Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 V 10



120 V 10

2. Urteil vom 21. Februar 1994 in Sachen Ausgleichskasse des Kantons
Solothurn gegen B. und Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Regeste

    Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG, Art. 17 ELV, Art. 218quinquies OR, Art. 94
Abs. 3 BGBB: Vermögensverzicht. Verkauf eines landwirtschaftlichen
Gewerbes an einen präsumptiven Erben zum Ertragswert. Anrechnung zum
Verkehrswert verneint.

Sachverhalt

    A.- Das Ehepaar B. bezog Ergänzungsleistungen zur AHV-Rente.
Am 10. Dezember 1991 verstarb die Ehegattin. Anlässlich der
Inventarsverhandlung vom 25. März 1992 trat der 1902 geborene Witwer
B. alle Grundstücke zum Ertragswert von Fr. 107'080.-- und den Viehbestand
für Fr. 15'000.-- seinem Sohn ab. Dieser übernahm die Grundpfandschulden
von Fr. 80'057.--. Den Rest des Übernahmepreises von Fr. 42'023.--
trat B. seinen beiden Nachkommen zu gleichen Teilen ab.

    Mit Verfügung vom 28. August 1992 verneinte die Ausgleichskasse
des Kantons Solothurn einen Anspruch von B. auf Ergänzungsleistungen
mit Wirkung ab 1. Januar 1992. Die Ausgleichskasse errechnete einen
Einnahmenüberschuss von Fr. 155'219.--. Zu diesem führten insbesondere
die Anrechnung einer Schenkung von Fr. 1'090'839.-- bzw. ein Zehntel
Vermögensverzehr hievon und Fr. 54'542.-- als Zinsen aus Verzicht. Dabei
hat die Kasse das landwirtschaftliche Gewerbe des Versicherten, das dieser
zum Ertragswert abgetreten hatte, zum Verkehrswert angerechnet.

    B.- Eine hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht
des Kantons Solothurn am 23. November 1992 gut. Das Gericht stellte fest,
der Sohn des Versicherten habe vom Vorkaufsrecht zum Ertragswert gemäss
Bundesgesetz vom 12. Juni 1961 über die Erhaltung des bäuerlichen
Grundbesitzes (EGG) Gebrauch gemacht. Die Ausgleichskasse habe
den Ertragswert des landwirtschaftlichen Gewerbes und den Nutzwert
des Viehbestandes auf die Zeit der Abtretung durch die kantonale
Schätzungsstelle feststellen zu lassen. Alsdann seien der Kapitalwert
des Wohn- und Mitbenützungsrechts des Versicherten, der von der
Ausgleichskasse bereits mit Fr. 20'839.-- errechnet worden sei, und die
Schuldübernahme des Käufers von Fr. 80'057.-- zu berücksichtigen. In dem
Ausmass, als der amtlich geschätzte Ertrags- und Nutzwert einerseits den
Kapitalwert des Wohn- und Mitbenützungsrechts zusammen mit dem Betrag
der Schuldübernahme anderseits übersteige, habe B. auf Vermögenswerte
und mithin auf entsprechende Einkünfte verzichtet.

    C.- Die Ausgleichskasse des Kantons Solothurn führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren, der kantonale Entscheid
vom 23. November 1992 sei aufzuheben.

    B. und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) beantragen Abweisung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 2 Abs. 1 und 5 ELG haben in der Schweiz wohnhafte
Schweizer Bürger, denen eine Rente oder eine Hilflosenentschädigung der
Alters- und Hinterlassenenversicherung oder mindestens eine halbe Rente
der Invalidenversicherung zusteht, Anspruch auf Ergänzungsleistungen,
soweit ihr anrechenbares Jahreseinkommen einen bestimmten Grenzbetrag
nicht erreicht. Dabei entspricht die jährliche Ergänzungsleistung
dem Unterschied zwischen der massgebenden Einkommensgrenze und dem
anrechenbaren Jahreseinkommen (Art. 5 Abs. 1 ELG).

    Das anrechenbare Einkommen wird nach den Bestimmungen der Art. 3
ff. ELG berechnet. Als Einkommen anzurechnen sind danach u.a. Einkünfte und
Vermögenswerte, auf die verzichtet worden ist (Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG in
der hier anwendbaren, ab 1987 gültigen Fassung). Mit dieser neuen Regelung,
welche die Verhinderung von Missbräuchen bezweckt, soll eine einheitliche
und gerechte Lösung ermöglicht werden, indem sich die schwierige Prüfung
der Frage fortan erübrigt, ob beim Verzicht auf Einkommen und Vermögen
der Gedanke an eine Ergänzungsleistung tatsächlich eine Rolle gespielt
hat oder nicht (BGE 117 V 155 Erw. 2a mit Hinweisen).

