Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 II 248



120 II 248

47. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 29. Juli 1994 i.S. W.
gegen F. (Berufung) Regeste

    Vertragliche Arzthaftung; Beweis der Vertragsverletzung; natürliche
Vermutung.

    Natürliche Vermutung, wonach eine durch die Injektion eines Heilmittels
verursachte Infektion auf eine Sorgfaltspflichtverletzung des Arztes
zurückgeht. Auswirkungen dieser Vermutung auf Behauptungs- und Beweislast
der Parteien sowie auf den Begriff der Vertragsverletzung (E. 2c).

Sachverhalt

    A.- Frau F. suchte am 6. Juni 1986 ihren Hausarzt Dr. med. W.  wegen
Schmerzen in der rechten Schulter auf. Dieser injizierte ihr periartikulär
und drei Tage später intraartikulär eine Mischung von Xyloneural und
Monocortin. Da die Beschwerden nicht zurückgingen, injizierte er am
1. Juli 1986 erneut intraartikulär ein Cortisonpräparat. Am 5. August
1986 überwies der Hausarzt die nach wie vor unter grossen Schmerzen
leidende Patientin an einen Spezialarzt für orthopädische Chirurgie am
Regionalspital X. zur weiteren Behandlung. Dort unterzog sie sich am
2. September 1986 einer Mobilisation der rechten Schulter. Am 6. November
1986 musste das rechte Schultergelenk operativ revidiert werden. Bei diesem
Eingriff stellte sich heraus, dass der Oberarmkopf und die Gelenkpfanne
des rechten Schultergelenkes zufolge einer Infektion weitgehend zerstört
waren. Wegen der schmerzhaften, praktisch funktionsunfähigen Schulter
konnte Frau F. ihren Beruf als selbständige Damenschneiderin in der Folge
nicht mehr ausüben. Sie ist seither teilweise arbeitsunfähig und wird
dies zeitlebens bleiben.

    Am 20. Februar 1991 reichte Frau F. beim Appellationshof des
Kantons Bern Klage gegen W. ein. Der Appellationshof liess im Rahmen
des Beweisverfahrens ein medizinisches Gutachten ausarbeiten und nahm
mehrere, bereits vorprozessual erstellte Gutachten zu den Akten. Mit
Urteil vom 11. Oktober 1993 verpflichtete er den Beklagten, der Klägerin
Fr. 510'260.-- zu bezahlen. Der Beklagte focht dieses Urteil mit Berufung
an, die vom Bundesgericht abgewiesen wird, soweit es auf sie eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- c) Mit den erwähnten Rügen wirft der Beklagte der Vorinstanz in
Wirklichkeit vor, sie sei von einem falschen Begriff der Vertragsverletzung
ausgegangen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die
vertragliche Sorgfaltspflicht des Arztes nach objektiven Kriterien zu
beurteilen ist. Die Frage der Vertragsverletzung muss sodann unterschieden
werden von jener des Verschuldens, das vermutet wird, falls der Arzt nicht
den Exkulpationsbeweis erbringen kann. Die Anforderungen an die ärztliche
Sorgfaltspflicht lassen sich nicht allgemeingültig festlegen; sie richten
sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalles, namentlich nach der
Art des Eingriffs oder der Behandlung, den damit verbundenen Risiken,
dem Ermessensspielraum und der Zeit, die dem Arzt zur Verfügung steht,
sowie nach Ausbildung und Leistungsfähigkeit, die objektiv von ihm zu
erwarten sind. Zu beachten ist, dass die Haftung des Arztes nach der
neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht auf grobe Verstösse gegen
Regeln der ärztlichen Kunst beschränkt ist. Er hat Kranke vielmehr stets
fachgerecht zu behandeln, zum Schutz ihres Lebens oder ihrer Gesundheit
die nach den Umständen gebotene und zumutbare Sorgfalt aufzuwenden und
grundsätzlich für jede Pflichtverletzung einzustehen (BGE 116 II 519
E. 3a S. 521 mit Hinweis, 115 Ib 175 E. 2b S. 180 mit Hinweis).

