Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IV 1



120 IV 1

1. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 4. Februar 1994 i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen gegen W. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB; Aufschub des Strafvollzugs zwecks
ambulanter Behandlung.

    Auch eine Strafe von mehr als 18 Monaten (hier: zweieinhalb Jahre
Gefängnis wegen qualifizierter Vergewaltigung) kann zu Gunsten einer
ambulanten Behandlung aufgeschoben werden. Die ambulante Therapie geht
vor, wenn eine sofortige Behandlung gute Resozialisierungschancen bietet
und diese durch den Vollzug der Freiheitsstrafe klarerweise erheblich
beeinträchtigt würden. Je länger die Freiheitsstrafe, deren Aufschub
zur Diskussion steht, desto ausgeprägter die Abnormität, die geheilt
werden soll.

Sachverhalt

    A.- Als W. am Abend des 7. Februar 1990 an der Wohnungstür von Frau
A. klingelte und wegen eines angeblichen Autounfalls zu telefonieren
wünschte, liess diese den ihr unbekannten, bleichen und aufgeregten Mann
in die Wohnung treten und bot ihm in der Küche zur Beruhigung einen Kaffee
an. W. ging wiederholt in die Wohnstube, um zu telefonieren. Weil ihm
dies angeblich infolge Betriebsstörungen nicht gelang, kniete sich Frau
A. zum Apparat und nahm prüfend den Telefonhörer zur Hand. Da ergriff
W. die Frau überraschend von hinten und hielt ihr eine (nicht geladene)
Pistole an den Kopf. Er klemmte ihren Kopf zwischen seine Knie, stopfte
ihr mehrmals ein Tuch in den Mund, um sie am Schreien zu hindern ("dann
würgte er mir wieder das Tuch rein, ich bin fast erstickt"), riss ihr
die Kleider vom Leib, betastete ihre Vagina und setzte sich "verkehrt"
auf sie. Er benützte zudem eine Rasierklinge, fuhr damit über ihren Körper
hin und her und rasierte ihr die Schamhaare; er versetzte sie in Angst,
geschnitten zu werden. Er legte sich auch auf sie, doch ohne vollständige
Erektion. Nach Wahrnehmung von Frau A. dauerte der Überfall zwischen 20
Minuten und einer halben Stunde. Sie wehrte sich durchgängig, schrie, biss,
versuchte ihn zu treten und hämmerte mit den Händen auf den Boden. Als
schliesslich ein Nachbar in die Wohnung trat, suchte W. fortzuspringen,
wurde jedoch von jenem bis zum Eintreffen der Polizei festgehalten.

    Das Bezirksgericht St. Gallen verurteilte am 11. April 1991 W. wegen
versuchter qualifizierter Notzucht nach Art. 187 Abs. 2 aStGB sowie
Widerhandlung gegen die Waffenverordnung zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus
und zur Bezahlung von Fr. 10'000.-- Genugtuung. Es verpflichtete ihn,
die ambulante psychiatrische Behandlung fortzusetzen, solange die Ärztin
dies für nötig erachtet. Den Vollzug der Strafe schob es nicht auf. Auf
Berufung von W. verurteilte ihn das Kantonsgericht St. Gallen am 25. Mai
1993 wegen versuchter qualifizierter Vergewaltigung gemäss Art. 190
Abs. 3 StGB zu zweieinhalb Jahren Gefängnis und sprach ihn von der
Widerhandlung gegen die Waffenverordnung frei. Es ordnete eine ambulante
psychiatrische Behandlung an und schob den Vollzug der Freiheitsstrafe
auf. Hinsichtlich der Zivilklage (Genugtuungsforderung) einigte sich
die Straf- und Zivilklägerin mit W. Das Kantonsgericht bestätigte das
bezirksgerichtliche Erkenntnis.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen erhebt
Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, das angefochtene Urteil
sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- In der Hauptsache rügt die Beschwerdeführerin den Aufschub der
Freiheitsstrafe zwecks ambulanter Behandlung. Ein Strafaufschub zugunsten
einer ambulanten Massnahme sei bereits dann generell nicht mehr zulässig,
wenn die Strafe mehr als 18 Monate betrage. Dann gehe der Strafanspruch
des Staates vor und dürfe nicht durch die Anordnung einer ambulanten
Massnahme vereitelt werden. Die Vergeltungsbedürfnisse hätten bei hohen
Strafen in jedem Fall Vorrang vor der Spezialprävention. Eher sei auf
die Behandlung zu verzichten.

