Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 II 384



120 II 384

70. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 21. November 1994 i.S.
E. und B. gegen Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen
Bern (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Wiederherstellung der elterlichen Gewalt (Art. 44 OG, Art.  313 ZGB,
Art. 8 EMRK).

    Gegen den Entscheid, die elterliche Obhut nicht wiederherzustellen,
ist die Berufung nicht gegeben (E. 4b und 4c).

    Jede Anordnung oder Abänderung von Kindesschutzmassnahmen setzt in
einem gewissen Ausmass eine Prognose über die künftige Entwicklung der
massgebenden Umstände voraus (E. 4d).

    Die Aufhebung der elterlichen Obhut stellt einen schweren Eingriff in
das Familien- und Privatleben im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK dar (E. 5).

Sachverhalt

    A.- Am 12. Februar 1991 entzog die Fürsorge- und
Vormundschaftskommission Bolligen E. und H. die elterliche Obhut
über ihre 1987 geborene Tochter B. Dieser Beschluss wurde indessen
vorerst nicht vollzogen. Erst am 1. Juli 1993 ordnete die Fürsorge- und
Vormundschaftskommission Bolligen die Unterbringung von B. in der Kinder-
und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universität Bern, Neuhaus, an.

    B.- E. beantragte am 20. Januar 1994 die Entlassung ihrer Tochter
B. aus der Klinik und die provisorische Wiederherstellung der elterlichen
Obhut. Die Fürsorge- und Vormundschaftskommission Bolligen lehnte dieses
Gesuch mit Verfügung vom 15. Februar 1994 ab. E. wandte sich daraufhin an
die kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen,
welche ihren Rekurs am 18. Mai 1994 abwies.

    C.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 14. Juli 1994 beantragt E. für
sich und ihre Tochter B., den Entscheid der kantonalen Rekurskommission
für fürsorgerische Freiheitsentziehungen vom 18. Mai 1994 aufzuheben.

    Die Fürsorge- und Vormundschaftskommission Bolligen hat sich zur
staatsrechtlichen Beschwerde nicht vernehmen lassen.

    Die kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen
hat in ihrer Stellungnahme auf einen formellen Antrag verzichtet.

    E. gelangt in gleicher Sache für sich und ihre Tochter B. mit Berufung
an das Bundesgericht.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Im weitern rügt die Beschwerdeführerin, die kantonale
Rekurskommission habe Art. 313 ZGB willkürlich angewendet.

    a) Aus der Subsidiarität der staatsrechtlichen Beschwerde folgt,
dass die willkürliche Anwendung von Bundesrecht in diesem Verfahren nur
gerügt werden kann, wenn die behauptete Rechtsverletzung nicht sonstwie
beim Bundesgericht geltend gemacht werden kann (Art. 84 Abs. 2 OG). Die
Verletzung von Bundesrechts ist grundsätzlich mit Berufung geltend
zu machen (Art. 43 Abs. 1 OG). Ob Art. 313 ZGB allenfalls willkürlich
angewendet worden ist, kann somit im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren
nur geprüft werden, wenn der angefochtene Entscheid nicht auch der
Berufung unterliegt.

    b) Die in Art. 44 OG enthaltene Aufzählung der nicht
vermögensrechtlichen Zivilrechtsstreitigkeiten, die der Berufung zugänglich
sind, ist abschliessend (BGE 118 Ia 473 E. 2a S. 475). Sie enthält die
Fälle der fürsorgerischen Freiheitsentziehung (lit. f), nicht aber den
Entzug und die Wiederherstellung der elterlichen Obhut. Weil Art. 44
lit. f OG nicht nur auf die Art. 397a-397f ZGB, sondern auch auf Art. 310
Abs. 1 und 2 und Art. 314a ZGB verweist, ist die Berufung gegeben, wenn
es um die Unterbringung eines Kindes in einer Anstalt geht. Hingegen
ist die Berufung nicht zulässig, wenn damit einzig die Aufhebung der
elterlichen Obhut beseitigt werden soll (BGE 109 II 388 E. 1 S. 389;
SCHNYDER, ZBJV 1985, S. 99 ff.). Allerdings wird der Obhutsentzug und die
Unterbringung in einer Anstalt nur selten in zwei getrennten Entscheiden
angeordnet werden (so in BGE 109 II 388 E. 2 S. 389). Werden beide
Massnahmen ihrem innern Zusammenhang entsprechend gemeinsam verfügt,
so hängt die Berufungsfähigkeit von der im Rechtsmittel aufgeführten
Begründung ab, wie dies das Bundesgericht bereits 1984 festgehalten hat
(unveröffentlichtes Urteil vom 28. Juni 1984 i.S. M.).

    c) Die Beschwerdeführerin wendet sich im vorliegenden Verfahren
dagegen, dass das Kind B. nicht bei ihr aufwachse. Schon im kantonalen
Verfahren versuchte sie nachzuweisen, dass sich ihre eigene Lebenssituation
wesentlich verbessert habe und deshalb kein Grund zur Fremdplazierung ihrer
Tochter mehr bestehe. Sie wehrt sich damit nicht gegen die Unterbringung
des Kindes in einem Heim statt bei ihr, sondern dagegen, dass ihre
elterliche Obhut nicht wiederhergestellt werde. Die Berufung ist in einem
solchen Fall nicht gegeben, womit die Rüge, Art. 313 ZGB sei willkürlich
angewendet worden, im vorliegenden Beschwerdeverfahren zu behandeln ist.

