommen. Ab 1984
habe sich eine zunehmende Verschlechterung mit chronischer Instabilität
über dem Unterschenkelstumpf eingestellt, was ein Unvermögen zum Tragen
der Prothese nach sich gezogen habe.

    b) Aufgrund dieser medizinischen Aktenlage ist mit dem kantonalen
Gericht und dem Bundesamt davon auszugehen, dass die Stumpfverhältnisse
von Anfang an prekär waren. Hauptursache der Behandlungsbedürftigkeit
waren vornehmlich die seit dem Unfall bestehende ungenügende Durchblutung
sowie die Neigung zu Ulzerationen. Andererseits geht aus den Unterlagen
klar hervor, dass die Prothese zu zusätzlichen Schwierigkeiten geführt
bzw. sich ungünstig ausgewirkt hat. Infolge der Prothese ist es ständig
zu rezidivierenden Nekrosen der Weichteile sowie zu Ulcera-Infektionen
im Gebiet des Stumpfes gekommen. Für das Vorliegen einer adäquaten
Teilursache, welche für die Auslösung der Haftung nach Art. 11 IVG genügt
(Erw. 2b/bb), spricht zudem auch der Umstand, dass die pathologischen
Erscheinungen nach (z.T. monatelangem) Nichttragen des Beinapparates
jeweils wieder zur Heilung gebracht werden konnten. Bei dieser Sachlage ist
erstellt, dass das von der Invalidenversicherung abgegebene Hilfsmittel
eine adäquate Mitursache bildete für die gesundheitlichen Probleme,
welche die Sanierung des Amputationsstumpfes erforderten. Dass sich die
nachteiligen Folgen der Hilfsmittelabgabe im Rahmen des voraussehbaren
bzw. in Kauf genommenen geringfügigen Risikos bewegten, was den
Kausalzusammenhang unterbrechen würde (Erw. 2b/dd hievor), wird vom
Beschwerdeführer zu Recht nicht geltend gemacht. Damit muss es bei der
Feststellung sein Bewenden haben, dass die Invalidenversicherung für
die streitigen medizinischen Massnahmen unter dem Titel des Art. 11 IVG
grundsätzlich leistungspflichtig ist.

    c) Das Bundesamt befürchtet, dass praktisch jede Prothesenabgabe als
solche eine Haftung der Invalidenversicherung nach sich ziehe. Denn
wenn eine adäquate Teilursache genüge, bedeute dies, dass bei
Stumpfkomplikationen die Invalidenversicherung in jedem Falle immer vor
der Unfall- oder der Krankenversicherung leistungspflichtig sei. Diese
Bedenken sind unbegründet. Muss sich ein nach UVG Versicherter als Folge
eines Unfalles prothetisch versorgen lassen, dann ist dies Sache des
Unfallversicherers (vgl. Art. 11 UVG, Art. 11 und 19 UVV sowie Ziff. 1
des Anhanges zur Verordnung vom 18. Oktober 1984 über die Abgabe von
Hilfsmitteln [HVUV; SR 832.205.12] in Verbindung mit Art. 44 Abs. 1 IVG;
dazu MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 542 f.). Dieser
- und nicht die Invalidenversicherung - hat bei Rückfall oder Spätfolgen
(zum Begriff vgl. BGE 118 V 296 Erw. 2c mit Hinweisen auf Lehre und
Rechtsprechung) alsdann auch dafür aufzukommen, wenn die prothetische
Versorgung Folgeschäden nach sich zieht. Was sodann die Frage des
Verhältnisses zwischen Invaliden- und Krankenversicherung anbelangt,
ist darauf hinzuweisen, dass der Krankenversicherer nach KUVG keine
Hilfsmittel abgibt; diese Aufgabe obliegt - im Falle von Krankheit oder
bei einem Unfall eines nicht obligatorisch UVG-Versicherten - allein der
Invalidenversicherung, welche daher nach Massgabe von Art. 11 IVG und
Art. 23 IVV auch für die Folgen der Hilfsmittelversorgung einzustehen hat.

