Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 II 47



120 II 47

12. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 19. Januar 1994 i.S. G.
und R. SA gegen Berner Oberlandbahnen AG (Berufung) Regeste

    Aktiengesellschaft; wohlerworbenes Recht (Art. 646 aOR); Vertretung der
Aktienkategorien im Verwaltungsrat (Art. 708 Abs. 4 aOR, Art. 709 Abs. 1
und Art. 762 OR).

    Das Vorschlagsrecht der Stammaktionäre für einen Verwaltungsrat aus
ihren Reihen ist kein wohlerworbenes Recht im Sinne von Art. 646 aOR
(E. 2b).

    Verhältnis von Art. 709 Abs. 1 zu Art. 762 OR. Das Entsendungsrecht
des Gemeinwesens von Vertretern in den Verwaltungsrat einer
gemischtwirtschaftlichen Aktiengesellschaft begründet keinen Anspruch
der Privataktionäre auf ein Vorschlagsrecht für einen Vertreter im
Verwaltungsrat (E. 2c - d).

Sachverhalt

    A.- Die Berner Oberlandbahnen AG (nachfolgend Beklagte) ist eine
gemischtwirtschaftliche Aktiengesellschaft. Die Mehrheit ihrer Aktien wird
von der Eidgenossenschaft und vom Kanton Bern gehalten. G. und die R. SA
(nachfolgend Kläger) halten zusammen ein Aktienpaket in der Grössenordnung
von 10% des Stimmrechts.

    Aufgrund von früheren Sanierungen existierten bei der Beklagten
zwei Gruppen von Aktien, die Stamm- und die Prioritätsaktien,
mit unterschiedlichen Besitzverhältnissen. Die Kläger besassen mehr
Stammaktien als die öffentliche Hand, während die im Zuge der Sanierungen
geschaffenen Prioritätsaktien von Bund und Kanton deutlich kontrolliert
wurden. Die Prioritätsaktien unterschieden sich von den Stammaktien
einzig bezüglich Gewinnausschüttung und Verwendung eines allfälligen
Liquidationserlöses. Eine Dividende wurde letztmals 1930 ausgeschüttet.

    B.- An den ausserordentlichen Generalversammlungen
der Prioritätsaktionäre sowie aller Aktionäre der Beklagten vom
21. November 1990 wurde die Vereinheitlichung der Aktienkategorien und
damit zusammenhängend die redaktionelle Änderung von Art. 17 Abs. 3
der Statuten in die ursprüngliche Fassung beschlossen, worin von einem
Vorschlagsrecht der Stamm- und Prioritätsaktionäre für die Bestellung je
eines Verwaltungsrates jeder Gruppe wiederum abgesehen wurde.

    C.- Mit Klage vom 25. April 1991 ersuchten die Kläger um Aufhebung der
durch die beiden Generalversammlungen verabschiedeten Statutenrevision
und um Verpflichtung der Beklagten, Art. 17 Abs. 3 der Statuten derart
zu ändern, dass die Prioritäts- und Stammaktionäre, aber auch die
Privataktionäre (im Unterschied zur öffentlichen Hand) in Anwendung
von Art. 708 Abs. 4 aOR das Recht hätten, durch Mehrheitsbeschluss je
einen Aktionär der Generalversammlung zur Wahl in den Verwaltungsrat
vorzuschlagen. Der Appellationshof des Kantons Bern, III. Zivilkammer,
wies mit Urteil vom 27. Mai 1993 die Klage ab.

    Das Bundesgericht weist die Berufung der Kläger ab und bestätigt den
angefochtenen Entscheid.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Kläger machen geltend, die Vereinheitlichung der
Aktienkategorien verletze ihre wohlerworbenen Aktionärsrechte
im Sinne von Art. 646 aOR. Dadurch werde ihre Rechtsstellung als
Stammaktionäre beeinträchtigt, da ihnen das Vorschlagsrecht bezüglich
der Bestellung des Verwaltungsrates gemäss Art. 17 Abs. 3 der Statuten
entzogen werde. Überdies komme ihnen als Stammaktionäre angesichts der
bestehenden Besitzverhältnisse die Funktion einer Sondergruppe zu, die als
Aktionärgruppe mit unterschiedlicher Rechtsstellung nach Art. 709 Abs. 1
OR bzw. Art. 708 Abs. 4 aOR ein zwingendes Recht zur Stellung mindestens
eines Vertreters im Verwaltungsrat habe. Dies gelte umso mehr, als die
Beklagte als gemischtwirtschaftliche Aktiengesellschaft der öffentlichen
Hand ein Entsendungsrecht zugestehe.

