Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IV 194



120 IV 194

34. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. Juni 1994 i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau gegen L. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 187, 191 StGB; Konkurrenz zwischen sexuellen Handlungen mit
Kindern und Schändung.

    Wird ein Kind zu sexuellen Handlungen missbraucht, bezüglich welcher
es altersbedingt nicht urteilsfähig ist, so ist zwischen den Art. 187
und 191 StGB Idealkonkurrenz anzunehmen (E. 2b).

Sachverhalt

    A.- Am 4. März 1991 legte sich L. (geb. 4.10.1940) zum Sohn seiner
Tochter, R. (geb. 29.5.1986), ins Bett, entblösste vor ihm seinen
Geschlechtsteil und befriedigte sich selbst. Am 15. März 1991 liess er im
Hühnerstall dem Knaben die Hosen herunter, betastete ihn am Geschlechtsteil
und masturbierte. Vermutlich am 23. März 1991 führte er R. in die Tenne,
wo er seinen eigenen Geschlechtsteil entblösste und das Kind bis zum
Samenerguss daran saugen liess. Am 20. April 1991 liess er dem Knaben im
Hühnerstall die Hosen herunter, entblösste seinen Geschlechtsteil und
stiess damit zwischen den Oberschenkeln des Knaben bis zum Samenerguss
hin und her.

    B.- Das Bezirksgericht Aarau sprach mit Urteil vom 16. Dezember 1992
L. der mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kind gemäss Art. 187
Ziff. 1 StGB schuldig, verurteilte ihn zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus
und ordnete eine ambulante Behandlung nach Art. 44 Ziff. 1 StGB während
des Strafvollzuges an.

    C.- Mit Urteil vom 26. August 1993 wies das Obergericht des Kantons
Aargau die von L. erhobene Berufung und die Anschlussberufung der
Staatsanwaltschaft ab.

    D.- Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau
eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde, mit der sie beantragt, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Bestrafung des
Angeklagten wegen mehrfacher Schändung im Sinne von Art. 191 StGB,
eventuell wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit einem Kinde gemäss
Art. 187 Ziff. 1 StGB in Idealkonkurrenz mit mehrfacher Schändung nach
Art. 191 StGB, an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Obergericht verzichtet unter Hinweis auf die Ausführungen im
angefochtenen Urteil auf Gegenbemerkungen.

    L. führt aus, er bestreite die strafbaren Handlungen, die das
Obergericht rechtlich richtig gewürdigt habe, so dass sich eine weitere
Vernehmlassung erübrige.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Die Beschwerdeführerin macht geltend, beide Instanzen
hätten eingeräumt, der Gesetzgeber habe das Verhältnis von Art. 187 zu
Art. 191 StGB nicht klar durchdacht und Praxis und Lehre müssten diese
Konkurrenzfrage lösen. Beide Instanzen gingen auch davon aus, dass
das zur Zeit der Tat noch nicht fünfjährige Opfer als urteilsunfähig
im Sinne von Art. 191 StGB zu betrachten sei. Die Botschaft über die
Änderung des Sexualstrafrechts scheine sich bei solchen Fällen für den
Schändungstatbestand auszusprechen. Dass gemäss altem Sexualstrafrecht
der Tatbestand der Schändung nicht zur Anwendung habe gelangen können,
dürfe keinen Grund bilden, im neuen Recht den Tatbestand der sexuellen
Handlungen mit Kindern vorzuziehen. Wichtig sei auch der höhere Strafrahmen
des Art. 191 StGB: Es wäre stossend, wenn sexuelle Handlungen mit
einer urteilsunfähigen erwachsenen Person mit Zuchthaus bis zu zehn
Jahren, sexuelle Handlungen mit einem urteilsunfähigen Kind unter 16
Jahren hingegen nur mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft werden
könnten. Mit der Bemerkung, dass fünf Jahre Zuchthaus für solche Fälle
ohnehin genügen sollten, könnten die unterschiedlichen Strafmaxima nicht
einfach übergangen werden.

    Eventualiter beantragt die Beschwerdeführerin, es seien sowohl
Art. 187 als auch Art. 191 StGB in Idealkonkurrenz anzuwenden, da nach der
Systematik des neuen Sexualstrafrechts zwei Rechtsgüter tangiert seien,
nämlich die ungestörte sexuelle Entwicklung von Unmündigen (Art. 187 und
188 StGB) sowie die sexuelle Freiheit (Art. 189 bis 194 StGB). Wer also
unzüchtige Handlungen mit einem Kind begehe, das zusätzlich bezüglich
solcher Handlungen als urteilsunfähig zu betrachten sei, müsse wegen
sexueller Handlungen mit Kindern und Schändung bestraft werden.

    b) Die Vorinstanz ging entsprechend den zu Art. 189 Abs. 2 aStGB
vertretenen Lehrmeinungen davon aus, dass der Tatbestand der sexuellen
Handlungen mit Kindern (Art. 187 StGB) immer jenem der Schändung vorgehe.

