Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 II 191



120 II 191

36. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 23. Juni 1994 i.S. H.
gegen A. Versicherungen (Berufung) Regeste

    Bösgläubiger Besitz einer beweglichen Sache; besitzesrechtlicher
Schadenersatzanspruch infolge bösgläubigen Besitzes; Subrogation in die
Verantwortlichkeitsansprüche (Art. 934 Abs. 1 und Art. 940 Abs. 1 ZGB;
Art. 72 Abs. 1 VVG).

    Der besitzesrechtliche Schadenersatzanspruch des Berechtigten gegenüber
dem bösgläubigen Besitzer besteht neben dem Anspruch auf Herausgabe
der Sache; er ist quasi-akzessorischer Natur und kann immer dann geltend
gemacht werden, wenn der Herausgabeanspruch gegeben ist oder einmal gegeben
war. Der Berechtigte kann die Verantwortlichkeitsansprüche gegenüber jedem
Herausgabepflichtigen für die Zeit geltend machen, während der dieser die
Sache in bösem Glauben besitzt oder besessen hat. Vorenthaltung im Sinne
von Art. 940 Abs. 1 ZGB setzt grundsätzlich nicht voraus, dass die Sache
vom Berechtigten bereits herausverlangt worden ist. Es genügt vielmehr,
dass eine Pflicht zur Herausgabe besteht (E. 3c/aa).

    Die Anwendung von Art. 940 Abs. 3 ZGB, wonach der Besitzer nur für
den Schaden haftet, den er verschuldet hat, solange ihm nicht bekannt
ist, an wen er die Sache herausgeben soll, ist ausgeschlossen, wenn
der bösgläubige Besitzer den Berechtigten mittels nach Treu und Glauben
zumutbarer Ermittlungen ohne weiteres ausfindig machen kann (E. 3c/cc).

    Die Verantwortlichkeitsansprüche aus Art. 940 Abs. 1 ZGB sind
ausservertraglicher, nicht quasi-kontraktueller Natur. Sie fallen daher
unter Art. 72 Abs. 1 VVG (E. 4c).

Sachverhalt

    A.- M. G. hatte bei der M.-B. C. AG einen Mercedes 300 CE geleast,
der durch Kollektivpolice bei den A. Versicherungen kaskoversichert
war. Der Wagen wurde am 25. Oktober 1989 gestohlen und gleichentags R. H.
verkauft. Nachdem dieser am 2. November 1989 sichere Kenntnis vom Diebstahl
des Mercedes erlangt hatte, übergab er den Wagen am 10. November 1989
oder später P. D., an den er ihn weiterverkauft hatte.

    Die A. Versicherungen entschädigten die M.-B. C. AG für den Verlust
des Fahrzeugs mit Fr. 77'624.50.

    B.- Mit Urteil vom 13./21. September 1993 hiess das Obergericht
des Kantons Solothurn die Klage der A. Versicherungen teilweise gut
und verpflichtete R. H., der Versicherungsgesellschaft den Betrag von
Fr. 65'000.-- nebst Zins zu 5% seit 21. Februar 1990 zu bezahlen.

    C.- R. H. hat Berufung eingelegt mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen, eventuell die Sache
zur Tatbestandsergänzung und Neubeurteilung zurückzuweisen.

    Die Versicherungsgesellschaft schliesst auf Abweisung der Berufung,
soweit auf diese einzutreten sei.

    Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet, aber Abweisung
der Berufung beantragt. Das Bundesgericht weist die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Das Obergericht stellt in tatsächlicher Hinsicht des
weiteren fest, der Beklagte habe am 2. November 1989 sichere Kenntnis
davon erhalten, dass der Mercedes am 25. Oktober 1989 gestohlen worden
war. Ab diesem Zeitpunkt habe er den Wagen auf jeden Fall bösgläubig
besessen. Anders als für den Herausgabeanspruch nach Art. 936 ZGB sei unter
dem Blickwinkel von Art. 934 ZGB die ganze Dauer des Besitzes in Betracht
zu ziehen. Veräussere der bösgläubig gewordene Besitzer die gestohlene
Sache weiter, beurteile sich die Verantwortlichkeit nach Art. 940 ZGB.

