Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 V 416



115 V 416

58. Auszug aus dem Urteil vom 21. Dezember 1989 i.S. C. gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des
Kantons Bern Regeste

    Art. 103 lit. a OG, Art. 20 Abs. 2 UVG. Wird die Invalidenrente der
Unfallversicherung als Komplementärrente gewährt hat der Versicherte ein
Rechtsschutzinteresse an der Feststellung eines höheren Invaliditätsgrades,
auch wenn sich ein solcher nicht auf die Höhe der Rente auswirkt (Erw. 3).

    Art. 15 Abs. 2 UVG, Art. 22 Abs. 2 UVV, Art. 5 Abs. 2 AHVG,
Art. 7 lit. e und Art. 15 Abs. 3 AHVV. Extratrinkgelder (overtips) im
Taxigewerbe gelten grundsätzlich nicht als massgebender Lohn; sie sind
damit bei der Ermittlung des versicherten Verdienstes für die Bemessung
der Invalidenrente der Unfallversicherung ausser acht zu lassen (Erw. 5).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Die Vorinstanz ist auf den Antrag des Beschwerdeführers auf
Erhöhung des Invaliditätsgrades von 75% auf 100% nicht eingetreten. Sie
hielt fest, grundsätzlich sei nur das Dispositiv, nicht aber die
Begründung eines Entscheides anfechtbar. Zum Dispositiv einer
Rentenverfügung gehörten nur Rentenhöhe und Rentenbeginn, während
der Invaliditätsgrad zur Begründung zähle. Dieser sei nur insoweit
anfechtbar, als sich die allfällige Änderung auch auf die Höhe
der Rente auswirken kann. Im vorliegenden Fall werde die Rente der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) als Komplementärrente
ausgerichtet. Selbst wenn der Beschwerdeführer mit seinem Begehren um
Erhöhung seines Jahresverdienstes auf Fr. 41'194.-- durchdringe, ergebe
eine Berechnung der ihm auf dieser Basis zustehenden Komplementärrente
gemäss Art. 20 Abs. 2 UVG, dass diese tiefer ausfalle als eine reine
SUVA-Rente auf der gleichen Basis und bei einer Erwerbsunfähigkeit
von 75%. Ein höherer Invaliditätsgrad würde sich somit unabhängig
von seinem Ausmass überhaupt nicht auf die Höhe der Rente auswirken.
Der Beschwerdeführer könne damit im massgebenden Zeitpunkt des
Verfügungserlasses (Juli 1986) kein Interesse an einer Änderung des
Invaliditätsgrades nachweisen. Es sei jedoch nicht ausgeschlossen, dass ein
solches Interesse zu einem späteren Zeitpunkt zu bejahen wäre. Sollte ein
Revisionsverfahren ergeben, dass ein über 75% liegender Invaliditätsgrad
dem Versicherten einen höheren Rentenanspruch verschaffen könne, wäre
die Frage nach dem Ausmass seiner Erwerbsunfähigkeit gemäss den zur Zeit
der Revision vorliegenden Verhältnissen neu zu beurteilen und in einem
Beschwerdeverfahren auch richterlich überprüfbar.

    b) Der Auffassung des kantonalen Versicherungsgerichts kann in dieser
Form nicht beigepflichtet werden.

