Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IV 242



120 IV 242

39. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 11. Juli 1994 i.S. S. gegen
Eidg. Zollverwaltung Regeste

    Art. 36 VStrR. Akteneinsicht im Verwaltungsstrafverfahren.

    In Fällen mit sehr umfangreichen Akten kann die Gewährung der
Akteneinsicht während der Strafuntersuchung auch gegenüber einem
(praktizierenden) Anwalt mit der Auflage verbunden werden, diese bei der
beteiligten Verwaltung einzusehen und dort Kopien zu erstellen.

Sachverhalt

    A.- Am 7. Juni 1990 liess S. beim Zollamt Luzern vier gebrauchte
Personenwagen zur Einfuhr in die Schweiz abfertigen. Die Überprüfung
der Begleitpapiere führte zum Verdacht, es könnten sich darunter fiktive
Rechnungen befinden. Die Zollkreisdirektion Basel eröffnete daher eine
Strafuntersuchung, die bis heute nicht abgeschlossen wurde. Am 4. bzw. 26.
August 1993 verlangte der Anwalt von S. Einsicht in die Akten der laufenden
Strafuntersuchung. Am 8. September 1993 gab die Zollkreisdirektion Basel
dem Begehren statt und orientierte den Anwalt, dass eine Zustellung
der Akten in Anbetracht des Umfanges nicht in Betracht komme; er solle
diesbezüglich mit dem Verfahrensleiter einen Termin vereinbaren. Der
Anwalt von S. bestand auf einer Zustellung der Akten in sein Büro. Die
Zollkreisdirektion Basel lehnte dieses Begehren mit Verfügung vom
6. Dezember 1993 ab; die Akteneinsicht habe am Sitz der verfügenden oder
einer durch diese zu bezeichnenden kantonalen Behörde zu erfolgen.

    B.- Mit Beschwerde vom 20. Dezember 1993 beantragte der Anwalt von
S. der Oberzolldirektion, die Verfügung vom 6. Dezember 1993 aufzuheben
und festzustellen, dass ihm die Akten zur korrekten Vorbereitung der
Verteidigung zuzustellen seien.

    Mit Entscheid vom 25. Februar 1994 wies die Oberzolldirektion die
Beschwerde ab.

    C.- Mit Beschwerde vom 10. März 1994 gelangte S. entsprechend
der Rechtsmittelbelehrung des Entscheides der Oberzolldirektion vom
25. Februar 1994 an die Eidg. Zollrekurskommission mit dem Begehren,
sowohl den Entscheid der Zollkreisdirektion Basel vom 6. Dezember 1993
als auch den Beschwerdeentscheid der Oberzolldirektion aufzuheben. In
ihrer Vernehmlassung bestand die Oberzolldirektion auf der Zuständigkeit
der Eidg. Zollrekurskommission. Mit Verfügung vom 3. Juni 1994
trat der Präsident der Eidg. Zollrekurskommission als Einzelrichter
auf die Beschwerde nicht ein; gleichzeitig überwies er die Sache
zuständigkeitshalber der Anklagekammer des Bundesgerichts. Diese Verfügung
wurde nicht angefochten.

    Da sich die Oberzolldirektion zur Beschwerde bereits vor der Eidg.
Zollrekurskommission vernehmen liess, verzichtete die Anklagekammer des
Bundesgerichts auf das Einholen einer neuen Vernehmlassung.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Mit der Beschwerde an die Anklagekammer des Bundesgerichts kann
nur die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Überschreitung oder
Missbrauch des Ermessens gerügt werden (Art. 27 Abs. 3 VStrR; SR 313.0).

    Da die Beschwerde nicht durch die Instanz behandelt wird, an
die sie ursprünglich gerichtet war, ist zu prüfen, ob deswegen ein
zweiter Schriftenwechsel durchzuführen ist. Die Beschwerdegründe gemäss
Art. 49 VwVG (SR 172.021) - von denen der Beschwerdeführer aufgrund
der unzutreffenden Rechtsmittelbelehrung ausgehen durfte - sind zwar
umfassender als jene gemäss Art. 27 Abs. 3 VStrR. Der Beschwerdeführer
beschränkte sich aber darauf, eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 3 lit. b
und c EMRK sowie Art. 4 BV (Willkürverbot) - somit die Verletzung von
Bundesrecht - zu rügen. Es kann deshalb darauf verzichtet werden, einen
zweiten Schriftenwechsel durchzuführen, da infolge dieser Beschränkung
in bezug auf die Beschwerdegründe zwischen den beiden Rechtsmitteln kein
Unterschied besteht (und die Beschwerdegegnerin bereits eine Vernehmlassung
zur Beschwerde eingereicht hat).

    b) Dem Beschwerdeführer wurde die vollständige Akteneinsicht gewährt:
Weder im Schreiben vom 8. September 1993 noch in der Verfügung vom
6. Dezember 1993 werden irgendwelche inhaltliche Einschränkungen des
Akteneinsichtsrechts erwähnt.

