Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 II 5



120 II 5

3. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 28. Februar 1994
i.S. E. gegen X. AG (Berufung) Regeste

    Materielle Beschwer als Eintretensvoraussetzung.  Berechtigung,
die Bestellung eines Beistands für eine juristische Person zu verlangen
(Art. 397 ZGB).

    Auf eine Berufung ist nur einzutreten, wenn der Berufungskläger durch
das angefochtene Urteil materiell beschwert ist (E. 2a).

    Nur wem aus der fehlenden Vertretung ein Nachteil erwachsen kann,
ist berechtigt, die Ernennung eines Beistands für eine juristische Person
zu verlangen (E. 2b).

    Wer erkannt hat, dass das für eine juristische Person handelnde Organ
in einem Interessenkonflikt steht, darf dennoch auf die Vertretungsmacht
dieses Organs vertrauen, wenn ihm die für eine Beistandsernennung
zuständige Vormundschaftsbehörde das Bestehen der Vertretungsmacht
bestätigt hat (E. 3c).

Sachverhalt

    A.- Anton E. und Max A. sind beide Aktionäre der X. AG. Max A. ist
zudem deren einziger Verwaltungsrat.

    Am 3. Dezember 1990 hat Anton E. Max A. und die X. AG vor einem
Schiedsgericht eingeklagt und die Übertragung von 25 Namensaktien der
X. AG von Max A. auf ihn sowie die entsprechende Eintragung im Aktienbuch
verlangt. In diesem Verfahren beantragte Anton E., der X. AG sei ein
Prozessbeistand zu bestellen. Das Schiedsgericht setzte Anton E. Frist an,
um ein entsprechendes Gesuch bei der zuständigen Vormundschaftsbehörde
zu stellen.

    Am 9. August 1991 hatte Anton E. beim Einzelrichter in Schuldbetreibung
und Konkurs beantragt, über die X. AG ohne vorgängige Betreibung den
Konkurs zu eröffnen. Der Einzelrichter in Schuldbetreibung und Konkurs
sistierte dieses Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über das
Gesuch um Ernennung einer Beistandschaft für die X. AG.

    B.- Am 2. Dezember 1991 gelangte Anton E. mit dem Gesuch an den
Gemeinderat als Vormundschaftsbehörde, der X. AG sei ein Beistand bzw. ein
Prozessvertreter zu ernennen. Am 10. Februar 1992 wies der Gemeinderat
dieses Gesuch ab.

    Eine gegen diesen Entscheid von Anton E. eingereichte Beschwerde
wurde mit Beschluss vom 1. Juni 1992 vom Regierungsrat abgewiesen.

    Mit Entscheid vom 14. Dezember 1993 wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Nidwalden eine von Anton E. gegen den regierungsrätlichen
Beschluss erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab.

    C.- Anton E. gelangt mit Berufung an das Bundesgericht und verlangt
neben der Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides im wesentlichen die
Bestellung eines Beistands für die X. AG in den vor Schiedsgericht und
vor dem Einzelrichter in Schuldbetreibung und Konkurs hängigen Verfahren.

    Die X. AG beantragt, auf die Berufung nicht einzutreten, eventuell sei
sie abzuweisen. Das Verwaltungsgericht hat mit Hinweis auf das angefochtene
Urteil auf Gegenbemerkungen verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Berufungsbeklagte beantragt, auf das Rechtsmittel nicht
einzutreten, weil der Berufungskläger zur Berufung nicht legitimiert sei.
Er habe in keinem Zeitpunkt die von ihm behaupteten eigenen Interessen
oder die Interessen der Berufungsbeklagten namhaft gemacht, die er zu
schützen vorgebe.

    a) Jeder Anspruch auf staatlichen Rechtsschutz setzt eine Beschwer
voraus (MESSMER/IMBODEN, Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen,
Zürich 1992, S. 63; STRÄULI/MESSMER, Kommentar zur Zürcherischen
Zivilprozessordnung, Zürich 1982, N. 9 zu § 51; STAEHELIN/SUTTER,
Zivilprozessrecht, Zürich 1992, S. 249). Die formelle Beschwer ist
gegeben, wenn der Partei nicht zugesprochen worden ist, was sie beantragt
hatte. Zudem muss aber auch eine materielle Beschwer vorliegen, d.h. der
angefochtene Entscheid muss die Partei in ihrer Rechtsstellung treffen,
für sie in ihrer rechtlichen Wirkung nachteilig sein, und die Partei muss
deshalb an der Abänderung interessiert sein (ERNST HÄGI, Die Beschwer
als Rechtsmittelvoraussetzung im schweizerischen und im deutschen
Zivilprozessrecht, Diss. Zürich 1974, S. 105). Diese Voraussetzung gilt
auch für die eidgenössischen Rechtsmittel (zur Nichtigkeitsbeschwerde: BGE
107 II 506; zur staatsrechtlichen Beschwerde: 118 Ia 231 f.; zur Berufung:
111 II 1 f.; MESSMER/IMBODEN, S. 63 f.; POUDRET, Commentaire de la loi
fédérale d'organisation judiciaire, Bern 1990, N. 5.1. zu Art. 53 OG;
STRÄULI/MESSMER, N. 12 zu § 51 ZPO ZH; HÄGI, S. 123 ff.).

