Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 120 IA 179



120 Ia 179

26. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 31. August 1994
i.S. M. L. gegen S. Kantonalbank und Obergericht des Kantons Schaffhausen
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; unentgeltliche Rechtspflege; Bedürftigkeit.

    Zur Prüfung der Voraussetzung der Bedürftigkeit ist die
gesamte finanzielle Situation des Gesuchstellers im Zeitpunkt der
Einreichung des Gesuches zu berücksichtigen. Er hat seine Einkommens-
und Vermögensverhältnisse umfassend darzustellen und soweit möglich zu
belegen (E. 3a).

Sachverhalt

    A.- Mit Beschluss vom 23. November 1993 wies das Kantonsgericht das
Gesuch von M. L. um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ab (Ziffer
1); gleichzeitig verpflichtete es den Gesuchsteller, für fünf hängige
Aberkennungsprozesse Sicherstellung der voraussichtlichen Gerichts-
und Parteikosten in Höhe von insgesamt Fr. 92'000.-- zu leisten (Ziffer
2). Im anschliessenden Rekursverfahren bestätigte das Obergericht den
angefochtenen Beschluss hinsichtlich der Verweigerung der unentgeltlichen
Rechtspflege, hob hingegen in teilweiser Gutheissung des Rekurses Ziffer
2 des Beschlusses auf und setzte die zu leistende Sicherstellung auf
insgesamt Fr. 82'000.-- fest.

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde verlangt M. L., der Entscheid des
Obergerichts sei aufzuheben. Der Beschwerdeführer rügt, die kantonalen
Instanzen hätten seine Bedürftigkeit zu Unrecht als nicht ausgewiesen
erachtet, und zudem sei die mehrfach angebotene persönliche Einvernahme
zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen nicht durchgeführt worden.

    Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit
es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege wird durch
das kantonale Prozessrecht geregelt. Unabhängig davon greifen die
direkt auf Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK gestützten
Rechtsprechungsgrundsätze ein. Danach soll die Möglichkeit des
Rechtsschutzes in nicht zum vornherein aussichtslosen Prozessen davon
unabhängig sein, ob der Rechtsuchende vermögend ist oder nicht. Während das
Bundesgericht die Rüge der Verletzung von direkt aus Art. 4 BV bzw. Art. 6
Ziff. 3 lit. c EMRK hergeleiteten Rechtspflegeansprüchen mit freier
Kognition untersucht, prüft es die Anwendung des betreffenden kantonalen
Rechts nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel des Willkürverbots
(BGE 119 Ia 11 E. 3a S. 12, 251 E. 2b S. 253, 117 Ia 277 E. 5b S. 281,
je mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer rügt nicht, das Obergericht
habe das massgebende kantonale Recht willkürlich angewendet. Er macht
ausschliesslich geltend, die bundesrechtlichen Minimalgarantien nach
Art. 4 BV seien missachtet worden.