Erwägung 2

    2.- a) Art. 191 StGB, der an die Stelle von Art. 189 und 190 aStGB
getreten ist, schützt unabhängig vom Alter eine urteilsunfähige oder
wehrlose Person männlichen oder weiblichen Geschlechts, die der Täter in
Kenntnis ihres Zustandes zu einer geschlechtlichen Handlung missbraucht
(Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des
Militärstrafgesetzes vom 26. Juni 1985, BBl 1985 II 1009, bes. S. 1077).

    Das Gesetz spricht sich nicht über die Abgrenzung zu Art. 187 StGB
aus, wenn das Opfer ein (infolge seines Alters oder einer Krankheit)
urteilsunfähiges Kind unter 16 Jahren ist. In der Botschaft wird zu dieser
Abgrenzung ausgeführt:

    "Handelt es sich beim Opfer um ein irgendwie geistig behindertes Kind,
   wird es nicht immer leicht sein, zu entscheiden, ob die Tat den

    Unrechtsgehalt
   der Schändung erfüllt. Denn je jünger das Kind ist, desto schwerer
   lässt sich die Einsichtsunfähigkeit infolge seines Alters von der

    Urteilsunfähigkeit infolge geistiger Behinderung unterscheiden. Die

    Expertenkommission hatte aus diesen Gründen jegliche Fälle von

    Urteilsunfähigkeit bis zum Alter von 14 Jahren (Schutzalter gemäss
ihrem

    Vorschlag) in Artikel 187 des Vorentwurfs über geschlechtliche
Handlungen
   mit Kindern verwiesen. Wir sehen von dieser Lösung, die den Absichten
   des

    Täters nicht gerecht wird, ab. Beruht die Urteilsunfähigkeit des
Opfers vor
   allem darauf, dass es das 16. Altersjahr noch nicht vollendet hat, soll

    Art. 187 unseres Entwurfes anwendbar sein; tritt dagegen der
eigentliche

    Missbrauch einer Urteils- oder Widerstandsunfähigkeit in den
Vordergrund,
   soll die Tat von der Bestimmung über die Schändung erfasst werden. Zu
   denken ist namentlich an die Fälle des Missbrauchs von Bewusstlosen,
   z.B.  eines unter Drogeneinfluss stehenden Jugendlichen" (Botschaft,
   aaO,

    S. 1078).

    STRATENWERTH (Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 4. Aufl.,
Bern 1993, § 8 N. 34 und N. 41) tritt dafür ein, analog zum bisherigen
Verhältnis zwischen Art. 189 Abs. 2 aStGB und Art. 191 aStGB den Tatbestand
der Unzucht mit Kindern vorrangig anzuwenden, um Art. 187 Ziff. 2 und 3
StGB nicht ganz oder teilweise um ihre Wirkung zu bringen.

    b) Die Art. 187 und 191 StGB schützen nicht das gleiche Rechtsgut:
Art. 187 StGB will die "Gefährdung der Entwicklung von Unmündigen"
(1. Untertitel zum Fünften Titel des Strafgesetzbuches) verhindern, das
heisst die ungestörte Entwicklung des Kindes gewährleisten, bis es die
notwendige Reife erreicht hat, die es zur verantwortlichen Einwilligung in
sexuelle Handlungen befähigt (Botschaft, aaO, S. 1065), wobei diese Reife
vor dem 16. Altersjahr nach dem Willen des Gesetzgebers immer zu verneinen
ist. Art. 191 StGB hingegen soll gemäss dem 2. Untertitel vor "Angriffen
auf die sexuelle Freiheit und Ehre" bewahren, das heisst Personen schützen,
die seelisch oder körperlich nicht in der Lage sind, sich gegen sexuelle
Zumutungen zu wehren (Botschaft, aaO, S. 1077). Art. 187 StGB ist auch
erfüllt, wenn das Opfer im Sinne des Gesetzes urteilsfähig und mit den
sexuellen Handlungen voll einverstanden ist. Bei der Schändung kann
es eine gültige Einwilligung wegen der Urteilsunfähigkeit des Opfers
nicht geben. Der Strafrahmen ist unterschiedlich: Art. 187 StGB droht
Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder Gefängnis an; die Widerhandlung gegen
Art. 191 StGB kann mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren oder mit Gefängnis
bestraft werden.