    Gestützt auf die ihm in Art. 3 Abs. 6 ELG eingeräumte Befugnis hat
der Bundesrat in Art. 17 ELV die Bewertung des Vermögens geregelt. Nach
Abs. 1 dieser Bestimmung (in der seit 1. Januar 1992 geltenden, vorliegend
anwendbaren Fassung) ist das anrechenbare Vermögen nach den Grundsätzen
der Gesetzgebung über die direkte kantonale Steuer für die Bewertung
des Vermögens im Wohnsitzkanton zu erfassen. Dienen Grundstücke dem
Bezüger oder einer Person, die in der EL-Berechnung eingeschlossen ist,
nicht zu eigenen Wohnzwecken, so sind diese zum Verkehrswert einzusetzen
(Abs. 4). Der Verkehrswert einer Liegenschaft ist der Verkaufswert, den
sie im normalen Geschäftsverkehr besitzt. Darunter versteht man auch die
im freien Handel mit landwirtschaftlichen Liegenschaften bezahlten Preise
(NÄGELI/HUNGERBÜHLER, Handbuch des Liegenschaften-Schätzers, Zürich 1988,
S. 117, 154). In den Erläuterungen zur Änderung der ELV auf den 1. Januar
1992 führte das BSV aus, solange ein EL-Bezüger bzw. eine in der Berechnung
eingeschlossene Person in der Liegenschaft wohne, sei eine Aufwertung auf
den Verkehrswert nicht gerechtfertigt. Sobald ihm das Grundstück nicht
mehr zu eigenen Wohnzwecken diene, sollte der Wert, den die Liegenschaft
verkörpere, voll angerechnet werden können. Es wäre nicht richtig, auf
Kosten der EL eine Liegenschaft für die Erben erhalten zu können. Zudem
sollte derjenige, der Wertschriften, Sparhefte oder Bargeld habe, gegenüber
dem Liegenschaftsbesitzer nicht benachteiligt werden (ZAK 1991 S. 406).

Erwägung 2

    2.- Am 1. Januar 1994 trat das Bundesgesetz über das bäuerliche
Bodenrecht (BGBB) vom 4. Oktober 1991 in Kraft. Das BGBB bestimmt, dass ein
bei Inkrafttreten dieses Gesetzes bereits bestehender Gewinnanspruch auch
unter dem neuen Recht seine Gültigkeit behält (Art. 94 Abs. 3). Bei einer
bis zum 31. Dezember 1993 erfolgten Übertragung des landwirtschaftlichen
Gewerbes oder Grundstücks auf den Kindskäufer gilt daher das gesetzliche
Gewinnanspruchsrecht gemäss Art. 218quinquies OR weiterhin, und einer
EL-rechtlich vorzunehmenden Anrechnung des landwirtschaftlichen Gewerbes
oder Grundstücks zum Ertragswert steht grundsätzlich nichts entgegen
(BATZ, EL-rechtliche Aspekte des Kindskaufs, SZS 1994 S. 45).

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdegegner sein
landwirtschaftliches Gewerbe dem Sohn zum Ertragswert verkauft. Entgegen
der Auffassung der Vorinstanz hat dieser nicht das ihm im Falle eines
Verkaufs an einen Dritten zustehende Vorkaufsrecht nach Art. 6 EGG
ausgeübt, womit ihm von Gesetzes wegen die Übernahme zum Ertragswert
(Art. 12 Abs. 1 EGG) zugestanden hätte. Alle Kaufverträge, bei welchen
trotz der gewählten Form erbrechtliche Motive überwiegen (Verwandten-
und Kindskauf; vgl. BGE 70 II 149), gelten nicht als Vorkaufsfall,
sondern als den Vorkaufsfall nicht auslösende Rechtsgeschäfte (KOLLER,
Der Grundstückkauf, 1989, S. 334; BATZ, aaO, S. 36 f.).

    Verkauft der Erblasser sein landwirtschaftliches Gewerbe zu
seinen Lebzeiten einem zukünftigen Erben, so finden die Bestimmungen
des bäuerlichen Erbrechts, die eine Integralzuweisung und das
Ertragswertprinzip vorsehen (Art. 620 ZGB), keine Anwendung (BGE 117
II 530).

