Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 368



120 V 368

50. Urteil vom 12. September 1994 i.S. K. gegen Bundesamt für
Militärversicherung und Versicherungsgericht des Kantons Aargau Regeste

    Art. 23 aMVG. Die Annahme eines Invaliditätsgrades von weniger als
10% schliesst die Zusprechung einer Dauerrente nicht von vornherein aus
(Änderung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Der 1961 geborene, als gelernter Werkzeugmaschinist für
die damalige BBC tätige K. erlitt am 3. Oktober 1984 während des
Wiederholungskurses (WK) einen Verkehrsunfall. Die Militärversicherung
anerkannte in bezug auf das dadurch verursachte Rückenleiden die
Bundeshaftung und erbrachte bis Ende Mai 1986 Krankenpflege- und
Krankengeldleistungen. Auf diesen Zeitpunkt löste der Versicherte sein
Arbeitsverhältnis mit der BBC auf, um hernach in den väterlichen Betrieb
einzutreten, wo er nach dem Tod seines Vaters im November 1986 die Hälfte
der Aktien übernahm und in den Verwaltungsrat gewählt wurde.

    Nachdem K. die Zusprechung einer Invalidenrente ab Oktober 1986 auf
unbestimmte Zeit sowie einer Integritätsrente beantragt hatte, erkannte das
Bundesamt für Militärversicherung (BAMV), dass ein Zusammenhang zwischen
den bestehenden Rückenbeschwerden und den seinerzeit erfolgten Einwirkungen
nach wie vor wahrscheinlich sei; indes könne eine Integritätsrente
mangels Erheblichkeit der Beschwerden nicht ausgerichtet werden, während
die Zusprechung einer Invalidenrente zufolge fehlender unfallbedingter
Erwerbseinbusse ausser Betracht falle (Vorschlag vom 13. September
1990). Am 8. Mai 1991 verfügte das BAMV, dass für die Folgen der
versicherten Schädigungen gegenwärtig keine Barleistungen erbracht würden.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit der K. im wesentlichen
sein Leistungsbegehren erneuern liess, wies das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau nach Einholung eines Gutachtens zur Frage der erwerblichen
Auswirkungen des Gesundheitsschadens mit Entscheid vom 5. Mai 1993 ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt K. die Zusprechung einer
unbefristeten Rente ab Juni 1986 gemäss einer vom Gericht festzusetzenden
Invalidität beantragen.

    Das BAMV schliesst auf Abweisung der Beschwerde.

    D.- Auf die Begründung des angefochtenen Gerichtsentscheides und der
Anträge wird, soweit erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 109 des Militärversicherungsgesetzes vom 19.  Juni 1992
(MVG) werden Versicherungsfälle, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens
dieses Gesetzes am 1. Januar 1994 noch hängig waren, in jenen Teilen nach
dem neuen Recht beurteilt, die nicht anerkannt sind oder über die nicht
verfügt wurde.

    Im vorliegenden Fall hat die Militärversicherung die Verfügung
am 8. August 1991 und damit unter der Herrschaft des Gesetzes vom
20. September 1949 erlassen, weshalb die Sache nach altem Recht zu
beurteilen ist (aMVG).

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz hat mit der Verwaltung einen Anspruch des
Beschwerdeführers auf Integritätsrente mangels Erheblichkeit der
Beeinträchtigungen verworfen. Nachdem der kantonale Gerichtsentscheid
mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde in diesem Punkt ausdrücklich
nicht angefochten wird und auch nichts ersichtlich ist, was insofern
zu einem anderen Ergebnis führen könnte, bedarf es dazu keiner weiteren
Ausführungen.

    Streitig und zu prüfen bleibt somit, ob der Beschwerdeführer Anspruch
auf Ausrichtung einer militärversicherungsrechtlichen Invalidenrente
erheben kann.

Erwägung 3

    3.- Der vorinstanzliche Entscheid enthält eine zutreffende
Darstellung der hier massgeblichen gesetzlichen Bestimmungen über den
Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 23 Abs. 1 aMVG) bei bleibender
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit und der für die Bemessung des
Invaliditätsgrades in den Bereichen Invaliden-, obligatorische Unfall-
sowie Militärversicherung gleichermassen anwendbaren Methoden (BGE
119 V 470 Erw. 2b mit Hinweisen). Dies gilt namentlich auch für das
ausserordentliche Bemessungsverfahren (BGE 104 V 137 Erw. 2c), dessen
Anwendung aufgrund der besonderen erwerblichen Gegebenheiten zu Recht
erfolgt ist. Es kann daher auf die entsprechenden Ausführungen verwiesen
werden, zumal die Parteien gegen die anwendbaren rechtlichen Grundlagen
und die Methodenwahl nichts einzuwenden haben.

