Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IA 265



120 Ia 265

41. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 2.
Dezember 1994 i.S. Steinemann AG gegen Verwaltungsgericht des Kantons St.
Gallen; politische Gemeinde Oberuzwil (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV: Gesetzliche Grundlage von Abgaben, Kostendeckungs- und
Äquivalenzprinzip.

    Bundesverfassungsrechtliche Anforderungen an die Rechtsgrundlage für
die Erhebung von kommunalen Erschliessungsabgaben; eine Blankodelegation
an die Gemeinde-Exekutive genügt nicht (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Im Jahre 1987 wurde die Liegenschaft Nr. 1712 der Steinemann
AG in Oberuzwil/SG an das Abwasserkanalisationsnetz angeschlossen.
Die Gemeinde Oberuzwil veranlagte die Grundeigentümerin am 18. April 1988
für verschiedene Gebäude (Fabrikhalle, Verwaltungs- und Lagergebäude,
Schuppen) mit Gewässerschutzbeiträgen von insgesamt Fr. 231'735.--. Eine
hiergegen erhobene Einsprache wies der Gemeinderat am 11. Januar 1991 ab.

    Die Steinemann AG verlangte mit Rekurs vom 22. Januar/22. Februar
1991, den Einspracheentscheid und die Rechnungsverfügungen vollumfänglich
aufzuheben und die Gewässerschutzbeiträge auf "total und maximal"
Fr. 80'000.-- festzusetzen. Die Verwaltungsrekurskommission des Kantons
St. Gallen wies den Rekurs am 18. Mai 1992 ab. Eine dagegen eingereichte
Beschwerde wurde vom Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen mit Urteil
vom 27. November 1992 abgewiesen.

    Die Steinemann AG hat staatsrechtliche Beschwerde eingereicht
und beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben. Sie
rügt eine Verletzung von Art. 4 BV (Anspruch auf rechtliches Gehör,
Akteneinsichtsrecht, Willkür, Verbot des überspitzten Formalismus)
sowie der Grundsätze der Gesetzmässigkeit (Legalitätsprinzip), der
Gewaltentrennung und der Verhältnismässigkeit.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kommt dem
Erfordernis der gesetzlichen Grundlage im Abgaberecht die Bedeutung eines
verfassungsmässigen Rechts zu, dessen Verletzung selbständig, unmittelbar
gestützt auf Art. 4 BV, mit staatsrechtlicher Beschwerde geltend gemacht
werden kann (G. MÜLLER in Kommentar BV, Art. 4, Rz. 78; WALTER KÄLIN,
Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl., Bern 1994,
S. 70, mit Hinweisen).

    Öffentliche Abgaben der hier zur Diskussion stehenden Art bedürfen nach
ständiger Rechtsprechung in aller Regel der Grundlage in einem formellen
Gesetz, d.h. normalerweise in einem dem Referendum unterstehenden Erlass.
Delegiert das Gesetz die Kompetenz zur (rechtssatzmässigen) Festsetzung
einer Abgabe an den Verordnungsgeber, so muss es zumindest den Kreis der
Abgabepflichtigen sowie Gegenstand und Bemessungsgrundlage der Abgabe
selber festlegen. Dieser Grundsatz kann gelockert werden, wenn dem
Bürger die Überprüfung der Abgabe auf ihre Rechtmässigkeit anhand von
verfassungsrechtlichen Prinzipien (Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip)
offensteht, so dass nicht allein der Gesetzesvorbehalt diese Schutzfunktion
erfüllt (BGE 120 Ia 1 E. 3c S. 3, mit Hinweisen). Das Gesagte gilt
auch dort, wo die Regelungskompetenz - aufgrund einer einschlägigen
Kompetenzausscheidung - bei der Gemeinde liegt. Ein kommunaler Erlass
kann einem eigentlichen formellen Gesetz gleichgestellt werden, wenn
er von der nach dem kantonalen Recht ermächtigten Gemeindelegislative
(Gemeindeversammlung oder -parlament) beschlossen wurde oder aber
dem (obligatorischen oder fakultativen) Referendum unterstand (vgl.
RHINOW/KRÄHENMANN, Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband, Nr. 12
Ziff. VII S. 34; vgl. auch BGE 97 I 792 E. 7 S. 804 f., 118 Ia 320
E. 3 S. 323 f., mit Hinweisen; Urteil des Obergerichts Schaffhausen vom
23. Februar 1979 in: ZBl 80/1979 S. 78 ff.); eine Blankodelegation an die
Gemeindeexekutive zur Festsetzung von öffentlichen Abgaben vermag hingegen
dem Erfordernis der gesetzlichen Grundlage nicht zu genügen (vgl. BGE
118 Ia 320 ff. betreffend Gebühren für die Trinkwasserversorgung).

