Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 346



120 V 346

47. Urteil vom 29. September 1994 i.S. F. gegen Evidenzia, Schweizerische
Kranken- und Unfallversicherung, und Versicherungsgericht des Kantons
Zürich Regeste

    Art. 30 Abs. 2, Art. 30bis Abs. 1 KUVG, Art. 129 Abs. 1 lit.  b OG. Das
kantonale Versicherungsgericht kann seine sachliche Zuständigkeit nicht
mit der Begründung verneinen, dass eine Tarifstreitigkeit im Sinne von
Art. 129 Abs. 1 lit. b OG vorliegt.

Sachverhalt

    A.- F., geboren 1952, ist bei der Evidenzia, Schweizerische Kranken-
und Unfallversicherung, für Krankenpflege und Krankengeld versichert.
Am 27. November 1992 stellte ihm die Kasse einen neuen Versicherungsausweis
zu, mit welchem die monatlichen Prämien ab 1. Januar 1993 von Fr. 219.--
auf Fr. 277.30 erhöht wurden. Mit Schreiben vom 10. Dezember 1992
beanstandete F. diese Prämienerhöhung, worauf es zwischen der Kasse und
dem Versicherten zu einem längeren Schriftenwechsel kam. Am 13. September
1993 erliess die Evidenzia eine beschwerdefähige Verfügung, mit welcher
sie an der Forderung monatlicher Prämien von Fr. 277.30 ab 1. Januar
1993 festhielt.

    B.- F. reichte hiegegen Beschwerde ein und beantragte, die Verfügung
vom 13. September 1993 sei als ungültig zu erklären und es seien die
Mitgliederbeiträge (gemäss einer geltend gemachten Prämienvereinbarung
vom 22. Dezember 1992) auf Fr. 235.60 im Monat festzusetzen; zudem
sei der Beginn der Kündigungsfrist vorsorglich auf den 31. Dezember
1992 festzusetzen. Die Evidenzia sei wegen unlauteren Wettbewerbs
und Missachtung der Statuten zu verurteilen; ferner habe sie die
Verfahrenskosten zu übernehmen; eventuell sei ihm eine Umtriebs- und
Prozessentschädigung zuzusprechen.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Zürich wies die Beschwerde ab,
soweit F. damit geltend machte, die Krankenkasse habe sich mit ihm auf
eine Monatsprämie von Fr. 235.60 geeinigt und diese Vereinbarung in der
Folge gebrochen; auf die weiteren Anträge, soweit nicht gegenstandslos,
trat das Gericht mangels sachlicher Zuständigkeit nicht ein (Entscheid
vom 25. Oktober 1993).

    C.- F. erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde sinngemäss mit den
Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und es sei die
Sache an die Vorinstanz zur materiellen Beurteilung zurückzuweisen;
eventuell sei die Sache vom Eidg. Versicherungsgericht selber zu
beurteilen, wobei die Kassenverfügung vom 13. September 1993 als ungültig
zu erklären, der Beginn der Kündigungsfrist auf den 31. Dezember
1992 und die Prämien auf Fr. 235.60 festzusetzen seien; eventuell
seien die Prämien der Zusatzversicherungen entsprechend den von der
Grundversicherung auf die Zusatzversicherungen überwälzten Prämienanteile
zu reduzieren. Des weitern sei zu prüfen, ob die Evidenzia bei weiteren
Versicherungsnehmern unzulässige Prämienüberwälzungen vorgenommen habe,
und es sei die Kasse wegen unlauteren Wettbewerbs und Missachtung der
Statuten zu verurteilen. Schliesslich sei die Evidenzia zur Tragung der
Verfahrenskosten und zur Zahlung einer Umtriebs- und Prozessentschädigung
zu verpflichten.

    Die Vorinstanz und die Beschwerdegegnerin lassen sich mit dem Antrag
auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen. Das Bundesamt
für Sozialversicherung (BSV) verzichtet auf Vernehmlassung.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig und zu prüfen ist zunächst, ob die Vorinstanz zu Recht auf
die Beschwerde nicht eingetreten ist, soweit der Versicherte damit die am
13. September 1993 mit Wirkung ab 1. Januar 1993 verfügte Prämienerhöhung
angefochten hat.