    b) Wohlerworbene Aktionärsrechte können den Aktionären ohne ihre
Zustimmung nicht entzogen werden. Als wohlerworben gelten jene Rechte,
die nach Vorschrift des Gesetzes oder der Statuten von den Beschlüssen der
Generalversammlung und der Verwaltung unabhängig sind oder dem Recht auf
Beteiligung an der Generalversammlung entspringen. Dazu gehören namentlich
die Mitgliedschaft, das Stimmrecht, das Recht zur Anfechtung, das Recht auf
Dividende und das Recht auf Anteil am Liquidationsergebnis (Art. 646 aOR).

    Die Aufzählung der wohlerworbenen Rechte in Art. 646 Abs. 3 aOR
hat lediglich beispielhaften Charakter. Grundsätzlich existiert kein
Anspruch auf die jederzeitige Beibehaltung der Aktienkategorien;
Art. 654 aOR sieht namentlich die Ausgabe von Vorzugsaktien mit
entsprechenden Vorrechten (BGE 99 II 55 E. 3 S. 60), implizit aber
auch deren Aufhebung vor (vgl. SCHUCANY, Kommentar zum Schweizerischen
Aktienrecht, 2. Aufl. 1960, N. 5 zu Art. 654 aOR). Infolgedessen gehören
auch nicht zu den wohlerworbenen Rechten die Sonderrechte, das heisst
die Vorrechte einzelner Aktionäre, wie z.B. das Recht einer Gemeinde als
Aktionärin auf Vertretung im Verwaltungsrat (BGE 51 II 330 E. 6 S. 341),
oder die Sonderrechte von Aktionärgruppen, wie z.B. die Vorrechte aus
Prioritätsaktien (FRITZ VON STEIGER, Das Recht der Aktiengesellschaft, S.
174; SCHUCANY, aaO, N. 2 zu Art. 646 aOR). Als wohlerworbenes Recht wird
dagegen das Recht jeder Aktienkategorie auf Vertretung in der Verwaltung
bezeichnet (Art. 709 Abs. 1 OR, Art. 708 Abs. 4 aOR; SCHUCANY, aaO, N. 6
lit. q zu Art. 646 aOR). Ob und in welchem Umfang ein Aktionärsrecht
entzogen oder beschränkt werden kann, ist jeweils unter Abwägung aller
Interessen zu bestimmen (VON GREYERZ, SPR VIII/2, S. 170).

    Nach den verbindlichen und unbestrittenen Feststellungen der
Vorinstanz kamen die Vorzugsrechte der Prioritätsaktionäre seit dem
Jahre 1930 nicht mehr zum Tragen; eine Dividende sei damals letztmals
ausgeschüttet worden. Es bestand damit seither eine faktische
Gleichstellung zwischen den Prioritäts- und den Stammaktionären. Die
Vereinheitlichung der Aktienkategorien war somit lediglich Folge der
faktischen Verhältnisse und durchaus rechtmässig (Art. 654 Abs. 3
aOR). Sieht die gesetzliche Ordnung die Möglichkeit der Schaffung,
Abänderung und Aufhebung von Aktienkategorien vor, ist zwangsläufig auch
die Aufhebung von akzessorischen Sonderrechten, die nur mit Zustimmung
der Vorzugsaktionäre erfolgen kann, möglich und stellen solche Vorrechte
somit keine wohlerworbenen Rechte dar, sofern die Statuten nichts anderes
bestimmen. Selbst die Abwägung der gegenseitigen Interessen an der
Aktienvereinheitlichung vermag im vorliegenden Fall an diesem Ergebnis
nichts zu ändern. Mithin erscheinen die Interessen der Beklagten, eine
den faktischen Verhältnissen entsprechende Ordnung herbeizuführen sowie
allfällige weitere Sanierungsmassnahmen zu erleichtern, als auch das hinter
ihrem Zweck stehende öffentliche Interesse durchaus verständlich. Worin
die von den Klägern behaupteten Sonderinteressen bzw. die ihnen als
Stammaktionäre zukommende Sonderfunktion liegen sollen, legen diese
indessen nicht dar. Eine Verletzung von Art. 646 aOR ist der Vorinstanz
jedenfalls nicht vorzuwerfen.

    c) Bestehen in bezug auf das Stimmrecht oder die vermögensrechtlichen
Ansprüche mehrere Kategorien von Aktien, so ist durch die Statuten
den Aktionären jeder Kategorie die Wahl wenigstens eines Vertreters im
Verwaltungsrat zu sichern (Art. 709 Abs. 1 OR, Art. 708 Abs. 4 aOR).

