Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 194



120 V 194

28. Auszug aus dem Urteil vom 6. Juli 1994 i.S. Krankenkasse Helvetia
gegen S. und Obergericht des Kantons Schaffhausen Regeste

    Art. 12 Abs. 2 Ziff. 1 und 2 KUVG. Chirurgischer Eingriff am
Kiefergelenk: Leistungspflicht der Krankenkasse bejaht.

Sachverhalt

    A.- S. (geboren 1934) ist bei der Krankenkasse Helvetia u.a.  für
Krankenpflege versichert. Die ebenfalls angebotene Zahnpflegeversicherung
"Heldenta" (Abt. AZ) hat sie nicht abgeschlossen. Dr. med. dent. E.,
Leitender Arzt an der Klinik/Poliklinik für Kiefer- und Gesichtschirurgie
des Universitätsspitals Zürich, stellte im Zeugnis vom 8. Januar 1992 fest:

    "Bei obengenannter Patientin liegt eine degenerative Erkrankung des
   rechten Temporomandibulargelenkes vor. Wir planen eine Arthroskopie des

    Kiefergelenkes und evtl. open surgery mit Ohrknorpelimplantat
rechts. Die

    Hospitalisationsdauer für diesen medizinisch indizierten Eingriff
beträgt
   ca. 5 Tage."

    Die Krankenkasse weigerte sich (mit Ausnahme einer freiwilligen
Leistung von 50% der Kosten, maximal Fr. 1'000.-- pro Jahr), für den
Eingriff aufzukommen (Verfügung vom 25. Mai 1992).

    B.- Eine gegen die Verfügung vom 25. Mai 1992 erhobene Beschwerde
hiess das Obergericht des Kantons Schaffhausen am 27. August 1993 gut und
verpflichtete die Helvetia, die Kosten für den im zahnärztlichen Zeugnis
vom 8. Januar 1992 der Klinik/Poliklinik für Kiefer- und Gesichtschirurgie
des Universitätsspitals Zürich umschriebenen medizinischen Eingriff im
Rahmen der geltenden Tarife zu übernehmen.

    C.- Die Helvetia führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag,
der Entscheid vom 27. August 1993 sei aufzuheben.

    S. und das Bundesamt für Sozialversicherung lassen sich nicht
vernehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) ...

    b) Die zahnärztliche Versorgung ist generell nicht ärztliche Behandlung
im Sinne von Art. 12 Abs. 2 KUVG, so dass die Krankenkassen hiefür nicht
aufzukommen haben. Sie sind indessen leistungspflichtig, wenn und soweit
die Statuten sie dazu verpflichten.

    Nach der Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts sind
zahnärztliche Behandlungen grundsätzlich therapeutische Vorkehren am
Kausystem. Darunter fallen die Behandlung der Zähne, des Zahnhalteapparates
sowie die Behandlung an den Organbereichen, die ein künstliches Gebiss
aufzunehmen haben. Bezüglich der Leistungspflicht der Krankenkassen
kommt es dabei nicht darauf an, ob solche Behandlungen von einem Arzt
oder Zahnarzt vorgenommen werden. Weiter ist unerheblich die Ursache
des Leidens bzw. die Tatsache, dass die Zahnbehandlung eine Folge
anderer, ärztlich anzugehender Krankheiten ist. Ebensowenig ist die
Wirkung der Zahnbehandlung auf den Gesundheitszustand eines Versicherten
rechtserheblich, insbesondere die Verhütung oder günstige Beeinflussung
von Krankheiten der Verdauungsorgane. Das Gericht hat sodann festgestellt,
dass nur der Gesetzgeber die genannte gesetzliche Ordnung ändern könne
(BGE 116 V 114 mit Hinweisen; RKUV 1991 Nr. K 881 S. 289).

    c) Nach konstanter Rechtsprechung sind demnach therapeutische Vorkehren
am Zahn und am Zahnhalteapparat (Parodont) zahnärztliche Behandlungen
und daher keine gesetzlichen Pflichtleistungen der Krankenkasse. Als
Parodont ("[grch. ... para "um herum", odus "Zahn"]") gilt das Zahnbett,
ein funktionelles System, das aus Zahnfleisch, Wurzelhaut, -zement und
Alveolarknochen (zahnumgebendem Knochen) besteht und alle Stützgewebe
umfasst, die die Belastung des Zahns auffangen (RATEITSCHAK KLAUS
H., Parodontologie, 1984, Farbatlanten der Zahnmedizin, Bd. 1). Bei
therapeutischen Vorkehren, die ausserhalb dieses Bereiches ansetzen oder
vorgenommen werden, muss grundsätzlich auf ärztliche oder arztäquivalente
Behandlung geschlossen werden.

Erwägung 3

    3.- Nach den Berichten der Klinik und Poliklinik des
Universitätsspitals Zürich vom 8. Januar 1992 und von Dr. med. dent. A.,
Schaffhausen, vom 19. März 1992, ist eindeutig ein chirurgischer Eingriff
am Kiefergelenk vorgesehen. Die beschwerdeführende Krankenkasse behauptet,
es handle sich bei der geplanten Operation um eine therapeutische Vorkehr
am Kausystem. Diese Auffassung ist unzutreffend. Mit dem Eingriff wurden
die in Erw. 2b und c erwähnten Organbereiche nicht angegangen. Entgegen
der Ansicht der Vorinstanz ist nicht entscheidend, nach welcher Methode
behandelt wird, d.h. ob die im Einzelfall angewandte therapeutische
Methode der Zahnheilkunde oder einem anderen Gebiet zuzuordnen ist, mithin,
ob die im vorliegenden Fall vorgeschlagene Arthroskopie für sich allein
eine medizinisch-chirurgische Massnahme darstellt. (vgl. RKUV 1991 Nr. K
877 S. 253 Erw. 3b)

    Nachdem unbestritten ist, dass die Beschwerdegegnerin an einer
Krankheit leidet und dass mit dem Eingriff der Eintritt eines drohenden
Gesundheitsschadens oder die Verschlimmerung eines bestehenden Leidens
verhindert werden soll, schuldet die Krankenkasse die gesetzlichen und
statutarischen Leistungen für den Eingriff am Kiefergelenk.

    Unbehelflich ist die Berufung der Beschwerdeführerin auf die
unveröffentlichten Urteile Z. vom 6. März 1990 und F. vom 7. Januar
1993: Im ersten Fall waren die vorgenommenen zahnärztlichen Behandlungen,
nämlich das Einschleifen der Zähne und das Anbringen einer Aufbissschiene
zweifellos zahnärztliche Vorkehren. Auch im zweiten Fall betraf der
Eingriff die in Erw. 2b und c erwähnten Organbereiche, namentlich den
Alveolarknochen als sogenannte Vorbereitungsmassnahme für die Aufnahme
einer Zahnprothese.