    a) Nach Art. 30bis Abs. 1 KUVG bezeichnen die Kantone als
einzige kantonale Instanz ein für das ganze Kantonsgebiet zuständiges
Versicherungsgericht zur Entscheidung von Streitigkeiten der Kassen
unter sich oder mit ihren Versicherten oder Dritten über Ansprüche,
die aufgrund dieses Gesetzes, der eidgenössischen oder kantonalen
Ausführungsvorschriften oder der eigenen Bestimmungen der Kassen
erhoben werden. Als Ansprüche im Sinne dieser Bestimmung gelten vorab
die Leistungen, zu denen die Krankenkassen aufgrund des Gesetzes,
der Verordnungen und der Statuten verpflichtet sind, nicht dagegen
freiwillige Leistungen, die im Ermessen der Kasse stehen (BGE 115 V 52
Erw. 3c mit Hinweisen). Es gehören dazu aber auch Ansprüche der Kassen
auf Beiträge oder Prämien sowie Rückforderungsansprüche gegen Versicherte
und Versicherungsnehmer (RSKV 1972 Nr. 128 S. 102; vgl. auch MAURER,
Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bern 1981, Bd. II, S. 414).

    b) Der Beschwerdeführer bestreitet, der Krankenkasse mit Wirkung ab
1. Januar 1993 mehr als Fr. 235.60 an monatlichen Mitgliederbeiträgen
schuldig zu sein. Dabei handelt es sich um eine versicherungsrechtliche
Streitigkeit zwischen Versichertem und Krankenkasse, welche nach
Art. 30bis Abs. 1 KUVG in die sachliche Zuständigkeit des kantonalen
Versicherungsgerichts fällt.

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz begründet den Nichteintretensentscheid im
wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer die Rechtmässigkeit
des ab 1. Januar 1993 gültigen Prämientarifs unter Hinweis auf den
Bundesbeschluss über befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung in
der Krankenversicherung vom 9. Oktober 1992, welcher eine Prämienerhöhung
von höchstens 8,1% vorsehe, als Ganzes bestreite. Nach Art. 129 Abs. 1
lit. b OG seien Beschwerden gegen Tarife unzulässig, was auch für das
kantonale Beschwerdeverfahren Geltung habe.

    a) Gemäss Art. 129 Abs. 1 lit. b OG ist die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde unzulässig gegen Verfügungen über
Tarife. Nach der Rechtsprechung ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
allerdings nur unzulässig gegen Verfügungen, welche den Erlass oder
die Genehmigung eines Tarifes als Ganzes zum Gegenstand haben oder
wenn unmittelbar einzelne Tarifbestimmungen als solche angefochten
werden. Hingegen steht die Verwaltungsgerichtsbeschwerde offen gegen
Verfügungen, welche in Anwendung eines Tarifs im Einzelfall ergangen sind
(BGE 116 V 133 Erw. 2a, 112 V 287 Erw. 3 mit Hinweisen).

    Art. 129 Abs. 1 lit. b OG ist eine für das letztinstanzliche
verwaltungsgerichtliche Beschwerdeverfahren massgebende Vorschrift und
ist auf das kantonale Beschwerdeverfahren in Krankenversicherungssachen
grundsätzlich nicht anwendbar. Zwar gilt das in Art. 129 Abs. 1 lit. b
OG für den Ausschluss der Verwaltungsgerichtsbeschwerde massgebende
Argument der mangelnden Justiziabilität der Tarifstreitigkeiten (BGE
112 V 287 Erw. 3, 109 V 200 Erw. 2b mit Hinweisen) in gleicher Weise im
kantonalen Beschwerdeverfahren. Dies ändert jedoch nichts daran, dass es
an einer Rechtsgrundlage für den Ausschluss der Tarifstreitigkeiten im
kantonalen Beschwerdeverfahren fehlt. Eine sinngemässe Anwendbarkeit von
Art. 129 Abs. 1 lit. b OG im kantonalen Verfahren lässt sich auch mit
dem Grundsatz der Einheit des Verfahrens nicht begründen. Er bedeutet
lediglich, dass die Beschwerde an die kantonale Instanz nicht von
strengeren Anforderungen abhängig gemacht werden darf, als sie für das
letztinstanzliche Verfahren gelten. Dagegen schliesst er keineswegs
aus, dass sich die Prüfungszuständigkeit im Instanzenzug verengt (BGE
114 V 96 Erw. 2a mit Hinweisen; RSKV 1982 Nr. 477 S. 39/40; GYGI,
Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 237).