    a) Erfordert der Geisteszustand des Täters ärztliche Behandlung oder
besondere Pflege und ist anzunehmen, dadurch lasse sich die Gefahr weiterer
mit Strafe bedrohter Taten verhindern oder vermindern, so kann der Richter
gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB eine ambulante Behandlung anordnen,
sofern der Täter für Dritte nicht gefährlich ist. Er kann den Vollzug
der Strafe aufschieben, um der Art der Behandlung Rechnung zu tragen
(Ziff. 2 Abs. 2).

    b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sollte dort, wo
ein Erfolg wahrscheinlich ist, tendenziell eine ärztliche Behandlung
eingreifen. Der Strafaufschub ist angezeigt, wenn eine tatsächliche
Aussicht auf erfolgreiche Behandlung durch den sofortigen Vollzug
der Freiheitsstrafe erheblich beeinträchtigt würde. Doch ist eine
Beeinträchtigung nicht erst erheblich, wenn der Vollzug eine Behandlung
verunmöglicht oder den Behandlungserfolg völlig in Frage stellt. Vielmehr
geht die Therapie vor, sobald eine sofortige Behandlung gute
Resozialisierungschancen bietet, welche der Vollzug der Freiheitsstrafe
klarerweise verhindern oder vermindern würde. Diesfalls ist der Vollzug
mit der Behandlung nicht vereinbar ("n'est pas compatible avec le
traitement", gemäss französischem Gesetzeswortlaut; BGE 116 IV 101 E. 1a,
115 IV 87 E. 1a und b). Unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgebots
muss die Abnormität desto ausgeprägter sein und mithin ein Aufschub
umso zurückhaltender gehandhabt werden, je länger die zugunsten der
ambulanten Behandlung aufzuschiebende Freiheitsstrafe ist (vgl. BGE 118
IV 351 E. 2e, 107 IV 20 E. 5b). Ausserdem darf die ambulante Behandlung
nicht missbraucht werden, um etwa den Vollzug der Strafe zu umgehen oder
ihn auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben. Der Aufschub muss sich aus
Gründen der Heilbehandlung hinreichend rechtfertigen (BGE 107 IV 20 E. 4c,
105 IV 87 E. 2b).

    Angesichts einer schweren geistigen Abnormität kann somit eine längere
Freiheitsstrafe zugunsten einer ambulanten Behandlung aufgeschoben werden.
Dabei ist ein Widerstreit zwischen Spezial- und Generalprävention
möglich, weil ihre Zielsetzungen nach unterschiedlichen Sanktionen
rufen können (Behandlung ausserhalb des Strafvollzugs bzw. Vollzug der
Freiheitsstrafe). Ebenso kann der Gesichtspunkt der Spezialprävention
mit dem Aspekt der rechtsgleichen Behandlung in Konflikt treten. Die
Lösung lässt sich somit nicht einfach aufgrund der einen oder andern
Zielsetzung finden. Die Strafzwecke stehen sich denn auch nicht unvereinbar
gegenüber. Sie bilden vielmehr ein komplexes Verhältnis wechselseitiger
Ergänzung, wobei je nach Sachzusammenhang das eine oder das andere
Kriterium stärker hervortritt (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht,
Allgemeiner Teil I, S. 44 N. 28). Spezial- und Generalprävention sind
gegeneinander abzuwägen und in eine Rangfolge zu bringen. Dabei gerät
die Spezialprävention in zweifacher Hinsicht in den Vordergrund. Zum
einen dient das Strafrecht in erster Linie nicht der Vergeltung, sondern
der Verbrechensverhütung. Dies bringt der Gesetzgeber nicht nur mit der
Bezeichnung der Resozialisierung als Ziel des Strafvollzuges (Art. 37
Ziff. 1 Abs. 1 StGB) zum Ausdruck, sondern vor allem auch mit der bei
der StGB-Teilrevision von 1971 erfolgten Ausweitung der Möglichkeit der
Anordnung von Massnahmen. Deshalb sind Sanktionen, die die Besserung
oder Heilung des Täters gewährleisten, zu verhängen und solche, die dem
Anliegen der Verbrechensverhütung zuwiderlaufen, möglichst zu vermeiden
(BGE 118 IV 337 E. 2c). Zum andern ist zu berücksichtigen, dass im
Konfliktsfall ein Vorrang der Generalprävention das spezialpräventive
Ziel zu vereiteln droht, die Bevorzugung der Spezialprävention hingegen
die generalpräventiven Wirkungen einer Sanktion nicht ausschliesst,
sondern höchstens in einer schwer messbaren Weise abschwächt; denn
auch eine mildere Sanktion wirkt generalpräventiv. Andererseits
gebührt den spezialpräventiven Bedürfnissen nur insoweit der Vorrang,
wie generalpräventive Mindesterfordernisse noch gewahrt sind (ROXIN,
Strafrecht, Allgemeiner Teil I, München 1992, S. 39 N. 40). Im Rahmen
der Art. 43 und 44 StGB ist diese Problematik jedoch insoweit etwas
relativiert, als das Gesetz gerade davon ausgeht, dass der geistig Abnorme
oder Süchtige grundsätzlich massnahmebedürftig ist und - anders als der
gewöhnliche Täter - einer spezifischen Sanktion bedarf.

