Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 V 399



115 V 399

55. Auszug aus dem Urteil vom 18. August 1989 i.S. M. gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt sowie Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
gegen M. und Versicherungsgericht des Kantons Zürich Regeste

    Art. 67 und 76 KUVG, Art. 6 und 18 UVG: Adäquater Kausalzusammenhang
gemäss BGE 115 V 133.

    - Zwei Unfälle mit Kopfverletzungen und dadurch verursachten
Hirnfunktionsstörungen und epileptischen Anfällen: Zuordnung der Unfälle
in den mittleren Bereich (Erw. 11a).

    - Adäquater Kausalzusammenhang zwischen Unfällen und vollständiger
psychisch bedingter Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit bejaht wegen
besonderer Art der Verletzungen: Sie führten zu einer (epileptischen)
Wesensveränderung, aus welcher sich eine schwere, psychoreaktiv-neurotische
Depression mit latenter Suizidalität entwickelte (Erw. 11b, c).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 9

    9.- Im vorliegenden Fall erhöhte die Schweizerische
Versicherungsanstalt (SUVA) die dem Versicherten mit Verfügung
vom 29. September 1978 zugesprochene Invalidenrente von 15% mit dem
Einsprache-Entscheid vom 4. Juli 1985 per 1. Januar 1985 auf 50%. Damit
wurden die erwerblichen Folgen der verstärkt aufgetretenen somatischen
Unfallfolgen abgegolten. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Versicherte
sei wegen der Anfallgefahr nicht mehr in der Lage, Arbeiten an laufenden
Maschinen zu verrichten. Ebenso seien Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem
Strassenverkehr nicht mehr zumutbar. Auch sei er für Arbeiten, die ein
gewisses geistiges Niveau voraussetzen, aus neuropsychologischen Gründen
nur beschränkt einsetzbar. Seine beruflichen Möglichkeiten seien daher
erheblich eingeschränkt.

    Dieser Beurteilung ist beizupflichten, soweit es um die
somatische Seite der Unfallfolgen geht. Wie nun aber aus einem von
Dr. E. erstellten Gutachten vom 29. Dezember 1985 hervorgeht, ist
der Versicherte aus psychischen Gründen praktisch vollständig arbeits-
bzw. erwerbsunfähig. Es ist daher - unabhängig von der physisch bedingten
Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit - zu prüfen, ob zwischen den Unfällen
vom 8. Mai 1968 bzw. 29. Mai 1969 und der nach verschiedenen Rückfällen
aufgetretenen psychischen Fehlentwicklung ein adäquater Kausalzusammenhang
besteht.

Erwägung 10

    10.- Gestützt auf das erwähnte Gutachten des Dr. E. vom 29.
Dezember 1985 ist die natürliche Kausalkette zwischen den Unfällen
vom 8. Mai 1968/29. Mai 1969 und der eingetretenen psychischen
Fehlentwicklung zu bejahen. Gemäss fachärztlicher Feststellung wurde
die traumatische Epilepsie höchstwahrscheinlich durch den Unfall vom
8. Mai 1968 ausgelöst. Dabei ist es unerheblich, ob der erste oder
der zweite Unfall oder beide zusammen zu der für den Versicherten
verhängnisvollen Entwicklung geführt haben, denn beide Unfälle waren
SUVA-versichert. Im Verlaufe der folgenden Jahre trat allmählich
eine epileptische Wesensveränderung ein (narzisstische, epileptoide
Borderline-Struktur). Diese trug wesentlich dazu bei, dass der Versicherte
auf den nervenärztlich indizierten Entzug der Fahrbewilligung und die
Kündigung des jahrelangen Arbeitsverhältnisses durch die Arbeitgeberin
auf Ende November 1984 zufolge mangelnder Leistung mit einer schweren
psychoreaktiv-neurotischen Depression bei latenter Suizidalität reagierte.