    b) Die Zulässigkeit der Beschwerde an das kantonale
Versicherungsgericht bestimmt sich im Rahmen von Art. 30bis Abs. 1
KUVG danach, ob eine beschwerdefähige Kassenverfügung vorliegt,
wobei das Gericht auch dann angerufen werden kann, wenn die Kasse
innert einer Frist von 30 Tagen keine Verfügung erlässt (Art. 30
Abs. 3 KUVG). Das Gesetz umschreibt den Begriff der Kassenverfügung
nicht; auch ist das VwVG auf die Krankenkassen nicht anwendbar (Art. 3
lit. a VwVG). Nach der Rechtsprechung rechtfertigt es sich indessen,
den Begriff der beschwerdefähigen Kassenverfügung in Analogie zu Art. 5
VwVG zu bestimmen (vgl. BGE 102 V 151 Erw. 3 sowie MAURER, aaO, Bd. II,
S. 407 Anm. 946). Danach gelten als Verfügungen Anordnungen der Behörden
im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen (oder
richtigerweise hätten stützen sollen; BGE 116 Ia 266 Erw. 2a) und zum
Gegenstand haben: Begründung, Änderung oder Aufhebung von Rechten und
Pflichten, Feststellung des Bestehens, Nichtbestehens oder Umfanges von
Rechten und Pflichten, Abweisung von Begehren auf Begründung, Änderung,
Aufhebung oder Feststellung von Rechten und Pflichten, oder Nichteintreten
auf solche Begehren (BGE 118 V 17, 117 Ib 445 Erw. 2a).

    Mit der streitigen Verfügung vom 13. September 1993 hat die Evidenzia
den Beschwerdeführer zur Bezahlung von Mitgliederbeiträgen von Fr. 277.30
im Monat ab 1. Januar 1993 verpflichtet. Sie hat damit in einem konkreten
Rechtsverhältnis über die Änderung von Rechten und Pflichten entschieden,
womit der Verfügungsbegriff von Art. 5 Abs. 1 VwVG erfüllt ist. Die
Vorinstanz musste somit auf die eingereichte Beschwerde eintreten, soweit
die übrigen Prozessvoraussetzungen erfüllt waren. Hieran ändert nichts,
dass der Beschwerdeführer den Tarif insofern als Ganzes angefochten
hat, als er geltend machte, er verstosse gegen den Bundesbeschluss über
befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung
vom 9. Oktober 1992. Ob eine beschwerdefähige Verfügung vorliegt, richtet
sich nicht nach dem, was beschwerdeweise vorgebracht wird, sondern nach
dem Verfügungsgegenstand selbst. Die angefochtene Verfügung ist zudem
in Anwendung eines Tarifs im Einzelfall ergangen, weshalb sie auch im
Lichte von Art. 129 Abs. 1 lit. b OG zulässig wäre (BGE 120 V 44). (...)

Erwägung 3

    3.- a) Nach dem Gesagten ist die Sache an die Vorinstanz
zurückzuweisen, damit sie über die Rechtmässigkeit der angefochtenen
Prämienerhöhung gemäss Verfügung vom 13. September 1993 materiell
entscheide. Abzuweisen ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit
damit beantragt wird, die Evidenzia sei wegen unlauteren Wettbewerbs und
Missachtung der Statuten zu verurteilen. Die Vorinstanz ist in diesem
Punkt zu Recht auf die Beschwerde nicht eingetreten. Sodann ist auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde insoweit nicht einzutreten, als beantragt
wird, es sei zu prüfen, ob die Evidenzia in andern Fällen unzulässige
Prämienerhöhungen vorgenommen habe. Das Gericht hat im konkreten Einzelfall
zu entscheiden und keine Aufsichtsfunktionen wahrzunehmen. Nicht
einzutreten ist schliesslich auf das Rechtsbegehren, der Beginn der
Kündigungsfrist sei auf den 31. Dezember 1993 festzusetzen. Das Begehren
betrifft eine Verfügung der Evidenzia vom 17. November 1993, welche nicht
Gegenstand des Beschwerdeverfahrens bildet.
   b) (Kostenpunkt)

Entscheid:

       Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit
darauf einzutreten ist, wird der vorinstanzliche Entscheid vom 25. Oktober
1993 aufgehoben, soweit damit auf die Beschwerde gegen die mit Verfügung
vom 13. September 1993 bestätigte Prämienerhöhung nicht eingetreten
wurde, und es wird die Sache an das Versicherungsgericht des Kantons Zürich
zurückgewiesen, damit es, nach Prüfung der übrigen Prozessvoraussetzungen,
hierüber materiell entscheide. Im übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.