    aa) Richtig ist, dass nach der Rechtsprechung zu Art. 103 lit. a OG
das Rechtsschutzinteresse verneint wird, wenn sich die Beschwerde nur
gegen die Begründung der angefochtenen Verfügung richtet, ohne dass eine
Änderung des Dispositivs verlangt wird (BGE 113 V 159, 110 V 52 Erw. 3c,
109 V 60 Erw. 1, 106 V 92 Erw. 1; ZAK 1988 S. 42 Erw. 1b; RKUV 1987
Nr. K 727 S. 170 Erw. 1a; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl.,
S. 154; GRISEL, Traité de droit administratif, S. 882, Ziff. II). Bei
der Beurteilung der Frage, ob ein Verfügungsbestandteil zum Dispositiv
oder zur Begründung (Motive) gehört, kann nicht ohne weiteres auf die
textliche Gestaltung der Verfügung abgestellt werden. Vielmehr drängt sich
entsprechend dem Verfügungsbegriff in Art. 5 VwVG die Prüfung auf, ob die
fragliche Textstelle im Einzelfall zum Gegenstand hat: a) die Begründung,
Änderung oder Aufhebung von Rechten oder Pflichten; b) die Feststellung
des Bestehens, Nichtbestehens oder Umfanges von Rechten oder Pflichten;
c) die Abweisung von Begehren auf Begründung, Änderung, Aufhebung oder
Feststellung von Rechten oder Pflichten, oder das Nichteintreten auf
solche Begehren. Trifft dies zu, so ist der Dispositivcharakter zu bejahen
(ZAK 1988 S. 42 Erw. 1b; ARV 1977 Nr. 13 S. 47).

    Bei einer Verfügung über Versicherungsleistungen bildet grundsätzlich
einzig die Leistung Gegenstand des Dispositivs. Die Beantwortung der
Frage, welcher Invaliditätsgrad der Rentenzusprechung zugrunde gelegt
wurde, dient demgegenüber in der Regel lediglich der Begründung der
Leistungsverfügung. Sie könnte nur dann zum Dispositiv gehören, wenn und
insoweit sie Gegenstand einer Feststellungsverfügung ist. Da in jedem
Fall nur das Dispositiv anfechtbar ist, muss bei Anfechtung der Motive
einer Leistungsverfügung im Einzelfall geprüft werden, ob damit nicht
sinngemäss die Abänderung des Dispositivs beantragt wird. Sodann ist
zu untersuchen, ob der Beschwerdeführer allenfalls ein schutzwürdiges
Interesse an der sofortigen Feststellung hinsichtlich des angefochtenen
Verfügungsbestandteils hat (BGE 106 V 92 Erw. 1 mit Hinweis; vgl.
auch BGE 114 V 202 Erw. 2c).

    bb) SUVA und Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) weisen mit Recht
darauf hin, dass die Rechtsprechung gemäss BGE 106 V 92, die den Bereich
der Invalidenversicherung betrifft, nicht generell - entgegen dem Wortlaut
der dortigen Erwägung 1 - auf die Komplementärrente der Unfallversicherung
übertragen werden kann.

    Die Höhe der Komplementärrente hängt von der Höhe der Rente der
Invalidenversicherung bzw. der AHV ab. Die Komplementärrente entspricht
der Differenz zwischen 90% des versicherten Verdienstes und der Rente
der Invalidenversicherung oder der AHV, höchstens aber dem für Voll-
oder Teilinvalidität vorgesehenen Betrag. Sie wird beim erstmaligen
Zusammentreffen der Renten festgesetzt und lediglich späteren
Änderungen der für Familienangehörige bestimmten Teile der Rente
der Invalidenversicherung oder der AHV angepasst (Art. 20 Abs. 2
UVG). Eine Änderung der Rente der AHV oder Invalidenversicherung
kann somit zur Anpassung der Komplementärrente führen, ohne dass die
Revisionsvoraussetzungen erfüllt wären. In solchen Fällen ist die Höhe des
Invaliditätsgrades dann wesentlich, wenn Rente der AHV/IV und SUVA-Rente
zusammen weniger als 90% des versicherten Verdienstes ausmachen.

    Im übrigen ist die Festlegung der Höhe der Komplementärrente Resultat
eines rechnerischen Vorganges, der verschiedene Elemente, u.a. auch
den Invaliditätsgrad vereinigt. Es kann, wie die Vorinstanz einräumt,
nicht generell - ohne verifizierende Berechnung - gesagt werden, dass
sich eine Erhöhung des Invaliditätsgrades überhaupt nicht auf die Höhe
der Komplementärrente auswirken würde.

    cc) Aus diesen Darlegungen folgt, dass in der Unfallversicherung
- jedenfalls bei der Komplementärrente - der Versicherte ein
Rechtsschutzinteresse (vgl. dazu BGE 114 V 203 Erw. 2c) an der
Feststellung des Invaliditätsgrades hat, weshalb die Vorinstanz zu Unrecht
diesbezüglich auf die Beschwerde nicht eingetreten ist.