    Unterschiede zwischen Aktiengruppen beruhen auf einer in den
Statuten festgelegten Dotierung an mitgliedschaftlichen Rechten für
bestimmte Aktien (ZK-BÜRGI, N. 48 zu Art. 708 aOR; ZK-SIEGWART, N. 4
ff. zu Art. 654-56 aOR). Durch die Aktienrechtsrevision wurden diese
Rechte insoweit konkretisiert, als Art. 709 Abs. 1 OR namentlich das
Stimmrecht und die vermögensrechtlichen Ansprüche nennt. Der Begriff
der Aktienkategorie blieb unverändert, weshalb auf die Rechtsprechung
und Literatur zu Art. 708 Abs. 4 aOR abgestellt werden kann. Es gilt
weiterhin der Grundsatz der engen Auslegung dieses Begriffs. Dabei
sind unter "einzelnen Gruppen" solche von Aktionären mit verschiedener
Rechtsstellung und unter "Minderheiten" solche von Aktionären gleicher
Rechtsstellung zu verstehen (BGE 95 II 555 E. 5 S. 566). Ein Recht
auf Sicherung eines Verwaltungsratssitzes besteht dabei nicht, wenn die
Aktionäre nur nach der Interessenlage, nicht nach ihrer Rechtsstellung in
verschiedene Gruppen eingeteilt sind (FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ, Einführung
in das schweizerische Aktienrecht, 3. Aufl., S. 239 N. 20). Vielmehr liegt
ein Unterschied in der Aktienkategorie nur dann vor, wenn die Vorrechte
in den Statuten ausdrücklich vorgesehen und festgelegt sind sowie einen
tatsächlichen und länger dauernden Unterschied in der Rechtsstellung
verursachen (ZK-BÜRGI, N. 51 zu Art. 708 aOR).

    d) Die Statuten können Körperschaften des öffentlichen Rechts die
Befugnis einräumen, Vertreter in die Verwaltung oder in die Revisionsstelle
abzuordnen, ohne dass das Gemeinwesen Aktionär zu sein braucht (Art. 762
Abs. 1 OR). Die Vertreter des Gemeinwesens geniessen die gleichen Rechte
und Pflichten wie die übrigen Aktionäre, mit Ausnahme der Haftung des
Gemeinwesens anstelle der persönlichen Haftung des Verwaltungsratsmitglieds
(ZK-BÜRGI/NORDMANN-ZIMMERMANN, N. 20 ff. zu Art. 762 aOR; SCHÜRMANN, Das
Recht der gemischtwirtschaftlichen und öffentlichen Unternehmungen mit
privatrechtlicher Organisation, ZSR 72/1953, S. 65a ff., 186a). Art. 762
OR entspricht - mit Ausnahme redaktioneller Änderungen, namentlich der
Streichung der Befreiung von der Aktienhinterlegungspflicht infolge
Abschaffung der Pflichtaktien - Art. 762 aOR.

    Nach VON GREYERZ (SPR VIII/2, S. 312) begründet das Entsendungsrecht
des Gemeinwesens nach Art. 762 OR von Vertretern in den Verwaltungsrat
gemischtwirtschaftlicher Aktiengesellschaften einen Anspruch der
privaten Minderheitsaktionäre auf ein verbindliches Vorschlagsrecht
für eine bestimmte Anzahl von Vertretern. Die im Eigentum der
Privaten stehenden Aktien müssten diesfalls im Ergebnis als solche
mit besonderer Rechtsstellung angesehen werden, da ihnen bei der
Bestellung des Verwaltungsrates insoweit kein Stimmrecht zukomme, als
er aus Staatsvertretern zusammengesetzt sei. Gegenteiliger Meinung
ist MICHAEL STÄMPFLI (Die gemischtwirtschaftliche Aktiengesellschaft,
Diss. Bern 1991, S. 141). Art. 762 OR verfolge eine andere Interessenlage
als Art. 708 Abs. 4 aOR (bzw. Art. 709 Abs. 1 OR). Die Interessen der
Minderheitsaktionäre könnten höchstens faktisch durch das Entsendungsrecht
des Gemeinwesens bedroht sein, aber nicht rechtlich, da die Vertreter
des Gemeinwesens den gleichen Pflichten unterständen wie ein normaler
Aktionär. Eine allfällige Gefährdung der Minderheitsinteressen werde
indessen durch die Haftung des Gemeinwesens ausgeglichen. Überdies
könne das Gemeinwesen immer dann den Verwaltungsrat im gewöhnlichen
Wahlverfahren in der Generalversammlung zur Gänze allein bestimmen,
wenn es über die Mehrheit der Stimmen verfüge. Dieselbe Mehrheit würde
es dem Gemeinwesen aber auch gestatten, sich ein Entsendungsrecht nach
Art. 762 OR einzuräumen (STÄMPFLI, aaO, S. 142). Zum selben Ergebnis
führt die Auffassung von BÜRGI/NORDMANN-ZIMMERMANN, wonach Art. 762 aOR
eine lex specialis zum ganzen Aktienrecht, insbesondere zu Art. 646 aOR,
darstelle (ZK-BÜRGI/NORDMANN-ZIMMERMANN, N. 14 zu Art. 762 aOR). Aus dieser
Ansicht ergibt sich, dass die Privataktionäre nicht geltend machen können,
ihr Vorschlagsrecht für einen Vertreter in den Verwaltungsrat sei nach
Art. 646 aOR verletzt. Folgerichtig derogiert Art. 762 OR auch Art. 709
Abs. 1 OR bzw. Art. 708 Abs. 4 aOR.