Erwägung 4

    4.- Die im vorinstanzlichen Verfahren eingeholte
betriebswirtschaftliche Expertise vom 1. Dezember 1992 ermittelte
für den Beschwerdeführer aufgrund eines erwerblich gewichteten
Betätigungsvergleichs eine leidensbedingte Erwerbseinbusse von
rund 5,5%. Ausgehend hievon hat das kantonale Gericht erwogen,
das Leistungsbegehren gestützt auf die für die obligatorische
Unfallversicherung anerkannte Praxis abzuweisen, wonach Invaliditäten
von weniger als 10% nicht berentet würden.

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtet sich zur Hauptsache gegen
diese Begründung. Im einzelnen wird ihr zunächst Art. 37 Abs. 1 aMVG
entgegengehalten, nach welcher Bestimmung eine Invalidenrente jederzeit,
auch gegen den Willen des Versicherten, nach ihrem Barwert unter anderem
dann ausgekauft werden kann, wenn die Invalidität nicht mehr als 10%
beträgt. Ferner verweist der Beschwerdeführer unter Hinweis auf die
Entstehung von Art. 49 Abs. 2 MVG (in Kraft seit 1. Januar 1994) auf
die bei Integritätsrenten feststellbare Entwicklung, nunmehr selbst
Beeinträchtigungen von weniger als 5% abzugelten.

Erwägung 5

    5.- a) Es trifft zu, dass das Eidg. Versicherungsgericht
in bezug auf die obligatorische Unfallversicherung für den Fall
einer geringfügigen Invalidität (in concreto 5%) entschieden hat,
diese vermöge keinen Rentenanspruch zu begründen (RKUV 1988 Nr. U
48 S. 230). Damit billigte es zum wiederholten Mal die Praxis der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA), trotz fehlenden
Erfordernisses einer anspruchsbegründenden Mindestinvalidität dann keine
Rente auszurichten, wenn die Erwerbsunfähigkeit weniger als 10% beträgt
("En effet, selon la pratique de la CNA, même si la loi ne prévoit pas
de taux minimum d'invalidité, en dessous d'un taux de 10%, aucune rente
n'est allouée"). Zur Begründung wurde dabei im wesentlichen ausgeführt,
dass die Invaliditätsschätzung gerade in Grenzfällen eine ausgesprochene
Ermessensfrage sei, was es praktisch unmöglich mache, geringfügige
Erwerbsunfähigkeiten mit der nötigen Sicherheit zu schätzen ("de sorte
qu'il est presque impossible d'évaluer avec un minimum de sûreté un taux
d'invalidité proche de zéro").

    Wie die Vorinstanz richtig festgehalten hat, ist diese sogenannte
"Bagatellpraxis" vom Eidg. Versicherungsgericht nicht nur für die
obligatorische Unfallversicherung bestätigt, sondern unter Hinweis
auf die Identität des Invaliditätsbegriffs von ihm selbst auch für den
Bereich der Militärversicherung angewandt worden (in RKUV 1988 Nr. 48
S. 235 Erw. 1c zitiertes nicht publiziertes Urteil B. vom 6. Dezember
1967 sowie unveröffentlichtes Urteil K. vom 11. April 1994).