Erwägung 5

    5.- Im weiteren ist die Höhe des versicherten Verdienstes streitig,
welche der Berechnung der Komplementärrente des Beschwerdeführers zugrunde
zu legen ist.

    a) Gemäss Art. 15 Abs. 1 UVG werden die Renten nach dem versicherten
Verdienst bemessen. Laut Abs. 2 dieser Bestimmung in Verbindung mit
Art. 22 Abs. 2 UVV gilt als versicherter Verdienst für die Bemessung
der Renten der innerhalb eines Jahres vor dem Unfall bezogene, nach der
Bundesgesetzgebung über die AHV massgebende Lohn.

    Nach Art. 5 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 AHVG werden vom Einkommen
aus unselbständiger Erwerbstätigkeit, dem massgebenden Lohn, Beiträge
erhoben. Als massgebender Lohn gemäss Art. 5 Abs. 2 AHVG gilt jedes
Entgelt für in unselbständiger Stellung auf bestimmte oder unbestimmte Zeit
geleistete Arbeit. Zum massgebenden Lohn gehören begrifflich sämtliche
Bezüge des Arbeitnehmers, die wirtschaftlich mit dem Arbeitsverhältnis
zusammenhängen, gleichgültig, ob dieses Verhältnis fortbesteht
oder gelöst worden ist und ob die Leistungen geschuldet werden oder
freiwillig erfolgen. Als beitragspflichtiges Einkommen aus unselbständiger
Erwerbstätigkeit gilt somit nicht nur unmittelbares Entgelt für geleistete
Arbeit, sondern grundsätzlich jede Entschädigung oder Zuwendung, die
sonstwie aus dem Arbeitsverhältnis bezogen wird, soweit sie nicht kraft
ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift von der Beitragspflicht ausgenommen
ist (BGE 111 V 78 Erw. 2a, 110 V 231 Erw. 2a mit Hinweisen).

    Laut Art. 5 Abs. 2 Satz 2 AHVG in Verbindung mit Art. 7 lit. e
AHVV gehören zu dem für die Berechnung der Beiträge massgebenden
Lohn u.a. Trinkgelder, soweit sie einen wesentlichen Teil des Lohnes
darstellen. Gemäss Art. 15 Abs. 3 AHVV werden die Trinkgelder der
Arbeitnehmer im Transportgewerbe so weit zum massgebenden Lohn gezählt, als
darauf in der obligatorischen Unfallversicherung Prämien erhoben werden.

    b) Das Erwerbseinkommen des Beschwerdeführers als Taxifahrer setzte
sich aus einem Monatsfixum von Fr. 2'050.-- und einer Umsatzbeteiligung von
13,04% (ca. Fr. 800.-- monatlich) zusammen; auf diesen Lohnbestandteilen
wurden AHV/IV/EO-Beiträge und Prämien der SUVA erhoben. Des weiteren will
der Beschwerdeführer über das im Fahrpreis inbegriffene Trinkgeld hinaus
Extratrinkgelder (overtips) von mindestens Fr. 450.-- im Monat erzielt
haben; darüber wurde indessen weder mit der AHV/IV/EO abgerechnet, noch
wurden darauf Prämien der SUVA erhoben. Der Beschwerdeführer vertritt
die Auffassung, dass diese Extratrinkgelder bei der Festlegung des
Jahresverdienstes mit einzubeziehen seien.