Erwägung 4

    4.- Zu prüfen ist weiter das Mass der Haftung. Das kantonale Gericht
setzte den Kausalitätsanteil für den durch das Hilfsmittel gesetzten
Schaden auf 20% fest und verpflichtete die Invalidenversicherung - in
Übereinstimmung mit Rz. 1102 des ab 1. Juni 1986 gültigen bundesamtlichen
Kreisschreibens über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen (KSME) -
zur Übernahme der Behandlungskosten im selben Umfang. Demgegenüber wendet
das BSV ein, die - von ihm bestrittene - Bejahung der Teilkausalität hätte
zur Folge, dass die Invalidenversicherung die Heilungskosten vollumfänglich
zu übernehmen habe.

    a) Das Eidg. Versicherungsgericht hat zu dieser Frage bis heute nicht
ausdrücklich Stellung genommen. Im Urteil W. vom 1. April 1965 (EVGE
1965 S. 77 f.) stellte das Gericht fest, dass der die Haftung auslösende
Kausalzusammenhang grundsätzlich bereits dann gegeben sei, wenn die in
Frage stehende Eingliederungsmassnahme lediglich eine adäquate Ursache
der Krankheit oder des Unfalls ist. Wie gross in diesem Fall das Mass der
Haftung sei, werde vom Gesetz nicht ausdrücklich vorgeschrieben und sei
von der Rechtsprechung bisher nicht entschieden worden (S. 78). In der
nicht amtlich publizierten, aber in ZAK 1965 S. 500 f. veröffentlichten
Erw. 2 tönte es jedoch die Möglichkeit an, dass die Invalidenversicherung
im Falle einer Teilkausalität bloss im Ausmass dieser Teilursache zu haften
habe, wenn es ausführte, es bleibe der Invalidenversicherungs-Kommission
anheimgestellt zu entscheiden, ob die vorliegende Teilkausalität Anspruch
auf volle Leistungen gebe (S. 501 in fine). Gestützt darauf erliess
das BSV die - heute in Rz. 1102 KSME enthaltene - Weisung, wonach die
Haftung der Invalidenversicherung in dem Umfange und so lange bestehe,
"als die Gesundheitsschädigung adäquat kausal auf die von der Versicherung
angeordnete Massnahme zurückzuführen ist (Teilkausalität)". Im Urteil
M. vom 12. Mai 1972 (ZAK 1972 S. 674) hatte das Gericht einen Fall
zu beurteilen, in welchem die kantonale Rekursinstanz die Beschwerde
eines Versicherten gutgeheissen und die Invalidenversicherung gestützt
auf Art. 11 IVG zur Übernahme der Heilungskosten verpflichtet hatte,
da die Kyphose durch die Behandlung der kongenitalen Epilepsie,
insbesondere durch die konvulsive Therapie, verursacht worden war. Das
Eidg. Versicherungsgericht schützte diesen Entscheid mit der Begründung,
dass die medikamentöse Behandlung der Epilepsie zwar nicht alleinige, aber
doch adäquate Teilursache der kyphotischen Veränderung der Wirbelsäule sei
und als solche im Vordergrund stehe, weshalb die Invalidenversicherung
für die Behandlung der Kyphose aufzukommen habe. Zur Dauer der Haftung
äusserte sich das Eidg. Versicherungsgericht dahingehend, dass die
Kyphosebehandlung jedenfalls so lange zu Lasten der Invalidenversicherung
gehe, als diese für die schädlichen Auswirkungen der früher bewilligten
antikonvulsiven Therapie als Teilursache der Kyphose einzustehen habe, und
dass die Kyphosebehandlung dann nicht mehr Sache der Invalidenversicherung
sei, wenn diese Teilursache zwar endgültig aufgehoben worden sei, die
Kyphose jedoch wegen anderer, nicht von der Invalidenversicherung zu
vertretender Teilursachen weiterbestehe (ZAK 1972 S. 675 f. Erw. 2 und
3). Hingegen führte das Gericht nicht aus, die Invalidenversicherung
habe während der Dauer ihrer Haftung nur teilweise einzustehen,
weil sie bloss eine Teilursache zu vertreten habe. Mithin scheint das
Gericht davon ausgegangen zu sein, dass die Invalidenversicherung für
die Kyphosebehandlung voll aufzukommen habe, solange die von ihr zu
vertretende Teilursache andauere.