    Gegen eine alternative Anwendung von Art. 187 und Art. 191 StGB
spricht, dass durch die Anwendung bloss einer dieser Strafnormen das
deliktische Verhalten nicht vollständig erfasst und abgegolten wäre:
In der Ausnützung der durch Urteilsunfähigkeit bedingten Hilflosigkeit
eines Kindes liegt eine weitergehende Rechtsgutverletzung, die mit der
Bestrafung wegen sexueller Handlungen mit einem Kind nicht berücksichtigt
ist. Umgekehrt umfasst der Tatbestand der Schändung nicht den Schaden,
welcher der Entwicklung des Kindes zugefügt wird.

    Weder in der Botschaft noch in den parlamentarischen Debatten wurde die
Möglichkeit der Idealkonkurrenz zwischen den beiden Artikeln erörtert. Die
Botschaft und die Rechtsprechung nehmen eine solche hingegen zwischen
Art. 187 und sexueller Nötigung oder Vergewaltigung (Art. 189 und 190
StGB) sowie zu Inzest (Art. 213 StGB) an (Botschaft, aaO, S. 1067;
BGE 119 IV 309). Wenn aber zwischen Art. 187 und den Art. 189/190 StGB
Idealkonkurrenz möglich ist, liegt es nahe, diese auch zwischen Art. 187
und Art. 191 StGB anzunehmen, denn ebenso wie die Art. 189 und 190 StGB
schützt der Tatbestand der Schändung das Rechtsgut der sexuellen Freiheit,
und es gibt keinen Grund, diese Freiheit bei Kindern und Jugendlichen
weniger zu schützen als bei Erwachsenen (BGE 119 IV 309 E. 7a). Auch
vom Ergebnis her wäre es stossend, wenn die Unzucht mit einem kleinen
(urteilsunfähigen) Kind nicht gleich streng bestraft werden könnte wie
der Beischlaf mit einer (erwachsenen) urteilsunfähigen Person. Deshalb
ist in solchen Fällen zwischen den Art. 187 und 191 StGB grundsätzlich
echte Konkurrenz (Idealkonkurrenz) anzunehmen.

    c) Da die Urteilsunfähigkeit im Sinne von Art. 191 StGB relativ
ist, hat der Richter konkret abzuklären, ob das Opfer in bezug auf die
sexuellen Handlungen seelisch in der Lage war, sich gegen diese zu wehren
(Botschaft, aaO, S. 1077), und ob es darüber entscheiden konnte, die
sexuellen Kontakte haben zu wollen oder nicht (STRATENWERTH, aaO, §
8 N. 34). Die notwendige Reife im Sinne von Art. 187 StGB ist vor dem
16. Altersjahr von Gesetzes wegen stets zu verneinen, wobei im übrigen
Urteils- und Widerstandsfähigkeit vorausgesetzt ist. Art. 191 StGB bedingt
"eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person". Ist also
der Tatbestand von Art. 187 StGB bei sexuellen Handlungen mit einer Person
unter 16 Jahren wegen ihrer mangelnden Reife erfüllt, so rechtfertigt sich
eine zusätzliche Anwendung von Art. 191 StGB nur, wenn zur Ausnützung
der mangelnden Reife offenkundig ein Missbrauch der Urteilsunfähigkeit
oder anderen Widerstandsunfähigkeit hinzukommt. Deshalb darf eine allein
altersbedingte Urteilsunfähigkeit nur zurückhaltend angenommen werden;
sexuelle Handlungen berühren denn auch das Kind in seiner körperlichen und
intimen Sphäre, in welcher es eher als in anderen Gebieten zum Bewusstsein
und zu einer (Abwehr-)Reaktion fähig ist.

    Unter welchen Voraussetzungen in Fällen, in denen die Urteils- oder
Widerstandsunfähigkeit des jungen Opfers nicht bloss altersbedingt ist,
Idealkonkurrenz zwischen Art. 187 und Art. 191 StGB angenommen werden muss,
kann hier offenbleiben.

    d) Nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanz ist R. aufgrund
seines Alters von 4 Jahren und 11 Monaten zum Tatzeitpunkt als
urteilsunfähig zu betrachten. Auch das Urteil der ersten Instanz und
die Akten drängen nicht einen anderen Schluss auf. Zwar konnte das Kind
die an ihm verübten Handlungen der Polizei gegenüber beschreiben, doch
realisierte es offensichtlich deren Bedeutung nicht; auch hat es sich
nicht gegen die gleichgeschlechtlichen und sehr weit gehenden Handlungen
gewehrt, sondern erduldete sie. Der Beschwerdegegner macht nicht geltend,
die Urteilsunfähigkeit sei zu bezweifeln. Die von ihm verübten Taten
erfüllen demnach sowohl Art. 187 als auch Art. 191 StGB, weshalb bei der
Strafzumessung gemäss Art. 68 StGB zu verfahren ist.