    b) Dem hält der Beklagte entgegen, das Obergericht lasse insbesondere
unbeachtet, dass später eintretender böser Glaube für sich allein die
Herausgabepflicht nicht zu begründen vermöge; die Anwendung von Art. 940
ZGB setze in diesen Fällen voraus, dass trotz gutgläubigen Erwerbs eine
Herausgabepflicht bestehe, was als Haftungsvoraussetzung durch die Klägerin
nachzuweisen sei. Begrifflich könne es indessen keine Herausgabepflicht und
damit auch keine Vorenthaltung im Sinne von Art. 940 ZGB geben, solange
die Herausgabe nicht verlangt werde; ebensowenig könnten dementsprechend
die Nebenansprüche aus der Herausgabeklage entstehen. Da während der
Dauer seines Besitzes die Herausgabe nicht verlangt worden sei, bestehe
somit auch kein Verantwortlichkeitsanspruch. Ein solcher bestünde mangels
Verschuldens in analoger Anwendung von Art. 940 Abs. 3 ZGB ohnehin nicht,
da er in guten Treuen habe davon ausgehen dürfen, der Mercedes könne D.
herausgegeben werden, nachdem ihm die Polizei anlässlich der Einvernahme
vom 3. November 1989 nur gerade aufgetragen habe, das Fahrzeug noch
"quelques jours à disposition de la justice" zu halten, und er dann nichts
mehr gehört habe.

    c) aa) Der Besitzer, dem eine bewegliche Sache gestohlen wird,
kann diese gemäss Art. 934 Abs. 1 ZGB während fünf Jahren jedem
Empfänger abfordern. Als Erwerber des am 25. Oktober 1989 gestohlenen
und gleichentags an ihn gelangten Mercedes war der Beklagte somit ohne
jeden Zweifel zur Herausgabe verpflichtet. Zudem war er, wie das
Obergericht unwidersprochen gefolgert hat, bereits vor der Übergabe
des Wagens bösgläubig. Wer eine Sache im bösen Glauben besitzt, hat
für allen durch die Vorenthaltung verursachten Schaden sowie für die
bezogenen und versäumten Früchte Ersatz zu leisten (Art. 940 Abs. 1 ZGB).
Dieser Anspruch auf Ersatz des Schadens besteht neben demjenigen auf
Herausgabe der Sache; er ist quasi-akzessorischer Natur und kann immer dann
geltend gemacht werden, wenn der Herausgabeanspruch gegeben ist oder einmal
gegeben war. Ob die Sache bereits herausgegeben worden ist, vom Belangten
nicht herausgegeben werden kann, sei es, weil er sie weitergegeben hat,
sei es, weil sie zerstört worden ist, oder weil der Herausgabeanspruch
infolge eines Verzichts des Berechtigten auf Herausgabe entfällt,
ist belanglos; der Berechtigte kann die Verantwortlichkeitsansprüche
gegenüber jedem Herausgabepflichtigen für die Zeit geltend machen,
während der dieser die Sache in bösem Glauben besitzt oder besessen
hat. Die Anwendung von Art. 940 ZGB ist daher einzig ausgeschlossen,
wo kein Herausgabeanspruch besteht oder bestanden hat (STARK, N. 9,
10 und 25 der Vorbemerkungen zu Art. 938-940 sowie N. 13 zu Art. 940
ZGB; HOMBERGER, N. 4 und 8 zu Art. 938 sowie 1 und 2 zu Art. 940 ZGB;
WIELAND, N. 1 zu Art. 938 ZGB). Vorenthaltung im Sinne dieser Bestimmung
setzt grundsätzlich nicht voraus, dass die Sache bereits herausverlangt
worden ist. Es genügt vielmehr, dass eine Pflicht zur Herausgabe besteht
(STARK, N. 9 zu Art. 940 ZGB; HINDERLING, SPR V/1, S. 511). Wenn in BGE
57 II 392 - ohne jede nähere Begründung - ausgeführt wird, indessen habe
"die Ersatzpflicht der Beklagten erst später" begonnen, "nämlich dadurch,
dass sie dem Kläger das Automobil vorenthielten, als er dessen Herausgabe
verlangte (vgl. Art. 940 Abs. 1 ZGB)", so handelt es sich dabei nicht
um eine Erwägung grundsätzlicher Natur, sondern um ein obiter dictum;
denn die am 27. Januar 1927 verlangte Herausgabe der Sache wurde in
einem separaten Prozess beurteilt und vom Obergericht am 22. Juni 1928
gutgeheissen. In dem BGE 57 II 389 ff. zugrunde liegenden Verfahren
sprach das Obergericht lediglich Ersatz für die von Ende Januar 1927 bis
gegen Ende 1928 eingetretene Wertverminderung der Sache zu, und dagegen
hatten einzig die Beklagten beim Bundesgericht Berufung eingelegt; damit
können die in BGE 57 II 392 enthaltenen Ausführungen für den vorliegenden
Fall nicht massgeblich sein (MEIER-HAYOZ, N. 538 zu Art. 1 ZGB).