    b) Die Entstehung dieser Praxis und der dazu ergangenen Rechtsprechung
findet sich einlässlich dargestellt bei MAURER (Recht und Praxis der
schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, 2. Aufl. Bern 1963,
S. 229 f.), der vermerkt, dass das Eidg. Versicherungsgericht anfänglich
bei geringfügiger Invalidität eigentliche Minimalrenten zugesprochen hatte,
die angesichts des unverhältnismässigen Verwaltungsaufwandes regelmässig
ausgekauft wurden. Später setzte sich aufgrund medizinischer Erfahrung
die Überzeugung durch, dass minimale Invaliditäten bis zu 7 oder 8%
nach einer Phase der Angewöhnung und Anpassung in der Regel praktisch
überhaupt wirkungslos, mithin rein theoretischer Natur sind. Dies führte
mit der Zeit dazu, dass bei einem Invaliditätsgrad von weniger als 7 oder
8% keine Dauerrenten mehr zugesprochen wurden (vgl. EVGE 1928 S. 98 f.,
116 f., 1935 S. 10 f. und 17 ff., 1936 S. 10 ff., 1937 S. 21 f., 1938
S. 21 f. und 98 ff., 1942 S. 28, 1944 S. 112; ferner SCHATZ, Kommentar zur
Eidg. Militärversicherung, Zürich 1952, S. 142). Immerhin konnten (und
können) für die Anpassungszeit befristete Renten auch geringen Umfanges
ausgerichtet werden (MAURER, aaO, S. 230 FN 54; vgl. ferner vom gleichen
Autor: Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, Bern 1985, S. 374).

    In seinen jüngeren Werken führt MAURER aus, dass die
unfallversicherungsrechtliche Invalidenrente - da das Gesetz keine untere
Grenze setze - auch bei einer Teilinvalidität von 10% geschuldet sei;
was sodann die Praxis anbetrifft, bei Invaliditäten von weniger als
10% mangels praktischer erwerblicher Auswirkungen keine Dauerrenten
zuzusprechen, scheint er hinsichtlich ihrer Rechtmässigkeit keinerlei
Bedenken zu haben (Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. 2,
Bern 1981, S. 469, 473, inkl. FN 1113; Unfallversicherungsrecht, aaO,
S. 348, 374; Bundessozialversicherungsrecht, Basel 1993, § 13 V 1,
S. 368). Letzteres gilt gleichermassen für andere Autoren (Alexandra
RUMO-JUNGO, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht
[Hrsg. Murer/Stauffer], Bundesgesetz über die Unfallversicherung,
Zürich 1991, S. 71), wobei wiederum hervorgehoben wird, dass sich
diese Praxis nur auf Dauerrenten beziehe und die Ausrichtung
befristeter Renten auch in Fällen kleinerer Invaliditätsgrade
vorbehalten bleibe (GHÉLEW/RAMELET/RITTER, Commentaire de la loi sur
LAA, Lausanne 1992, S. 108). Und schliesslich findet sich gerade im
militärversicherungsrechtlichen Schrifttum die Auffassung vertreten, dass
die fragliche Praxis nicht dahin gehen könne, bei geringem Nachteil den
Rentenanspruch ausnahmslos zurückzuweisen, vielmehr in jedem Fall geprüft
werden müsse, ob eine wirkliche Verminderung der Erwerbsfähigkeit vorliege
(SCHATZ, aaO, S. 142).

Erwägung 6

    6.- Eine erneute Prüfung ergibt, dass die Frage des Rentenanspruchs
im Falle geringfügiger Invalidität der differenzierten Betrachtung bedarf.

    a) Zunächst ist klarzustellen, dass sich die von der Vorinstanz der
Sache nach vertretene Auffassung, bei Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit
von weniger als 10% schlechthin jegliche Rentenleistungen zu verweigern,
für den Bereich der Militärversicherung nicht halten lässt. Eine solche
Sichtweise, die durch die in RKUV 1988 Nr. U 48 S. 234 f. veröffentlichten
Erwägungen begünstigt worden sein mag, steht bereits in Widerspruch
zur Praxis, auch in Fällen geringerer Erwerbsunfähigkeiten wenigstens
befristete Renten (Art. 24 Abs. 1 aMVG) auszurichten. Überdies findet
die vorinstanzliche Auffassung nicht nur im Gesetz keine Stütze, welches
für die Berentung keinen minimalen Invaliditätsgrad erfordert (Art. 23
f. aMVG); ihr steht insbesondere auch der im wesentlichen in das neue Recht
überführte Art. 37 Abs. 1 aMVG entgegen (Art. 46 Abs. 1 MVG in der seit
1. Januar 1994 geltenden Fassung), der die Möglichkeit des Rentenauskaufs
dann vorsieht, wenn "die Invalidität nicht mehr als 10% beträgt",
was doch zumindest faktisch die Annahme einer anspruchsbegründenden
Erwerbsunfähigkeit von weniger als 10% voraussetzt.