    b) Das sanktgallische Einführungsgesetz zum eidgenössischen
Gewässerschutzgesetz enthält unter anderem Bestimmungen über die von den
Gemeinden zwecks Finanzierung der Abwasserentsorgung zu erhebenden Beiträge
(Art. 12-15 EGzGschG). Ob es sich dabei um eine Kompetenzausscheidung
zwischen Kanton und Gemeinden handelt, wie das Verwaltungsgericht
annimmt, oder um eine Delegation an den kommunalen Gesetzgeber
(vgl. dazu grundsätzlich YVO HANGARTNER, Rechtsetzung durch Gemeinden, in:
Aktuelle Probleme des Staats- und Verwaltungsrechts, Festschrift für Otto
K. Kaufmann, Bern und Stuttgart 1989, S. 209 ff.), kann offenbleiben. Die
kantonalen Vorgaben sind jedenfalls nicht bereits derart bestimmt, dass
die erforderliche Konkretisierung unmittelbar durch eine Verordnung der
Gemeindeexekutive erfolgen könnte. Das Verwaltungsgericht sieht die
formell-gesetzliche Grundlage denn auch - zu Recht - nicht in diesen
kantonalen Bestimmungen, sondern im kommunalen Reglement vom 14. Mai 1974
über die Finanzierung der Aufwendungen für den Gewässerschutz (GFR). Die
Voraussetzungen, die es rechtfertigen würden, das Erfordernis einer
gesetzlichen Grundlage zu lockern, sind vorliegend nicht gegeben: Wo es
wie hier um die Finanzierung von kommunalen Versorgungsanlagen mit offenem
Benützerkreis und nicht klar abgrenzbaren Kosten (für Erweiterungen,
Sanierungen, Unterhalt, Rückstellungen usw.) geht, vermag weder das
Kostendeckungs- noch das Äquivalenzprinzip eine wirksame Begrenzung der
Gebühren und Beiträge sicherzustellen und damit die dem Gesetzesvorbehalt
zugedachte Schutzfunktion zugunsten des Abgabepflichtigen zu übernehmen;
insbesondere ist mit der blossen Feststellung, dass der Gesamtertrag
der Abgaben die Gesamtkosten der Anlage nicht übersteigen und dass die
Abgabe nicht in einem offensichtlichen Missverhältnis zum objektiven
Wert der Leistung stehen darf beziehungsweise sich in vernünftigen
Grenzen bewegen muss, noch nicht gesagt, in welcher Form und in welchem
Ausmass die einzelnen Benützerkategorien zur Finanzierung herangezogen
werden sollen (vgl. BGE 118 Ia 320 E. 4 S. 325 f.). Das fragliche
Gebührenreglement wurde vom Gemeinderat (Exekutive) erlassen und
unterstand dem (fakultativen) Referendum unbestrittenermassen nicht;
es stellt insofern, wie die Beschwerdeführerin zu Recht kritisiert,
keine taugliche, den bundesverfassungsrechtlichen Anforderungen
(Art. 4 BV) genügende Rechtsgrundlage für die Erhebung der streitigen
Beiträge dar. Daran ändert nichts, dass die gewählte Rechtsform
offenbar dem damaligen kantonalen Organisationsrecht entsprach und
dass das gemeinderätliche Reglement seinerzeit öffentlich aufgelegt und
anschliessend vom Baudepartement genehmigt worden war; dieses Prozedere
vermochte die nach Bundesverfassungsrecht erforderliche demokratische
Beschlussfassung nicht zu ersetzen.

    c) Die Gemeinde Oberuzwil wendet in der Vernehmlassung vor
Bundesgericht freilich ein, das "heute unverändert gültige GFR vom 14. Mai
1974" sei durch das am 2. Mai 1984 erlassene kommunale Abwasserreglement,
das seinerseits dem fakultativen Referendum unterstellt worden sei,
"gedeckt"; dieses halte in Art. 56 wörtlich fest: "Die einmaligen
Anschlussbeiträge und die jährlichen Betriebsgebühren werden in einem
Reglement über die Finanzierung der Aufwendungen für den Gewässerschutz
festgelegt".

    Wäre davon auszugehen, dass mit dem neuen, unter dem Vorbehalt
des fakultativen Referendums zustandegekommenen Abwasserreglement
(AR) gleichzeitig das hier fragliche Gebührenreglement von 1974 (GFR)
nachträglich genehmigt wurde, so bestünde für die streitigen Abgaben
in der Tat eine genügende gesetzliche Grundlage. Für diese Auffassung
liesse sich wohl anführen, dass die Formulierung in Art. 56 AR genau dem
Titel des Gebührenreglements von 1974 entspricht und dass die Stimmbürger
davon ausgehen mussten, dieses solle zumindest bis zum Erlass eines neuen
Reglements Grundlage für die weitere Erhebung der Abgaben bilden. Doch
sprechen überwiegende Gründe gegen diese Betrachtungsweise: Weder in
den Abstimmungsunterlagen zum Abwasserreglement 1984 noch in der Vorlage
selber wurde das Gebührenreglement 1974 (GFR) erwähnt; es kann deshalb
nicht unterstellt werden, der Stimmbürger habe dieses zusammen mit dem
Abwasserreglement (wenn auch nur vorläufig) genehmigt. Andernfalls müsste
nämlich gefolgert werden, dass im Fall der Ablehnung des Abwasserreglements
1984 zugleich auch das Gebührenreglement 1974 seine Geltungskraft verloren
hätte; eine Konsequenz, die sich offensichtlich nicht vertreten liesse
und die von keiner Seite auch nur erwogen wurde. In Wirklichkeit hatte
der Stimmbürger (auch) mit der Abstimmung über das Abwasserreglement im
Jahre 1984 keine Möglichkeit, in bundesverfassungsrechtlich genügender
Weise am umstrittenen Gebührenreglement 1974 mitzuwirken. Die hierauf
gestützten angefochtenen Beiträge verletzen somit das Legalitätsprinzip (im
Abgaberecht), weshalb das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben ist.