    bb) Dass die Auffassung des Beklagten dem Berechtigten in gewissen
Fällen überhaupt keinen, insgesamt nur einen lückenhaften Rechtsschutz
vermittelte, Sinn und Zweck von Art. 938-940 ZGB zuwiderliefe und
deshalb nicht zutreffen kann, liegt auf der Hand. Der Berechtigte
wäre gezwungen, sich ausschliesslich an den gegenwärtigen Besitzer der
Sache zu halten, der ihm möglicherweise gar nicht bekannt ist (STARK,
N. 9 zu Art. 940 ZGB) oder gegenüber welchem zufolge Fristablaufs
(Art. 934 ZGB), Gutgläubigkeit beim Besitzeserwerb (Art. 935 und 936
ZGB) kein Herausgabeanspruch oder wegen mangelnden späteren Besitzes
in bösem Glauben kein Verantwortlichkeitsanspruch besteht. Gegenüber
jedem an sich herausgabepflichtigen Vorbesitzer wäre er mit seinem
Verantwortlichkeitsanspruch für die Zeit bösgläubigen Besitzes
ausgeschlossen und bliebe so im Extremfall schutzlos.

    Art. 940 ZGB trifft, wie das bereits aus seinem Wortlaut unverkennbar
hervorgeht, den bösgläubigen Besitzer, und zwar dem Sinn von Art. 207 des
alten Obligationenrechts entsprechend, wonach der bösgläubige Erwerber
die Sache stets herausgeben oder nach Veräusserung der Sache ihren Wert
ersetzen muss (BGE 45 II 265 mit Hinweisen). Entgegen der Auffassung des
Beklagten ist Art. 940 ZGB somit nicht nur auf den Fall zugeschnitten,
wo sich der Besitzer dem Verlangen um Herausgabe widersetzt (STARK,
N. 9 zu Art. 940 ZGB), was ohnehin nicht ohne weiteres zur Annahme bösen
Glaubens führen müsste (STARK, N. 9 zu Art. 940 ZGB; vgl. ferner N. 27 der
Vorbemerkungen zu Art. 938-940 ZGB; HOMBERGER, N. 3 zu Art. 938 ZGB und
N. 4 zu Art. 940 ZGB). Der Berechtigte kann daher nicht darauf verwiesen
sein, sich endgültig oder auch nur vorerst an den jeweiligen Besitzer
der Sache zu halten (CURTI-FORRER, N. 1 zu Art. 940 ZGB; WIELAND, N. 3
zu Art. 940 ZGB).

    cc) Der Beklagte vermag sodann auch nicht mit der Berufung auf Art. 940
Abs. 3 ZGB durchzudringen, wonach der Besitzer zwar nur für den Schaden
haftet, den er verschuldet hat, solange ihm nicht bekannt ist, an wen er
die Sache herausgeben soll. Die Anwendung dieser haftungsbeschränkenden
Norm ist vorliegend allein schon deshalb ausgeschlossen, weil der Beklagte
sichere Kenntnis vom Diebstahl erlangt hatte und demnach den Berechtigten
mittels nach Treu und Glauben zumutbarer Ermittlungen ohne weiteres
hätte ausfindig machen können (STARK, N. 17 zu Art. 940 ZGB; HOMBERGER,
N. 13 zu Art. 940 ZGB). Im übrigen war er wie ausgeführt im Zeitpunkt
des Verkaufs des Fahrzeuges bösgläubig; er handelte somit schuldhaft,
indem er den Wagen in Kenntnis des Diebstahls verkaufte, und kann deshalb
aus Art. 940 Abs. 3 ZGB ohnehin nichts zu seinen Gunsten ableiten.

Erwägung 4

    4.- c) Als unbegründet erweist sich schliesslich auch der Standpunkt
des Beklagten, die Verantwortlichkeitsansprüche aus Art. 940 Abs. 1
ZGB stellten keine solchen aus unerlaubter Handlung dar. Als aus
unerlaubter Handlung im Sinne von Art. 72 Abs. 1 VVG stammend
gilt jeder ausservertragliche Anspruch, sofern den Pflichtigen
ein Verschulden trifft (ROELLI/JAEGER, N. 15 und 16 zu Art. 72 VVG;
KÖNIG, Schweizerisches Privatversicherungsrecht, 3. Aufl. Bern 1967,
S. 290). Die Verantwortlichkeitsansprüche aus Art. 940 Abs. 1 ZGB
sind ausservertraglicher, nicht quasi-kontraktueller Natur, wie der
Beklagte unter Hinweis auf die zur bundesgerichtlichen Rechtsprechung
(BGE 75 II 226 E. 3) in Widerspruch stehende Auffassung von GAUTSCHI
(N. 4a der Vorbemerkungen zu Art. 419 f. OR) geltend macht, der eine
Geschäftsführung ohne Auftrag selbst bei fehlendem animus alieni negotii
gerendi des Geschäftsführers annimmt. Dass den Beklagten ein Verschulden
treffe, hat das Obergericht bejaht, und der Beklagte hat dies denn auch
nicht substantiell beanstandet.