    c) Bei den 13,04% Umsatzprovision, welche den Taxifahrern ausbezahlt
wird, handelt es sich um das im Fahrpreis inbegriffene Trinkgeld. Diese
Beträge sind ein wesentlicher Teil des Arbeitsentgeltes, weshalb darauf
auch Sozialversicherungsbeiträge abzurechnen sind. Bevor die Trinkgelder
generell im Fahrpreis eingeschlossen waren, erwies sich eine Abrechnung
über AHV-Beiträge und Versicherungsprämien mangels Kontrollmöglichkeiten
als schwierig. Einem Schreiben der SUVA an die Taxiunternehmung O. vom
29. Juli 1977 ist zu entnehmen, dass in der Stadt T. ein zwischen der
SUVA, den Taxiunternehmen und den Arbeitnehmerverbänden ausgehandeltes
Abkommen bestand, wonach 8% der Fahrgeldeinnahmen pauschal als Trinkgelder
angenommen und darauf Prämien an die Unfallversicherung entrichtet wurden.

    Wie die Gewerkschaft VHTL auf Anfrage der Vorinstanz ausführte,
ist die Erzielung der vom Beschwerdeführer behaupteten zusätzlichen
Trinkgelder trotz der gesamtschweizerisch geltenden Regelung "Trinkgeld
inbegriffen" als allgemein üblich zu betrachten. Deren Höhe wird von der
Gewerkschaft auf 10 bis 15%, in der Nacht bis 20% des gesamten Umsatzes
beziffert. Bei einem Umsatz von rund Fr. 6'100.-- im Monat (ausgerechnet
aus dem Umsatzanteil von 13,04% = Fr. 800.--) erscheint es möglich, dass
der Beschwerdeführer Extratrinkgelder von monatlich Fr. 450.-- eingenommen
hat, zumal er als Chauffeur ausserordentlich beliebt war und als sehr
guter Taxifahrer galt. Ob er diese Zusatzeinkünfte tatsächlich erzielt
hat, kann indessen offenbleiben. Denn sie können nicht als massgebender
Lohn qualifiziert werden und gehören damit auch nicht zum versicherten
Verdienst gemäss Art. 15 Abs. 2 UVG in Verbindung mit Art. 22 Abs. 2 UVV.

    d) Damit bestimmte Einkünfte als massgebender Lohn erfasst werden
können, ist erforderlich, dass sie hinsichtlich Höhe und Regelmässigkeit
überprüfbar sind. Derartige Kontrollmöglichkeiten sind bei freiwilligen
Zuwendungen, wie sie vom Beschwerdeführer in Form von Extratrinkgeldern
geltend gemacht werden, nicht gegeben. Aus diesem Grund wurden denn
auch vor Einführung der heutigen Trinkgeldregelung im Taxigewerbe
Abkommen zwischen SUVA, Arbeitgebern und Arbeitnehmern abgeschlossen,
in welchen ein Pauschalansatz für Trinkgelder festgelegt wurde, auf
dem Unfallversicherungsprämien zu entrichten waren. Für die in Frage
stehenden Extratrinkgelder trafen die beteiligten Parteien jedoch keine
solchen Pauschalabkommen. Wie das kantonale Gericht zutreffend festgehalten
hat, gilt es auch zu beachten, dass es im Sozialversicherungsrecht - mit
Ausnahme der freiwilligen Versicherung für Selbständigerwerbende gemäss UVG
(vgl. Art. 4 und 5 UVG in Verbindung mit Art. 138 UVV) - nicht im Belieben
des Versicherten steht, welche Einkommenshöhe er versichern lassen will.
Betrachtet ein Arbeitnehmer Extratrinkgelder als wesentlichen Bestandteil
seines Lohnes, erscheint es zwar nicht ausgeschlossen, dass er diesen
Einkommensteil versichern lassen kann (vgl. in diesem Sinn Rz. 2025
der Wegleitung des BSV über den massgebenden Lohn, gültig ab 1. Januar
1987). Ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen eine solche
Ausnahmeregelung für Extratrinkgelder von Taxifahrern in Frage käme,
braucht aber im vorliegenden Fall nicht geprüft zu werden. Denn eine
entsprechende Vereinbarung müsste vor Eintritt des Versicherungsfalles
abgeschlossen worden sein, was hier unbestrittenermassen nicht zutrifft.