    a) Nach ständiger Rechtsprechung hat eine bedürftige Person in
einem für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess unmittelbar aufgrund
von Art. 4 BV Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und auf Ernennung
eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes, sofern sie zur gehörigen Wahrung
ihrer Interessen eines solchen bedarf (BGE 120 Ia 14 E. 3a S. 15 und 118
Ia 369 E. 4 S. 370 mit Hinweisen). Hinsichtlich der Voraussetzung der
Bedürftigkeit des Gesuchstellers prüft das Bundesgericht frei, ob die
Kriterien zu deren Bestimmung im Sinne von Art. 4 BV zutreffend gewählt
worden sind; die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Behörden
dagegen werden nur auf Willkür hin überprüft (BGE 119 Ia 11 E. 3a S. 12
mit Hinweis). Bedürftig ist ein Gesuchsteller, der die Leistung der
erforderlichen Prozess- und Parteikosten nur erbringen kann, wenn er die
Mittel angreift, deren er zur Deckung des Grundbedarfs für sich und seine
Familie bedarf (BGE 119 Ia 11 E. 3a S. 12 mit Hinweisen). Zur Prüfung
der Bedürftigkeit sind sämtliche Umstände im Zeitpunkt der Einreichung
des Gesuches zu würdigen; die entscheidende Behörde hat insbesondere zu
berücksichtigen, welche Mittel binnen welcher Frist aufzubringen sind
(BGE 108 Ia 108 E. 5b S. 109 mit Hinweisen). Massgebend ist die gesamte
wirtschaftliche Situation zur Zeit der Gesuchstellung; das heisst, es ist
einerseits sämtlichen finanziellen Verpflichtungen des Gesuchstellers
Rechnung zu tragen, und es sind anderseits nicht nur die Einkünfte,
sondern auch die Vermögenssituation des Gesuchstellers beachtlich
(BGE 119 Ia 11 E. 3a, 5 S. 12 f., 118 Ia 369 E. 4 S. 370 f. mit
Hinweisen). Nur bei vollständiger Kenntnis der gesamten finanziellen
Verhältnisse des Gesuchstellers kann namentlich beurteilt werden, ob
und allenfalls in welchem Umfang ihm die Beanspruchung des Vermögens,
etwa durch entsprechende Kreditaufnahme, nicht nur möglich, sondern
auch zumutbar ist, um die Mittel aufzubringen, welche zur Führung nicht
aussichtsloser Prozesse erforderlich sind. Für die Feststellung der
wirtschaftlichen Situation des Gesuchstellers darf die entscheidende
Behörde zwar die Beweismittel nicht formalistisch beschränken und etwa
einseitig nur einen amtlichen Beleg über dessen finanzielle Verhältnisse
zulassen (BGE 119 III 28 E. 3b S. 31). Sie hat allenfalls unbeholfene
Rechtsuchende auch auf die Angaben hinzuweisen, die sie zur Beurteilung
des Gesuches benötigt. Grundsätzlich aber obliegt dem Gesuchsteller,
seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse umfassend darzustellen und
soweit möglich auch zu belegen (FAVRE, L'assistance judiciaire gratuite
en droit Suisse, Diss. Lausanne 1989, S. 54 f.). Dabei dürfen umso höhere
Anforderungen an eine umfassende und klare Darstellung der finanziellen
Situation durch den Gesuchsteller selbst gestellt werden, je komplexer
diese Verhältnisse sind. Verweigert ein Gesuchsteller die zur Beurteilung
seiner aktuellen Gesamtsituation erforderlichen Angaben oder Belege,
so kann die Bedürftigkeit ohne Verletzung von Art. 4 BV verneint werden.