Erwägung 4

    4.- a) Der Kauf eines landwirtschaftlichen Gewerbes oder Grundstücks
durch einen präsumptiven Erben wird als Kindskauf bezeichnet (SCHÖBI,
Privatrechtliche Beschränkungen im landwirtschaftlichen Bodenrecht, ZBGR
1993 S. 151 mit Hinweis). Verschiedene Gründe können zu diesem Vorgehen
veranlassen: "Das Heimwesen soll dadurch höheren Ertrag abwerfen, dass
junge Kräfte es fortan bewirtschaften." Ein Erbe soll das Heimwesen zu
"normalen Bedingungen" übernehmen können, so dass es nicht überschuldet
oder doch nicht noch mehr verschuldet wird. Das Heimwesen soll in die Hände
dessen übergehen, den der abtretende Bauer für geeignet erachtet; die
Zuweisung soll nicht dem ungewissen Ausgang künftiger Erbstreitigkeiten
anheim gestellt werden. Der Kindskauf soll dem alternden Bauern die
Mittel verschaffen, damit er sich zurückziehen kann, und zugleich
verhindern, dass seine Erbanwärter jahrzehntelang als Knechte auf dem
väterlichen Hof arbeiten müssen (HOTZ, Bäuerliches Grundeigentum, ZSR,
NF 98 [1979] II S. 174). Um diese Ziele zu erreichen, muss der Veräusserer
dem Erwerber regelmässig einen Vorzugspreis einräumen. Wird der Erbe ein
Grundstück landwirtschaftlich nutzen - dieses Anliegen steckt hinter der
Sondernorm über den Gewinnanspruch beim Kindskauf -, so muss er es zum
Ertragswert erhalten. An diesen Fall knüpft Art. 218quinquies OR an. Danach
fällt der Gewinn, den der Erwerber erzielt, wenn er das ihm übertragene
landwirtschaftliche Grundstück weiter veräussert, von Gesetzes wegen an den
ersten Veräusserer. Die Aussicht, den Gewinn dem Veräusserer zu erstatten
oder allenfalls mit dessen Erben teilen zu müssen, macht Handänderungen
für den Erwerber wirtschaftlich uninteressant. Art. 218quinquies OR will
also den bäuerlichen Grundbesitz festigen und verfolgt im wesentlichen
die gleichen Ziele wie das EGG (HOTZ, aaO, S. 174 und 175).

    b) Der Veräusserer hat somit einen Anspruch auf den Gewinn, wenn der
Erwerber das Grundstück zum Verkehrswert veräussert oder wenn es ihm zum
Verkehrswert enteignet wird. Indem das Gesetz ihm einen Gewinnanspruch
einräumt und soweit der Veräusserer darauf nicht verzichtet, hat er auch
nicht auf Vermögenswerte gemäss Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG verzichtet,
sondern bei allfälligem Gewinn seinen Anteil vorbehalten (vgl. auch BATZ,
aaO, S. 37). Art. 17 Abs. 4 ELV kommt daher im vorliegenden Fall nicht
zur Anwendung.

    c) Schliesslich ist festzuhalten, dass EL-rechtlich das in der
Bundesverfassung, im Erbrecht und im Vorkaufsrecht zum Ausdruck kommende
Ziel nicht vereitelt werden soll, den bäuerlichen Grundbesitz der Familie
des Eigentümers zu tragbaren Bedingungen zu erhalten (vgl. BGE 117 II
533), und dies namentlich dann, wenn der Erblasser, im vorliegenden
Fall der 90jährige Beschwerdegegner, das Vorrecht des geeigneten
Selbstbewirtschafters zu Lebzeiten gewährleisten will und die Sicherung des
Übergangs des (nicht in der Bauzone befindlichen) Landwirtschaftsbetriebes
nichts anderes als eine antizipierte Erbteilungsmassnahme darstellt.

Erwägung 5

    5.- Die Ausgleichskasse wird eine neue Berechnung vorzunehmen haben,
wie sie im vorinstanzlichen Entscheid aufgezeigt ist. Daraus ergibt
sich ein neuer Wert betreffend Rest des Übernahmepreises, auf den der
Beschwerdegegner verzichtet hat. Das BSV führt zutreffend aus, es sei daher
nicht zulässig, die Restanz in Höhe von Fr. 42'023.--, die sich nach der
alten Berechnung ergeben habe, zusätzlich als Verzicht aufzurechnen.