Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 II 65



120 II 65

15. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 15. März 1994
i.S. Albert H. Steiner gegen Schweizerische Eidgenossenschaft
(Direktprozess) Regeste

    Urheberrecht an Werken der Baukunst.  Urheberpersönlichkeitsrecht des
Architekten. Entstellungsverbot (Art. 11 Abs. 2 und Art. 12 Abs. 3 URG).

    Urheberpersönlichkeitsschutz des erstschaffenden Architekten
hinsichtlich Nachbarbauten. Indirekte Beeinträchtigung eines Werkexemplars
ohne Veränderung seiner ursprünglichen Fassung (E. 8a).

    Begriff der Entstellung (E. 8b).

Sachverhalt

    A.- Die Schweizerische Eidgenossenschaft (Beklagte) betreibt in Zürich
eine Eidgenössische Technische Hochschule (ETHZ), heute als autonome
öffentlichrechtliche Anstalt mit eigener Rechtspersönlichkeit. Deren
angespannte Raumsituation im Stadtzentrum führte 1959 zum Entscheid,
einen zweiten Hauptstandort auf dem Hönggerberg zu errichten. Die erste
Etappe hiezu wurde in den Jahren 1964-1973 architektonisch nach Plänen
von Albert H. Steiner (Kläger), die zweite Etappe in den Jahren 1971-1976
nach Plänen der Architekten Ziegler und Lanter realisiert. Zwischen 1979
und 1985 erfolgten weitere kleinere Ausbauten.

    Aufgrund der starken Zunahme der Studentenzahlen in den achtziger
Jahren und der auch Lehre und Forschung beeinflussenden technischen
Entwicklung wurden im Jahre 1983 die Raumsituation der ETHZ überprüft
und der künftige Bedarf ermittelt. Basierend auf der "Akademischen
Vision 2001 der ETH Zürich" vom Dezember 1984 entstand im Jahre
1985 ein mittel- und langfristiges Entwicklungskonzept. Dieses strebt
u.a. an, die naturwissenschaftlichen Abteilungen auf dem Hönggerberg zu
konzentrieren. Der darauf beruhende Richtplan 1989 sieht einen Ausbau
der dortigen Anlagen von insgesamt 80'000 m2 Hauptnutzfläche vor.

    Im Jahre 1990 wurde ein Projektwettbewerb für die ersten beiden
Phasen einer dritten Ausbauetappe ausgeschrieben, aus welchem das Projekt
"ELEMENTAR" der Architekten Campi und Pessina als Sieger hervorging. Das
Projekt umfasst ein sich südlich an die erste Etappe anschliessendes
kammartiges Lehr- und Forschungsgebäude mit fünf Institutstrakten
und angeschlossenem Auditoriengebäude sowie getrennt davon ein in den
Zwischenbereich der ersten und der zweiten Etappe gestelltes kleineres
Dienstleistungsgebäude (zum Gesamten: BBl 1992 III 1593 und 1993 II 1297,
1334 ff.).

    B.- Der Kläger spricht dem Projekt "ELEMENTAR" die gebotene Integration
in das bestehende Überbauungskonzept ab und hält daraus seine Urheberrechte
für verletzt. Mit Klage vom 24. März 1993 beantragt er dem Bundesgericht,
die Rechtsverletzung festzustellen und der Beklagten die Ausführung der
dritten Ausbauetappe nach diesem Projekt zu untersagen. Zur Begründung
macht er geltend, die bestehende Anlage auf dem Hönggerberg stelle
nicht bloss bezüglich der Einzelbauten, sondern auch als Gesamtanlage
ein urheberrechtlich geschütztes Werk dar, welches zwar weiterhin als
sein Werk erkennbar bleibe, durch das Erweiterungsprojekt "ELEMENTAR"
aber derart verstümmelt und entstellt würde, dass seine Ehre schwer
verletzt wäre. Er beansprucht Schutz nach Art. 6bis der am 26. Juni
1948 in Brüssel revidierten Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken
der Literatur und der Kunst (RBÜ; SR 0.231.13), Art. 11 Abs. 2 URG 1992
(SR 231.1) und Art. 28 ZGB.

    Die Beklagte schliesst auf Abweisung der Klage.

    Das Bundesgericht weist die Klage ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 7

    7.- (Verhältnis des Eigentumsrechts am Bauwerk zum
Urheberpersönlichkeitsrecht des Architekten. - Verneinung eines
ausservertraglichen urheberrechtlichen Anspruchs des Architekten auf eine
ungeschmälerte Werkintegrität. - Bestätigung von BGE 117 II 466.)