    Die Verwaltung machte einzig die Auflage, dass die Akten am Sitz der
Behörde, d.h. bei der Zollkreisdirektion Basel oder beim Zollamt Luzern,
einzusehen seien. Beizufügen ist, dass dem Beschwerdeführer auch angeboten
wird, die benötigten Kopien kostenlos anfertigen zu lassen.

    c) Der Beschwerdeführer beruft sich für die von ihm verlangte
Zustellung der Akten in die Kanzlei seines Anwalts auf Art. 6 Ziff. 3
lit. b und c EMRK, da er wegen der Auflage nicht genügend Zeit habe,
die Verteidigung vorzubereiten. Zudem bestehe kein sachlicher Grund,
die Akten dem Anwalt nicht herauszugeben; darin liege eine Verletzung
des Willkürverbotes (Art. 4 BV).

    aa) Die von der Zollverwaltung gewählte Form der Akteneinsicht
entspricht der gesetzlichen Regelung von Art. 26 VwVG, auf welche
Bestimmung Art. 36 VStrR verweist.

    In Art. 26 ff. VwVG haben die allgemeinen, aus Art. 4 BV abgeleiteten
Grundsätze zum Akteneinsichtsrecht Ausdruck gefunden; Rechtsprechung
und Doktrin zum minimalen verfassungsrechtlichen Akteneinsichtsrecht
nach Art. 4 BV einerseits und nach den Art. 26 bis 28 VwVG andererseits
beeinflussen sich somit gegenseitig (BGE 115 V 297 E. 2d mit Hinweisen).

    bb) Ob sich aus dem Akteneinsichtsrecht als Minimalgarantie
nach Art. 4 BV (vgl. dazu BGE 116 Ia 325 E. 3d, aa mit Hinweis;
KARL SPÜHLER, Die Praxis der staatsrechtlichen Beschwerde, Bern
1994, N. 449; SCHMID, Strafprozessrecht, N. 267; J.P. MÜLLER, Die
Grundrechte der schweizerischen Bundesverfassung, Bern 1991, S. 282;
HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, Bern 1985, S.
146) ein verfassungsrechtlicher Anspruch des (praktizierenden) Anwalts
auf Herausgabe der Akten ergibt (ablehnend THOMAS COTTIER, Der Anspruch
auf rechtliches Gehör, recht 1984, S. 125), kann im vorliegenden Fall
offenbleiben; dasselbe gilt in bezug auf Art. 6 Ziff. 3 lit. b (und c)
EMRK. Denn die Strafuntersuchung gegen den Beschuldigten ist noch nicht
abgeschlossen, und weder aus Art. 6 EMRK (VOGLER, IntKommEMRK, Art. 6
N. 491; HAEFLIGER, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die
Schweiz, Bern 1993, S. 176 und 178) noch aus Art. 4 BV ergibt sich ein
Anspruch des Beschuldigten auf vollumfängliche Gewährung des rechtlichen
Gehörs vor Abschluss der Untersuchung (vgl. BGE 119 Ib 12 E. 6). Kann
somit unter dem Gesichtspunkt von Art. 4 BV und Art. 6 EMRK das Recht auf
Akteneinsicht vor Abschluss der Untersuchung sogar ausgeschlossen oder
inhaltlich eingeschränkt werden, so verletzt es diese beiden Bestimmungen
erst recht nicht, während der Verwaltungsstrafuntersuchung die Gewährung
der vollumfänglichen Akteneinsicht bei sehr umfangreichen Akten mit der
Auflage zu versehen, diese bei der Behörde einzusehen und dort Kopien
zu erstellen.

    cc) Bei den sehr umfangreichen Akten (vier Bundesordner und 40
Speditionsdossiers), wie sie hier unbestrittenermassen vorliegen,
durften die zuständigen Zollbehörden in Anwendung von Art. 26 VwVG eine
Zusendung an den Rechtsanwalt des Beschwerdeführers somit ablehnen, ohne
das ihnen zustehende Ermessen zu überschreiten, weil die Untersuchung noch
nicht abgeschlossen ist. Denn der Beschwerdeführer wird mit Eröffnung
des Schlussprotokolls Gelegenheit erhalten, die Akten vollständig
einzusehen und allenfalls eine Ergänzung der Untersuchung zu beantragen
(Art. 61 Abs. 2 VStrR). Bei ausserordentlich umfangreichen Akten kann der
Verwaltung - auch wenn sie, wie hier die Zollkreisdirektion, in ihrer
Praxis Anwälten Akten in der Regel zusendet - nicht zugemutet werden,
diese einem Anwalt mehr als einmal zur Einsichtnahme zuzustellen. Ein
weitergehender Anspruch ergibt sich, wie oben dargelegt, auch nicht aus
Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. b EMRK.

    dd) Die Beschwerde erweist sich daher als unbegründet.