    c) Der Richter beurteilt im Rahmen des Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB
den Einzelfall unter Berücksichtigung der erwähnten Grundsätze und aller
konkreten Umstände, insbesondere von Notwendigkeit und Chancen einer
Behandlung im Vergleich zu den Auswirkungen des Strafvollzuges sowie des
Erfordernisses, Straftaten zu ahnden. Doch selbst wenn er zum Ergebnis
gelangt, eine Behandlung sei ohne Beeinträchtigung der Erfolgsaussichten
vollzugsbegleitend nicht durchführbar, verlangt Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2
StGB nicht zwingend, den Vollzug der Freiheitsstrafe auch tatsächlich
aufzuschieben. Die Bestimmung ist als "Kann"-Vorschrift ausgestaltet;
sie überlässt es dem Richter, nach seinem (pflichtgemässen) Ermessen über
den Strafaufschub zu befinden. In dieses weite Beurteilungsermessen des
Sachrichters kann das Bundesgericht nur bei Ermessensüberschreitung oder
-missbrauch eingreifen (BGE 116 IV 101 E. 1a).

    d) Die Vorinstanz weist vorab auf den schwer gestörten Geisteszustand
des Täters im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB hin. Nach den Gutachten
schäle sich beim Täter als Kernsymptomatik ein psychopathologisches Syndrom
heraus, das nicht nur als schizoide, sondern bereits als krankhafte,
präschizophrene Persönlichkeit umschrieben werden müsse. Nach Würdigung der
verschiedenen Gutachten kommt die Vorinstanz zum Schluss, die medizinische
Behandlungsnotwendigkeit und die Erfolgsaussichten der Behandlung seien
ausgewiesen, ein Strafvollzug jedoch mit dieser Behandlung unvereinbar. Sie
wägt die Aspekte der Spezialprävention gegen jene der Generalprävention
ab und schliesst, dass den beiden Bedürfnissen nicht in gleicher Weise
Rechnung getragen werden könne. Bei dieser Sachlage bewertet sie die
begründete Aussicht, dass durch die Behandlung des (mit Jahrgang 1968 noch
jungen) Täters weiteren Gewaltausbrüchen und entsprechend schwerwiegenden
Delikten wirksam vorgebeugt werden könne, höher als das Interesse an
der Vollstreckung der Freiheitsstrafe. Die zweieinhalbjährige Strafe
sei zwar nicht kurz, aber auch nicht derart lang, dass generalpräventive
Gesichtspunkte einen Strafaufschub ausschliessen müssten.

    e) Damit beurteilt die Vorinstanz die Sache nach den massgeblichen
Kriterien. Sie gewichtet die verschiedenen Gesichtspunkte sorgfältig und
berücksichtigt auch das Erfordernis der Verbrechensverhütung. Schliesslich
hat sie beim Entscheid, die Freiheitsstrafe zugunsten der ambulanten
Massnahme aufzuschieben, ihr (weites) Ermessen nicht überschritten. Das
angefochtene Urteil verletzt demnach kein Bundesrecht.