Erwägung 8

    8.- Art. 12 Abs. 3 URG regelt unmittelbar bloss die direkte
Beeinträchtigung des Werkexemplars, den Eingriff in die Form selbst. Im
vorliegenden Fall ist dagegen im wesentlichen ein indirekter Eingriff
zu beurteilen, welcher das Werk in einen vom Kläger als beeinträchtigend
empfundenen Sachzusammenhang bringt, der sich zwar auf das Werk auswirkt,
ohne dass aber die ursprüngliche Fassung selbst verändert wird (SCHILCHER,
Der Schutz des Urhebers gegen Werkänderungen, S. 71).

    a) Die deutsche Rechtsprechung subsumiert diese indirekten Eingriffe
unter den Tatbestand der Entstellung und stellt sie insoweit den direkten
Veränderungen gleich (BGH in GRUR 1982, S. 107, 109; FROMM/NORDEMANN,
N. 2 zu § 14 DURG). Auch für das schweizerische Recht wird postuliert,
auf solche indirekte Eingriffe analog Art. 12 Abs. 3 URG anzuwenden
(PEDRAZZINI, Neuere Entwicklungen im Urheberrecht des Architekten,
BR 1993, S. 7). Dem ist im Grundsatz beizupflichten, doch drängt sich
eine Relativierung der Analogie aus dem Schutzbereich des Urheberrechts
auf. Das Urheberpersönlichkeitsrecht wirkt ausserhalb vertraglicher
und damit relativer Beziehungen grundsätzlich absolut, d.h. gegenüber
jedermann, aber auch gegenüber jedermann in gleicher Weise. Zwar ist
nach den zitierten Gesetzesbestimmungen der Eigentümer eines Bauwerks
grundsätzlich weitergehend zu urheberrechtlichen Beeinträchtigungen
desselben befugt als ein unberechtigter Dritter, was unmittelbar aus
dem Werkeigentum folgt und sich der Sache nach auf direkte Einwirkungen
bezieht. Indessen kann aus diesem Privileg des Eigentums am Werkexemplar
für den Bereich indirekter Eingriffe nicht die Pflicht abgeleitet werden,
der Eigentümer des geschützten Bauwerks habe bei der Gestaltung des
Umfelds dessen Integrität weitergehend zu wahren als ein benachbarter
Dritteigentümer. Mit andern Worten ist ausservertraglich unter dem
Gesichtspunkt der Widerrechtlichkeit grundsätzlich bedeutungslos, ob
die Beeinträchtigung vom früheren Vertragspartner des Urhebers, von
einem nachfolgenden Eigentümer am Werkexemplar oder von einem daran
unbeteiligten Dritten ausgeht. Der Schutzbereich wird im einen wie im
andern Fall bestimmt durch das Entstellungsverbot im Sinne von Art. 11
Abs. 2 URG. Dabei erscheint es indessen sachgerecht, diesen unbestimmten
Rechtsbegriff unterschiedlich zu verstehen, je nachdem ob der Eingriff
in die Form selbst oder bloss in deren Umfeld erfolgt. Dies erklärt
sich daraus, dass im letzten Fall das geschützte Werkexemplar als
solches unangetastet bleibt, letztlich gar zwei eigenständige Werke
in eine sachliche Beziehung gebracht werden, die nebeneinander Bestand
haben und bei beidseits gegebener Individualität oder Originalität auch
denselben qualitätsneutralen Schutz geniessen. Einen absoluten Schutz der
Alterspriorität kennt das Urheberrecht in diesem Zusammenhang nicht. Mit
beachtlichen Gründen wird daher auch die Meinung vertreten, der Urheber des
älteren könne sich von vornherein der Schaffung des jüngeren Werks unter
Berufung auf sein Persönlichkeitsrecht nicht widersetzen (BARRELET/EGLOFF,
Das neue Urheberrecht, N. 16 zu Art. 12 URG; LUTZ, Über das Urheberrecht
des Architekten bei der Änderung von Bauwerken, FS Pedrazzini, S. 617 ff.,
626). Demgegenüber vertritt MARKUS BACHMANN (Architektur und Urheberrecht,
Diss. Freiburg 1979, S. 324, Rz. 1169) die Auffassung, der Architekt
habe seine Architektur wegen der Werkintegrität der Nachbarbauten in
deren architektonischen Gesamtkontext zu stellen und müsse sich an die
Architekturkonzeption der Nachbargrundstücke förmlich anlehnen, doch
weist er selbst darauf hin, dass diese Meinung weder im Gesetz noch in
Judikatur und Literatur eine Stütze findet (aaO, Fn. 335a). Sie wird
andernorts denn auch als zu weitgehend abgelehnt (PEDRAZZINI, aaO, S. 7
Fn. 19). Zu Recht weist namentlich der letztgenannte Autor darauf hin,
dass das Anpassungsgebot vorab in den Regelungsbereich des öffentlichen
Rechts (baupolizeiliche Ästhetikvorschriften, Denkmalschutz) und nicht
des Urheberrechts fällt (aaO mit Hinweisen). Selbst das deutsche Recht,
welches entgegen dem schweizerischen auch den künstlerischen Charakter des
Werks in die Schutzvoraussetzungen miteinbezieht und im Widerstreit der
Interessen von Eigentümer und Urheber im Zweifelsfall diesen privilegiert
(FROMM/NORDEMANN, N. 1 zu § 14 DURG), setzt dem indirekten Eingriff
im hier zu beurteilenden Sinne bloss ausnahmsweise urheberrechtliche
Schranken (BEIGEL, Urheberrecht des Architekten, S. 42 Rz. 95) und sieht
einen urheberpersönlichkeitsrechtlichen Schutz des prioritär Schaffenden
zur Abwehr beeinträchtigender Nachbarbauten nur in Extremfällen vor
(SCHILCHER, aaO, S. 74 mit Rechtsprechungshinweis in Fn. 123).