    b) Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer am 15. November
1993 ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung zur
Führung von fünf Aberkennungsprozessen gestellt, in denen er Forderungen
der Beschwerdegegnerin von insgesamt über einer Million Franken bestreiten
will. Zur Darstellung seiner finanziellen Situation hat er namentlich
eine Erfolgsrechnung seiner Immobilien für das Jahr 1989 sowie seine
Steuererklärung 1991/92 eingereicht. Die Erfolgsrechnung für das Jahr 1989
weist den Ertrag/Verlust von über 30 Liegenschaften (Mehrfamilienhäuser,
Restaurants, Einfamilienhäuser, Stockwerkeigentumsanteile, Bauland) aus. Im
Wertschriftenverzeichnis zur Steuererklärung 1991/92 (Bemessungsjahre
1989 und 1990) sind neben dem Aktienkapital der (konkursiten) L.+ M. AG
weitere vier Aktienpakete anderer Gesellschaften und zwei Forderungen
aufgeführt. Sowohl die Ertragsrechnung wie die Steuererklärung weisen
massive Verluste für die Jahre 1989 und 1990 aus. Für einen Überblick,
geschweige denn für eine vollständige Feststellung der finanziellen
Situation des Beschwerdeführers im November 1993 genügen diese Unterlagen
jedoch nicht. Bereits für das Jahr 1989 fehlt eine Aufstellung, die
sämtliche Aktiven und Passiven des Beschwerdeführers ausweist und damit die
Beurteilung erlauben würde, ob ihm damals eine Beanspruchung des Vermögens
zur (allenfalls teilweisen) Bezahlung von Gerichts- und Anwaltskosten
möglich gewesen wäre. Wie sich die Vermögenssituation im massgebenden
Zeitpunkt der Gesuchstellung darstellt, kann aus den eingereichten
Unterlagen überhaupt nicht erschlossen werden, wie das Obergericht
zutreffend darlegt. Der für das Jahr 1989 in der Ertragsrechnung und für
1990 in der Steuererklärung angegebene Verlust ist zwar in absoluten Zahlen
beeindruckend. Mangels jeglicher Angaben über den Wert und die Belastung
der Aktiven des Beschwerdeführers kann indes nicht beurteilt werden, welche
Geldmittel diesem heute noch zur Verfügung stehen. Entgegen der in seiner
Beschwerdeschrift geäusserten Ansicht erlauben die vorhandenen Unterlagen
keineswegs, die Bedürftigkeit als ausgewiesen zu erachten. Selbst wenn
das Schreiben der Militärverwaltung belegt, dass der Beschwerdeführer
in den Jahren 1989 und 1990 kein Einkommen erzielte, und wenn ein
Auszug aus dem Betreibungsregister, dessen Einholung von Amtes wegen
der Beschwerdeführer beantragt, überdies ergeben würde, dass erhebliche
Forderungen gegen ihn in Betreibung gesetzt sind, so fehlt in jedem Fall
der erforderliche umfassende Einblick in die aktuelle finanzielle Situation
des Beschwerdeführers. Dass das Bedürftigkeitszeugnis des Fürsorgeamtes
der Stadt S. keine Aussage über die Bedürftigkeit erlaubt, ist darin selbst
vermerkt und wird im übrigen vom Beschwerdeführer auch nicht ernsthaft in
Frage gestellt. Inwiefern schliesslich der provisorischen Veranlagung für
die Staats- und Gemeindesteuern 1993 irgendwelche zusätzlichen Angaben
entnommen werden könnten, ist nicht ersichtlich und auch nicht dargetan.

    c) Der anwaltlich vertretene und geschäftserfahrene Beschwerdeführer
behauptet nicht, er sei sich der Anforderungen an den Nachweis seiner
gegenwärtigen finanziellen Situation nicht bewusst gewesen. Er behauptet
vielmehr, der erforderliche Nachweis seiner wirtschaftlichen Verhältnisse
sei ihm unmöglich, weil seine Geschäfte von Dritten und namentlich von der
Beschwerdegegnerin geführt worden seien. Unter diesen Umständen durfte das
Obergericht ohne Willkür annehmen, die vom Beschwerdeführer beantragte
persönliche Befragung werde zur Sache nichts beitragen - zumal eine
derartige Befragung zum Nachweis der Vermögens- und Einkommensverhältnisse
selbst an sich nicht geeignet ist und höchstens dazu dienen könnte, die
Art des Nachweises der Bedürftigkeit zu besprechen. Wie es sich im übrigen
verhalten würde, wenn tatsächlich Unterlagen für den Gesuchsteller nicht
zugänglich wären, die zur Darstellung oder zum Beleg seiner Einkommens-
und Vermögensverhältnisse erforderlich sind, kann offenbleiben. Denn der
Beschwerdeführer behauptet nicht und weist erst recht nicht nach, dass
er die Herausgabe derartiger Unterlagen vergeblich verlangt hätte. Das
Obergericht hat im angefochtenen Urteil Art. 4 BV nicht verletzt,
wenn es die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers als nicht ausgewiesen
erachtete. Dass die Voraussetzungen für die Sicherstellung der Prozess-
und Parteikosten bei Abweisung des Gesuches um unentgeltliche Rechtspflege
gegeben sind, stellt der Beschwerdeführer nicht in Frage. Er bestreitet
die angeordnete Sicherstellung auch der Höhe nach nicht.