    d) Verändern sich die Verhältnisse, so sind die Massnahmen zum Schutze
des Kindes der neuen Lage anzupassen (Art. 313 Abs. 1 ZGB). Erweist
sich eine Massnahme in der bisherigen Form als nicht mehr nötig, ist sie
aufzuheben oder durch eine mildere zu ersetzen (HEGNAUER, Grundriss des
Kindesrechts, 4.A. Bern 1994, Rz. 27.50). Die angeordneten Massnahmen
können, abgesehen von der Entziehung der elterlichen Gewalt (Art. 313
Abs. 2 ZGB), zwar jederzeit abgeändert werden. Dennoch setzt jede Anordnung
oder Abänderung von Kindesschutzmassnahmen in einem gewissen Ausmass
eine Prognose über die künftige Entwicklung der massgebenden Umstände
voraus. Diese wird durch das bisherige Verhalten der betroffenen Personen
wesentlich mitbestimmt. Die Veränderung der Verhältnisse kann überdies
nur unter Einbezug der seinerzeitigen Umstände beurteilt werden. Die
kantonale Rekurskommission anerkennt zwar den Wandel im Verhalten
der Beschwerdeführerin und ihres Partners, wobei sie die familiären
Verhältnisse aber noch nicht als genügend stabil erachtet. In dieser Art,
von der Vergangenheit auf die künftige Entwicklung zu schliessen, ist -
jedenfalls unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür - nichts zu
beanstanden; die von der Beschwerdeführerin erhobene Rüge erweist sich
damit als unbegründet.

Erwägung 5

    5.- Schliesslich rügt die Beschwerdeführerin, der angefochtene
Entscheid verletze Art. 8 EMRK.

    a) Art. 8 Ziff. 2 EMRK lässt staatliche Eingriffe in das Recht
auf Achtung des Privat- und Familienlebens zu, wenn diese gesetzlich
vorgesehen sind und eine Massnahme darstellen, die in einer demokratischen
Gesellschaft zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig
sind. Diese Bestimmung ermächtigt die Vertragsstaaten namentlich, eine
Trennung des Kindes von seinen Eltern vorzunehmen, wenn sich diese als
unfähig erweisen, ihre Erziehungsfunktion auszuüben (VILLIGER, Handbuch
der Europäischen Menschenrechtskonvention, Zürich 1993, Rz. 561 f.). Die
gesetzliche Grundlage für diesen schweren Eingriff in die Rechte der
Eltern ist in der Schweiz durch Art. 310 ff. ZGB gegeben. Dass diese
den Anforderungen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK nicht genügte, macht die
Beschwerdeführerin zu Recht nicht geltend. Das Bundesgericht könnte
aufgrund von Art. 113 Abs. 3 BV eine entsprechende Rüge auch gar nicht
behandeln.

    b) Das Bundesgericht prüft die Frage, ob der von den kantonalen
Behörden angewendete Rechtssatz für den vorgenommenen Eingriff eine
genügende gesetzliche Grundlage bietet, bei nicht besonders schweren
Eingriffen nur auf Willkür hin, während es bei schweren Eingriffen
eine freie Prüfung vornimmt (BGE 116 Ia 433 E. 3 S. 438). Diese bei der
Prüfung kantonalen Rechts entwickelte Rechtsprechung ist auch anwendbar,
wenn es um die Anwendung von Bundesrecht geht (BGE 118 Ia 72 E. 1 S. 74;
KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2.A. Bern 1994,
S. 177). Die von der kantonalen Instanz angewendete Norm stellt nämlich nur
dann eine für den Eingriff genügende Rechtsgrundlage dar, wenn sie richtig
angewendet worden ist (unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtes vom
20. Januar 1994 i.S. V.). Wo es um die Würdigung von Beweisen oder um
Ermessensentscheide kantonaler Instanzen geht, legt sich das Bundesgericht
indessen eine Zurückhaltung auf, die im Ergebnis einer Willkürprüfung
gleichkommt (BGE 118 Ia 473 E. 6c S. 483; 101 Ia 252 E. 3c S. 257).

    c) Die Aufhebung der elterlichen Obhut und die Fremdplazierung eines
Kindes stellen einen schweren Eingriff in die Elternrechte dar. Die in
Art. 310 wie auch in Art. 313 Abs. 1 ZGB vorgeschriebene Interessenabwägung
auferlegt dem Bundesgericht indessen die beschriebene Zurückhaltung bei
der Überprüfung des kantonalen Entscheides.

    d) Zumindest unter Willkürgesichtspunkten ist der angefochtene
Entscheid nicht zu beanstanden. Die kantonale Rekurskommission hat die
Interessen sowohl der Beschwerdeführerin als auch des Kindes hinreichend
gewürdigt. Sie hat die Gefährdung des Kindeswohls aufgrund der noch
nicht hinreichend stabilisierten Familienverhältnisse als überwiegend
angesehen, was vertretbar erscheint. Sobald sich das persönliche Umfeld
der Beschwerdeführerin jedoch als tragfähig erweist, dürfte das Andauern
des Eingriffs in ihr Familien- und Privatleben (Art. 8 Ziff. 2 EMRK)
nicht mehr verhältnismässig sein.

    Die Beschwerde erweist sich somit insgesamt als unbegründet.