    Von einer solchen Differenzierung ist auch für das schweizerische Recht
auszugehen. Dies bedingt einen unterschiedlichen Beurteilungsmassstab
an den Begriff der Entstellung, je nachdem ob ein Eingriff in das Werk
oder Werkexemplar selbst oder in dessen Umfeld in Frage steht. Das
Urheberpersönlichkeitsrecht des Architekten findet damit auch eine
räumliche Grenze am beanspruchten und überbauten Raum und vermag nur
in ausgesprochenen Ausnahmefällen darüber hinauszustrahlen. Aus dem
Begriff des Urheberrechts folgt kein Anspruch auf architektonische
Angleichung oder Unterordnung von Nachbarbauten oder auf Freihaltung der
in das ursprüngliche Konzept miteinbezogenen natürlichen Landschaft der
Bauwerksumgebung. Ein ausservertraglicher Anspruch des Erstschaffenden
auf Vergabe auch der Folgeprojekte besteht nach schweizerischem Recht
nicht (BGE 117 II 466 E. 5d), viel weniger noch ein solcher auf die
Projektierung von Nachbarbauten, deren Ausführung nicht vom Eigentümer
des bereits erstellten Bauwerks beabsichtigt ist. In beiden Fällen aber
hat das Entstellungsverbot denselben Gehalt und vermag es den Urheber
des benachbarten Werks grundsätzlich nicht daran zu hindern, seinerseits
individuelle und originelle Ideen zu verwirklichen. Dagegen vermag
auch das dem Vertrauensgrundsatz entfliessende Gebot der schonenden
Rechtsausübung nicht aufzukommen. Dieses setzt vielmehr im Privatrecht
eine rechtliche Sonderverbindung voraus (BK-MERZ, N. 34 zu Art. 2 ZGB),
welche im Bereich des Änderungsrechts des Bauwerkeigentümers (direkte
Eingriffe) allenfalls aus den konkurrierenden Rechten am gleichen
Objekt bejaht werden mag (BGE 117 II 466 E. 5d), aber jedenfalls fehlt,
wo die Schaffung selbständiger, wenn auch benachbarter Bauwerke in Frage
steht. Hier erschöpft sich das Entstellungsverbot in der dem Deliktsrecht
immanenten Forderung eines ethischen Minimums, welches von jedermann und
in jeder Lage zu respektieren ist (BK-MERZ, aaO und N. 84 zu Art. 2 ZGB).

    b) Untersagt ist dem Eigentümer die persönlichkeitsverletzende
Entstellung seines Bauwerks (Art. 11 Abs. 2 und Art. 12 Abs. 3
URG). Entstellung liegt dabei nur vor, wenn eine erhebliche Veränderung
mit negativen Auswirkungen in Frage steht (BARRELET/EGLOFF, aaO,
N. 13 zu Art. 11 URG), bloss geringfügige und dem Urheber zumutbare
Änderungen fallen nicht darunter. Erforderlich ist eine grobe Entstellung
(Amtl.Bull. NR 1992 17/8 Votum BR Koller), eine als Verstümmelung in
Erscheinung tretende Änderung (TROLLER, Immaterialgüterrecht, 3. Aufl.,
Band II, S. 691), eine einschneidende Verletzung der Persönlichkeit des
Urhebers (PEDRAZZINI, aaO, S. 7). Entstellung ist damit eine besonders
schwerwiegende Form der Beeinträchtigung, eine krasse Verfälschung
des in der Werkform zu Tage tretenden geistigen Ausdrucksgehalts als
Entfaltung der eigenen Persönlichkeit (vgl. die Hinweise bei SCHILCHER,
aaO, S. 63 f.).

    Geht es sodann um indirekte Eingriffe aus dem urheberrechtlich
nur mittelbar geschützten Umfeld eines bestehenden Bauwerks, bedarf es
nach dem Gesagten darüberhinaus einer sittenwidrigen Inanspruchnahme
eigenen Urheberrechts des Zweitschaffenden, einer letztlich moralischen
Unredlichkeit, wie sie vergleichbar dem Regelungsgedanken von Art. 41
Abs. 2 OR zugrunde liegt (dazu BK-BREHM, N. 233 ff. zu Art. 41 OR;
OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Band II/1, 4. Aufl. S. 61
ff.).

Erwägung 9

    9.- (Verneinung einer Verletzung des Urheberpersönlichkeitsrechts
des Klägers.)