    Als Beauftragter schuldet der Arzt dem Patienten nicht die
Wiederherstellung der Gesundheit, sondern lediglich eine darauf
ausgerichtete Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst. Eine durch
die Behandlung verursachte neue gesundheitliche Beeinträchtigung ist
indessen vom blossen Ausbleiben des Behandlungserfolgs zu unterscheiden
(vgl. BGE 113 Ib 420 E. 2 S. 423 f.). Zwar kann ein solches Ergebnis nicht
an sich schon als Vertragsverletzung qualifiziert werden, da medizinische
Behandlungen und Eingriffe in einem gewissen Mass mit Risiken verbunden
sind, die auch bei Anwendung aller notwendigen Sorgfalt nicht vermeidbar
sind (HONSELL, die zivilrechtliche Haftung des Arztes, ZSR 1990 I S. 136
f.; FELLMANN, Berner Kommentar, N. 389 zu Art. 398 OR). Soweit die
Möglichkeit negativer Auswirkungen der Behandlung aber erkennbar ist,
muss der Arzt alle Vorkehren treffen, um deren Eintritt zu verhindern
(GROSS, Haftung für medizinische Behandlung im Privatrecht und im
öffentlichen Recht der Schweiz, S. 178). Deren Eintritt begründet dann
eine tatsächliche Vermutung, dass nicht alle gebotenen Vorkehren getroffen
worden sind und somit eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung vorliegt
(RASCHEIN, Widerrechtlichkeit und Verschulden in der Arzthaftpflicht,
Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung des Kantons Graubünden,
3/1989, S. 64). Diese Vermutung dient der Beweiserleichterung, hat aber
keine Umkehr der Beweislast zur Folge (vgl. BGE 117 II 256 E. 2b S. 258
mit Hinweisen). Die daraus gezogenen Schlüsse stellen grundsätzlich
Beweiswürdigung dar, weshalb sie im Berufungsverfahren nicht überprüft
werden. Die Vermutung kann vom Arzt erschüttert werden, indem er zum
Beispiel dartut, welche konkreten Vorkehren er im einzelnen getroffen
hat, und nachweist, dass nach dem aktuellen Stand der medizinischen
Wissenschaft auch bei Anwendung aller Sorgfalt ein nicht beherrschbares
Restrisiko verbleibt oder eine ernstzunehmende konkrete Möglichkeit
eines atypischen Kausalverlaufs besteht (vgl. FELLMANN, Berner Kommentar,
N. 389 zu Art. 398 OR; GIESEN, Arzthaftungsrecht, S. 219).

    Eine solche tatsächliche oder natürliche Vermutung liegt der
Annahme einer Vertragsverletzung im angefochtenen Urteil zugrunde. Die
festgestellte Sterilitätslücke wird als solche nicht als Vertragsverletzung
qualifiziert. Vielmehr wird daraus im Sinne einer tatsächlichen Vermutung
auf das Vorliegen eines Sterilitätsfehlers geschlossen. Dieser Schluss
kann hier, wie bereits festgehalten, nicht überprüft werden. Im übrigen
wäre er aber auch dann nicht zu beanstanden, wenn er auf allgemeiner
Lebenserfahrung beruhen würde und deshalb mit der Berufung anfechtbar wäre
(BGE 118 II 366). Dass bei Injektionen das Risiko einer Infektion besteht,
ist allgemein bekannt. Besonders ernst zu nehmen ist die Infektionsgefahr
nach den Feststellungen der Vorinstanz bei intraartikulären Injektionen,
weshalb in diesen Fällen die Regeln der Asepsis peinlich genau zu befolgen
seien. Unter diesen Umständen erscheint der Schluss auf einen Fehler des
Beklagten bei der Sterilisation als naheliegend. In der Literatur wird
denn auch befürwortet, bei solchen Sachverhalten allgemein einen Fehler
des Arztes zu vermuten (JOËL CRETTAZ, De l'inexécution des obligations
contractuelles du médecin: Quelques aspects, Diss. Lausanne 1990,
S. 184; vgl. dazu auch das Urteil des BGH vom 14. Februar 1989 in
NJW 1989, 1533 ff.). Die Vorinstanz durfte somit von einer objektiven
Sorgfaltspflichtverletzung des Beklagten ausgehen, obwohl sein Vorgehen
bei der Injizierung der Cortison-Präparate nicht in allen Einzelheiten
beweismässig abgeklärt werden konnte. Anzumerken ist allerdings, dass
die hier zur Diskussion stehende natürliche Vermutung nicht ohne weiteres
übertragen werden darf auf Infektionsfälle, die mit einer anders gearteten
ärztlichen Behandlung zusammenhängen (vgl. dazu KUHN, in Handbuch des
Arztrechts, S. 90 und 99).

    Mit der Berufung wird eingewendet, das Einbringen von
Staphylokokken-Keimen ins Gewebe könne bei jeder Injektion eines
beliebigen Medikamentes auftreten. Dies ist jedoch nicht entscheidend. Um
die natürliche Vermutung zu erschüttern, hätte der Beklagte dartun
müssen, dass er alle Vorkehren getroffen hatte, die nach den Regeln
der ärztlichen Kunst bei der Vornahme peri- und intraartikulärer
Injektionen von Cortison-Präparaten geboten sind, und dass selbst bei
Anwendung dieser Sorgfalt eine Infektion solcher Art nicht vermieden
werden konnte. Darüber enthält das angefochtene Urteil nichts, und der
Beklagte macht auch keinerlei Hinweise auf entsprechende Vorbringen im
kantonalen Verfahren. In der gerichtlichen Expertise wird zwar erwähnt,
Komplikationen der aufgetretenen Art könnten sich mit einer Häufigkeit von
etwa 1:10'000 ergeben. In wie vielen dieser Fälle mit Komplikationen eine
Verletzung der Sorgfaltspflicht vorliegt, wird aber nicht gesagt und ist
offenbar auch nicht untersucht worden. Es ist deshalb nicht dargetan,
dass es sich bei der angegebenen statistischen Wahrscheinlichkeit um
das auch bei aller Sorgfalt nach dem aktuellen Stand der medizinischen
Wissenschaft nicht beherrschbare Risiko handelt. Wenn die Vorinstanz
deshalb aus der Verursachung der Infektion im Schultergelenk durch die
Cortisoninjektionen auf eine Vertragsverletzung des Beklagten geschlossen
hat, kann ihr nicht vorgeworfen werden, sie sei von einem unzutreffenden
Begriff der Vertragsverletzung ausgegangen.