    Ein solches Interesse ist in aller Regel ohne weiteres gegeben, wenn
eine formelle Beschwer vorliegt. In gewissen Bereichen des Zivilrechts
bestehen aber typischerweise Ausnahmen, so beispielsweise bei der Klage
auf Aufhebung einer Stiftung nach Art. 89 Abs. 1 ZGB (BGE 99 II 256
f.) und bei der Scheidung, wenn diese aus einem anderen, als dem von
der Partei angerufenen Grund ausgesprochen worden ist (BGE 106 II 117
ff.). Demgegenüber stellte sich zwar die Frage der materiellen Beschwer bei
der Berufung, mit der eine Partei geltend machte, nur ihre Scheidungsklage
hätte gutgeheissen werden dürfen und die Widerklage des Ehegatten hätte
abgewiesen werden müssen, wenn beide Klagen gutgeheissen worden sind;
die Frage wurde bejaht (BGE 111 II 1; weitere Beispiele aus der älteren
Praxis bei HÄGI, S. 123 ff.).

    b) An der Beistandsernennung für eine andere Person kann jemand nur
ein Rechtsschutzinteresse haben, wenn ihm ein Antragsrecht zukommt. Gemäss
Art. 397 Abs. 1 ZGB gelten für das Verfahren bei der Anordnung einer
Beistandschaft die gleichen Vorschriften wie bei der Bevormundung. Von
diesem Verweis werden grundsätzlich auch die Regeln über den Kreis der
antragsberechtigten Personen erfasst (SCHNYDER/MURER, Berner Kommentar,
1984, N. 35 zu Art. 397 ZGB). Legitimiert ist von Bundesrechts wegen,
wer für die Anordnung der Beistandschaft ein rechtlich relevantes
Interesse hat. Soweit es um eine natürliche Person geht, liegt dieses
in erster Linie in den familienrechtlichen Unterhaltsansprüchen und der
Verwandtenunterstützung begründet (SCHNYDER/MURER, N. 35 zu Art. 397
ZGB). Bei der juristischen Person ist danach zu unterscheiden, wem aus
der fehlenden Vertretung ein Nachteil erwachsen kann (vgl. BGE 71 II 216
f.). Ob das kantonale Recht eine weitergehende Legitimation Privater
vorsehen kann, wie das Bundesgericht dies in einem alten Entscheid
angenommen (BGE 62 II 270), später dann aber wieder in Zweifel gezogen hat
(nicht publ. Entscheid v. 9. Juni 1987 i.S. D. und Mitbeteiligte, E. 2),
erscheint äusserst fraglich, braucht aber vorliegend nicht entschieden
zu werden. Dass hier der Kanton Nidwalden ein über das Bundesrecht
hinausgehendes Antragsrecht kennt, ist nämlich nicht dargetan.

    c) Vorliegend verlangt der Berufungskläger einen Beistand für
die Berufungsbeklagte in zwei Prozessen, die er gegen sie führt.
Unbestrittenermassen ist er durch den Entscheid der Vorinstanz formell
beschwert. Eine materielle Beschwer läge hingegen nur vor, wenn seine
eigene Rechtsstellung durch die Frage der Vertretung der Gegenpartei
betroffen wäre. Eine solche Betroffenheit besteht, soweit durch eine
unrichtige Vertretung der Gegenpartei in einem Prozess dem Berufungskläger
ein rechtlicher Nachteil entstehen könnte.