    Den letztgenannten Auffassungen ist beizupflichten. Mit STÄMPFLI
(aaO) ist davon auszugehen, dass für die Verneinung einer besonderen
Aktienkategorie der Privataktionäre gegenüber den Aktionären der
öffentlichen Hand wesentlich die Auferlegung der gleichen Rechte
und Pflichten ist. Deren Rechtsstellung unterscheidet sich damit
nicht von jener der privaten Aktionäre, was für die Bestellung eines
Gruppenvertreters nach Art. 709 Abs. 1 OR erforderlich wäre. Infolgedessen
kann offenbleiben, ob - nach Auffassung von BÜRGI/NORDMANN-ZIMMERMANN
(aaO) - Art. 762 OR als lex specialis Art. 709 OR derogiert.

    Im übrigen könnte die Frage, ob das Entsendungsrecht des Gemeinwesens
ein Vorschlagsrecht der Privataktionäre begründe, im vorliegenden Fall
ohnehin offenbleiben, da Art. 709 Abs. 1 OR einen Kategorien- und nicht
einen Minderheitenschutz beinhaltet und allein aus der Tatsache, dass es
Minderheitsaktionäre gibt, kein Anspruch auf Vertretung im Verwaltungsrat
abgeleitet werden kann. Nach der Struktur des schweizerischen Aktienrechts
spielt es keine Rolle, ob der Mehrheitsaktionär eine Person des privaten
oder des öffentlichen Rechts ist. Im vorliegenden Fall ist unbestritten,
dass die Schweizerische Eidgenossenschaft und der Kanton Bern die
Mehrheit des Aktienkapitals der Beklagten vertreten und daher mit ihrer
Stimmenmehrheit entscheidenden Einfluss auf die Zusammensetzung des
Verwaltungsrats haben. Die Kläger als Minderheitsaktionäre aber haben als
solche keinen Anspruch auf Vertretung im Verwaltungsrat. Überdies können
die Kläger auch nichts aus dem von ihnen zitierten unveröffentlichten
Bundesgerichtsentscheid vom 24. September 1960 i.S. Ferrovie Regionali
Ticinesi gegen T. und R. ableiten. Das Bundesgericht verneinte dort
vielmehr, dass zwischen der öffentlichen Hand als Aktionär eines
gemischtwirtschaftlichen Unternehmens sowie den Privataktionären ein
rechtlicher Unterschied bestehe, welcher einen Kategorienschutz nach
Art. 708 Abs. 4 aOR begründen würde (E. 1). Ferner unterscheidet sich
dieser Fall insoweit vom vorliegenden, als es dort um die Frage ging, ob
die Abschaffung des ursprünglich statutarisch vorgesehenen Vorschlagsrechts
der Privataktionäre für einen Verwaltungsrat aus ihren Reihen eine
Verletzung von Art. 708 Abs. 5 OR und damit eines wohlerworbenen
Rechts nach Art. 646 aOR darstelle (E. 2-4). Die vorliegend streitige
Statutenbestimmung sieht demgegenüber ein Vorschlagsrecht der Stamm- und
nicht der Privataktionäre vor. Der zu beurteilende Sachverhalt ist demnach
nicht der Gleiche. Nach dem Gesagten ist eine Bundesrechtsverletzung
zu verneinen.