    b) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist
der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so
muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung
aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der
dem Text zugrunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn,
der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und
unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden,
u.a. dann nämlich, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut
nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können
sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und
Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (BGE 118
Ib 191 Erw. 5a, 452 Erw. 3c, 118 II 342 Erw. 3e, 117 Ia 331 Erw. 3a,
117 III 45 Erw. 1, 117 V 5 Erw. 5a und 109 Erw. 5b, je mit Hinweisen;
IMBODEN/RHINOW/KRÄHENMANN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,
Nr. 21 B IV).

    c) Weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte von Art. 11 IVG
sprechen für die eine oder andere Lösung. Unter diesen Umständen kommt
den andern Auslegungselementen, insbesondere Sinn und Zweck sowie der
Systematik, erhöhte Bedeutung zu. Bei der Invalidenversicherung handelt
es sich im wesentlichen um eine sog. finale Versicherung. Das bedeutet,
dass sie das Risiko der Invalidität unabhängig vom Vorliegen eines
bestimmten versicherten Ereignisses wie Krankheit oder Unfall deckt
(MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. I, S. 276; STEIN,
Die Invalidität, in: Festschrift 75 Jahre EVG, S. 437; VALTERIO, Droit et
pratique de l'assurance-invalidité, Les prestations, S. 52; SCARTAZZINI,
Les rapports de causalité dans le droit suisse de la sécurité sociale,
Diss. Genf 1991, S. 213; vgl. auch EVGE 1964 S. 257 Erw. 2). Zwar muss
nach der Legaldefinition des Art. 4 Abs. 1 IVG die Invalidität auf ein
Geburtsgebrechen, einen Unfall oder eine Krankheit zurückzuführen sein. Das
Eidg. Versicherungsgericht hat jedoch diese Ursachenaufzählung seit jeher
als nicht abschliessend erklärt (EVGE 1964 S. 257 Erw. 2 und seitherige
Rechtsprechung). Entscheidend ist einzig, dass ein die Erwerbsfähigkeit
beeinträchtigender Gesundheitsschaden mit Krankheitswert vorliegt,
während dessen Ursache keine Bedeutung zukommt. In Anbetracht dieses
finalen Charakters rechtfertigt es sich, die Invalidenversicherung die
Behandlungskosten im Rahmen von Art. 11 IVG vollumfänglich übernehmen zu
lassen, selbst wenn die Schädigung nur teilweise adäquat kausal auf eine
Eingliederungsmassnahme zurückzuführen ist (SCARTAZZINI, aaO, S. 267 oben).
Damit wird auch dem Umstand Rechnung getragen, dass eine hinreichend
genaue massliche Abgrenzung mehrerer Schadensursachen oft sehr schwierig,
wenn nicht gar unmöglich ist.

    d) Nichts anderes ergibt sich unter dem Gesichtspunkt einer
harmonisierenden Auslegung des Sozialversicherungsrechts (vgl. BGE 119 V
164 Erw. 3b; RKUV 1992 Nr. U 155 S. 253 ff. Erw. 2c). Nach Art. 36 Abs. 1
UVG hat der soziale Unfallversicherer unter anderem die Pflegeleistungen
ungekürzt auszurichten, wenn die Gesundheitsschädigung nur teilweise Folge
eines Unfalles ist. Diese Bestimmung begründet eine Durchbrechung des in
der Unfallversicherung geltenden Kausalitätsprinzips für Fälle, in denen
ein Gesundheitsschaden durch das Zusammenwirken konkurrierender, teils
unfallbedingter, teils unfallfremder Ursachen bewirkt worden ist (nicht
veröffentlichte Erw. 4c des in RKUV 1992 Nr. U 142 S. 75 auszugsweise
publizierten Urteils K. vom 18. Dezember 1991; vgl. auch BGE 113 V
137 Erw. 5a). Der Unfallversicherer hätte demzufolge in vollem Umfange
Pflegeleistungen zu erbringen, wenn - wie in casu - bei einem von ihm
prothetisch versorgten Versicherten Folgeschäden aufträten, die zumindest
teilweise auf das Tragen der Prothese zurückzuführen sind. Es ist daher
nicht einzusehen, weshalb die finale Invalidenversicherung im Gegensatz
zur kausalen Unfallversicherung bei praktisch gleichen tatbeständlichen
Gegebenheiten nur einen Teilschaden zu tragen hat.

    e) Im Lichte des Gesagten hat die Invalidenversicherung die
im Zusammenhang mit der streitigen medizinischen Behandlung des
Amputationsstumpfes erwachsenen Heilungskosten vollumfänglich zu
übernehmen.