    In dieser Hinsicht kann den Ausführungen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beigepflichtet werden, die im übrigen selbst
das BAMV nicht bestreitet. Dieses verweist vielmehr darauf, dass sich die
"Bagatellpraxis", wie sie von der Vorinstanz gehandhabt wurde, nicht mit
den heutigen Gepflogenheiten in der Militärversicherung decke, die in einer
Minderheit von Fällen (ca. 1%) bei einem Invaliditätsgrad von 5 bis 9%
Renten zuspreche. Daraus erhellt zugleich, dass das zur Begründung der
"Bagatellpraxis" verwendete Argument, wonach die Invaliditätsschätzung
gerade in geringfügigen Fällen kaum mit der hinreichenden Sicherheit
möglich sei (Erw. 5a), durch die Praxis widerlegt ist; abgesehen davon
bestehen Grenzfälle ähnlicher Art auch etwa im Bereich von Art. 28 IVG,
ohne dass sich die Vollzugsorgane dadurch vor unlösbare Probleme gestellt
sähen.

    b) Im weiteren ist in Abänderung der bisherigen Rechtsprechung
festzuhalten, dass im Bereich von Art. 23 f. aMVG (und Art. 40 f. MVG
in der seit 1. Januar 1994 geltenden Fassung) in jenen Fällen, in
denen ein Invaliditätsgrad von weniger als 10% ermittelt wird, auch die
Ausrichtung von unbefristeten Invalidenrenten nicht von vornherein unter
Berufung auf die vermutete Angewöhnung des Versicherten verworfen werden
darf. Vielmehr muss unter Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes (dazu
BGE 117 V 263 f. mit Hinweisen) auch hier konkret geprüft werden, ob nach
Berücksichtigung der Schadenminderungspflicht (BGE 117 V 278 Erw. 2b),
insbesondere der dem Versicherten zumutbaren Anpassung und Angewöhnung,
eine reale Erwerbsunfähigkeit verbleibt (vgl. SCHATZ, aaO, S. 142 unten),
welche die Zusprechung einer (auskaufbaren) Rente auf unbestimmte Zeit zu
rechtfertigen vermöchte. Nur auf diese Weise besteht Garantie, dass die
aus der medizinischen Praxis gewonnenen Erfahrungen nicht zum Automatismus
verkommen und die Rechte des Versicherten gewahrt bleiben.

    c) Wie es sich nach dem Gesagten mit der obligatorischen
Unfallversicherung verhält, steht hier ausser Frage und wird zu gegebener
Zeit gesonderter Klärung bedürfen. Ebensowenig braucht im vorliegenden
Fall die Frage entschieden zu werden, ob statt der von der bisherigen
Rechtsprechung bzw. der "Bagatellpraxis" verwendeten Grenze von 10% eine
solche von 5% einzuführen ist. Denn der - aufgrund des im vorinstanzlichen
Verfahren eingeholten Gutachtens - ermittelte Invaliditätsgrad liegt
mit 5,5% noch knapp über dieser Grenze, und es ist nichts ersichtlich,
was dessen mit viel Aufwand bestimmte Höhe als falsch erscheinen
liesse. Insofern vermögen die Vorbringen der Parteien die Schlüssigkeit
des betriebswirtschaftlichen Gutachtens nicht zu erschüttern.

Erwägung 7

    7.- Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Ablehnung des
Rentenbegehrens durch die Vorinstanz nicht standhält. Nach Lage der Akten
ist dem Beschwerdeführer auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von
5,5% eine Invalidenrente zuzusprechen, und zwar ab dem 1. Juni 1986, dem
Zeitpunkt seines Eintritts in den väterlichen Betrieb. In Anbetracht
des Umstandes, dass dieser Betrieb nach Auffassung des Gutachters
Tätigkeitsumlagerungen auf andere Mitarbeiter in wesentlichem Umfange
nicht zulässt und für eine sinnvolle Tagesplanung, ausgerichtet auf die
auftretenden Beschwerden, nur ein sehr geringer Spielraum verbleibt,
sowie unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Gesundheitszustand
mit den geschilderten Beschwerden über einen Zeitraum von 1986 bis zu 1990
(kreisärztliche Untersuchung vom 20. März 1990, Bericht Dr. med. G.) als
stationär bezeichnet wurde, ist diese Rente auf unbestimmte Zeit
festzusetzen.