    Mit Bezug auf die gesetzliche Vertretung hat das Bundesgericht
entschieden, dass der gute Glaube in die Vertretungsmacht zu schützen
sei, wenn der Interessenkonflikt für den Dritten nicht erkennbar war
(BGE 107 II 115 f.; vgl. auch 118 II 107). Ob der Interessenkonflikt die
Vertretungsmacht überhaupt begrenzt, wenn die Vormundschaftsbehörde die
Bestellung eines Beistands ausdrücklich ablehnt, ist dabei offen gelassen
worden (BGE 107 II 113). Nur falls eine Begrenzung auch in diesem Fall
angenommen wird, stellt sich die weitere Frage, ob der Dritte auf den
Entscheid der Vormundschaftsbehörde vertrauen darf, wenn er selber am
Fehlen eines Interessenkonflikts zweifelt.

    Diese Rechtsprechung kann nicht unbesehen auf das Handeln der Organe
einer juristischen Person übertragen werden, da letztere nicht nur durch
die rechtsgeschäftlichen Handlungen ihrer Organe verpflichtet wird,
sondern auch durch deren sonstiges Verhalten (Art. 55 Abs. 2 ZGB). Bei
der Aktiengesellschaft kann der zur Vertretung befugte Verwaltungsrat im
Namen der Gesellschaft alle Rechtshandlungen vornehmen, die der Zweck
der Gesellschaft mit sich bringen kann (Art. 718a Abs. 1 OR). Nach
Art. 718a Abs. 2 OR kann diese Vertretungsmacht zwar beliebig auch mit
Wirkungen gegenüber Dritten beschränkt werden, eine Beschränkung der
Vertretungsbefugnis hat aber gegenüber Gutgläubigen keine Wirkung,
wenn sie nicht im Handelsregister eingetragen ist (vgl. BÖCKLI, Das
neue Aktienrecht, Zürich 1992, Rz. 1580). Wohl hat der Gesetzgeber
dabei in erster Linie an Einschränkungen der Zuständigkeit von
Organen auf bestimmte Teilbereiche einer Gesellschaft gedacht. Dieser
Gutglaubensschutz muss aber dem Dritten auch zukommen, wenn es um die Frage
der Interessenkollision geht. Eine Beschränkung der Vertretungsmacht
liegt regelmässig bei Insichgeschäften vor, wenn die Gefahr einer
Interessenkollision besteht und nicht eine besondere Ermächtigung der
dafür zuständigen Organe gegeben ist. In einem neueren Aufsatz vertritt
ZOBL die Meinung, dass diese Beschränkung der Vertretungsmacht nicht auf
die übrigen Fälle der Interessenkonflikte übertragen werden könne (ZOBL,
Probleme der organschaftlichen Vertretungsmacht, ZBJV 1989, S. 305 f.).
Allerdings will dieser Autor dann doch wieder geprüft haben, ob der
Vertreter gestützt auf das Innenverhältnis zum Abschluss des fraglichen
Geschäfts befugt gewesen ist (ZOBL, S. 307). Im Innenverhältnis kann aber
der Interessenkonflikt Grund für eine Beschränkung der Vertretungsmacht
darstellen. Rechtsklarheit und -sicherheit verlangen jedoch, dass Dritte
sich auf die im Handelsregister eingetragene Vertretungsmacht verlassen
können. Ein Gutglaubensschutz muss von daher auch bestehen, wenn der
Dritte zwar die Möglichkeit eines Interessenkonflikts erkannt hat, ihm
aber das dafür zuständige Organ der juristischen Person beziehungsweise
die für eine Beistandsernennung zuständige Vormundschaftsbehörde das
Bestehen der Vertretungsmacht bestätigt hat.

    Muss sich die Gesellschaft die Handlungen ihres Verwaltungsrates in
den beiden Prozessen entgegenhalten lassen, für die der Berufungskläger die
Beistandsernennung beantragt, so kann diesem aus dem Fehlen eines Beistands
auch kein Nachteil erwachsen. Insofern ist er nicht im dargelegten Sinne
materiell beschwert.

    Eine materielle Beschwer des Berufungsklägers lässt sich auch nicht aus
dessen Aktionärsstellung ableiten. Wohl kann in der Regel die Vertretung
durch einen Verwaltungsrat, dessen Interessen mit jenen der Gesellschaft
kollidieren, zu einem Schaden führen, der - wenigstens indirekt - auch
die Aktionäre trifft. Handelt es sich aber um einen Prozess zwischen der
Gesellschaft und einem Aktionär, so kann letzterer nicht geltend machen,
es entstehe der Gesellschaft und damit auch ihm ein Schaden, wenn diese
den Prozess verliere. Ein entsprechender Prozessausgang bedeutet ja
sein Obsiegen.

    Es fehlt damit an einer Beschwer, weshalb auf die Berufung nicht
einzutreten ist.