Erwägung 5

    5.- In Anbetracht dieses Verfahrensausgangs fragt es sich, ob dem
beschwerdeführenden Bundesamt vor Erlass des Entscheides Gelegenheit zur
Stellungnahme zu geben ist.

    a) Nach Art. 132 lit. c OG kann das Eidg. Versicherungsgericht
bei Verfügungen über die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen zugunsten oder zuungunsten der Parteien über
deren Begehren hinausgehen. Beabsichtigt jedoch das Gericht, den
angefochtenen Entscheid zum Nachteil des Beschwerdeführers abzuändern,
hat es ihn - als Ausfluss des rechtlichen Gehörs - praxisgemäss vorgängig
darauf aufmerksam zu machen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme
einzuräumen. Der Beschwerdeführer hat alsdann die Möglichkeit, das
Rechtsmittel zurückzuziehen, um der drohenden Schlechterstellung zu
entgehen (BGE 107 V 23 Erw. 3a und 248 Erw. 1a; vgl. auch BGE 118
V 182 mit Hinweisen; ZIMMERLI, Zur reformatio in peius vel melius im
Verwaltungsrechtspflegeverfahren des Bundes, in: Mélanges Henri Zwahlen,
Lausanne 1977, S. 511 ff. und 523-525).

    b) Von einer "reformatio in peius" kann nur dann gesprochen werden,
wenn die angefochtene Verfügung zuungunsten der beschwerdeführenden Partei
geändert wird (GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 249, und
ZIMMERLI, aaO, S. 511; a.A. offenbar GRISEL, Traité de droit administratif,
S. 934; vgl. auch BGE 113 Ib 221 f. Erw. 1c und hiezu geäusserte Kritik
in ZBJV 125/1989 S. 393 f.).

    Im vorliegenden Fall ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
vom BSV eingelegt worden, dem das Gesetz im Verfahren vor dem
Eidg. Versicherungsgericht die Stellung einer "Partei" einräumt (Art. 132
lit. c OG, Art. 6 VwVG). Wiewohl die Aufsichtsbehörde zur Anfechtung eines
erstinstanzlichen Entscheides (in casu gestützt auf Art. 103 lit. b OG,
202 AHVV und 89 IVV) befugt ist, kommt ihr diese Parteistellung jedoch
einzig im Hinblick auf die Wahrung öffentlicher Interessen, insbesondere
der richtigen und rechtsgleichen Anwendung des Bundesrechts, zu und nicht
deshalb, weil es eigene (subjektive) Interessen zu verteidigen gilt (BGE
114 V 242 f. Erw. 3b mit Hinweisen, 113 Ib 221 Erw. 1b; ZAK 1989 S. 463
Erw. 1; GYGI, aaO, S. 164; BBl 1925 II 226-228).

    Damit aber handelt es sich hier nicht um eine "reformatio in peius"
im eigentlichen Sinn (vgl. ZIMMERLI, aaO, S. 511). Denn die beabsichtigte
Änderung wirkt sich nicht zum Nachteil des beschwerdeführenden BSV aus
(Art. 62 VwVG), da das Bundesamt durch die angefochtene Verfügung nicht
in seinen Rechten oder Pflichten berührt ist und mithin kein eigenes
Interesse am Verfahrensausgang hat (vgl. auch KEISER, Die reformatio in
peius in der Verwaltungsrechtspflege, Diss. Zürich 1979, S. 71).

    c) Wie das Eidg. Versicherungsgericht im kürzlich ergangenen Urteil
D. vom 10. März 1994 (BGE 120 V 89) entschieden hat, ist daher das BSV
nicht vorgängig darüber zu orientieren, wenn das Eidg. Versicherungsgericht
eine Änderung des angefochtenen Entscheides zugunsten des Beschwerdegegners
beabsichtigt. Gleiches gilt im Ergebnis für die Ausgleichskasse, da
diese im letztinstanzlichen Verfahren nicht Partei ist.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 4. Juli 1991,
soweit er die Haftung für die Eingliederungsmassnahme betrifft, sowie
die angefochtene Verfügung vom 22. Mai 1990 aufgehoben und es wird
festgestellt, dass die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen für die
aus der Korrektur des Amputationsstumpfes erwachsenen Heilungskosten
vollumfänglich aufzukommen hat.