Erwägung 11

    11.- Im weiteren muss geprüft werden, ob auch der adäquate
Kausalzusammenhang zwischen den genannten Unfällen und der psychischen
Fehlentwicklung gegeben ist.

    a) Aufgrund der durch den Unfall ausgelösten somatischen Unfallfolgen
(vgl. nachstehend) rechtfertigt es sich, die Unfälle dem mittleren
Bereich zuzuordnen. Damit der adäquate Kausalzusammenhang bejaht werden
kann, muss zumindest ein Kriterium aus der in BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa
enthaltenen Zusammenstellung in besonders ausgeprägter Weise erfüllt sein.

    b) Besonders dramatische Begleitumstände oder besondere
Eindrücklichkeit lagen bei beiden Unfällen nicht vor. Der Versicherte
erlitt beim Zusammenstoss zwischen einem Tram und einem Bus am 8. Mai
1968 eine Nasenbeinfraktur und eine Schädelprellung, als er den Kopf
an einer Metallstange anschlug. Beim Unfall vom 29. Mai 1969 stürzte
er eine Treppe hinunter, schlug mit der Stirn an der Kante einer Stufe
an und zog sich eine kleine Rissquetschwunde zu. Am 1. Juni 1969 trat
erstmals ein epileptiformer Anfall auf. In der Folge wiederholten
sich solche Anfälle, was am 16. März 1972 erstmals zur Meldung eines
Rückfalls führte. Im Gutachten der Neurologischen Universitätsklinik
und Poliklinik des Kantonsspitals Zürich vom 4. Mai 1972 wurden grosse
cerebrale Anfälle ungeklärter Genese diagnostiziert. Eine dauernde
antiepileptische Behandlung wurde als angezeigt erachtet. Es traten alle
2 bis 3 Monate leichte Anfälle auf. Zeitweise verspürte der Versicherte
stechende Schmerzen im linken Stirnbereich. Am 28. Mai 1973 erlitt
er erneut einen Rückfall. Bei einer am 27. Mai 1977 durchgeführten
Computer-Schädel-Tomographie wurde ein rechtshirniger frontaler
Parenchymdefekt festgestellt. In einem Zwischenbericht der Schweizerischen
Anstalt für Epileptische in Zürich vom 14. Juni 1978 wurde folgende
Diagnose gestellt: Epileptische Reaktionen in Form von generalisierten
Anfällen aufgrund einer substantiellen Hirnschädigung, höchstwahrscheinlich
traumatisch bedingt. Nach einem weiteren, am 24. Oktober 1980 erlittenen
Sturz mit dem Fahrrad, bei dem er sich erneut das Nasenbein gebrochen
hatte und nach welchem eine retrograde Amnesie eingetreten war, wurde am
13. April 1981 anhand experimentell-psychologischer Untersuchungen auf
eine deutliche bifrontale Hirnfunktionsschwäche geschlossen. Ferner wurde
im Bericht der Schweizerischen Epilepsie-Klinik Zürich vom 11. Februar
1982 im wesentlichen folgende Diagnose gestellt: Partielle Epilepsie mit
vorwiegend Grand-mal-Anfällen, höchstwahrscheinlich posttraumatisch
bedingt; Status nach mehrmaligen Schädelhirntraumen mit Contusio
cerebri und posttraumatischem Parenchymdefekt rechts frontal; leichtes
hirnorganisches Syndrom. Im Gutachten vom 15. Februar 1985 wurde zusätzlich
eine leichte hirnorganische Funktionsstörung bifrontal erwähnt.

    Diese gesundheitlichen Störungen im Anschluss an die Unfälle sind
insofern von besonderer Art im Sinne der Rechtsprechung, als sie laut
Gutachten des Dr. E. vom 29. Dezember 1985 zu einer (epileptischen)
Wesensveränderung (narzisstische, epileptoide Borderline-Struktur)
geführt haben. Wegen dieser Wesensveränderung war der Versicherte
nicht mehr in der Lage, den Entzug der Fahrbewilligung sowie den
Verlust seiner Arbeitsstelle seelisch zu verkraften. Es trat eine
schwere, psychoreaktiv-neurotische Depression mit latenter Suizidalität
ein. Klinisch und testologisch konnte übereinstimmend das Zustandsbild
einer traumatischen Epilepsie mit leichtem bis mässigem psychoorganischem
Syndrom (POS) diagnostiziert werden. Mit grosser Wahrscheinlichkeit
traten laut dem genannten Gutachten seit der zweiten Hälfte des Jahres
1984 psychogene Anfälle auf. Kopfverletzungen sind nach der allgemeinen
Lebenserfahrung geeignet, zu Hirnfunktionsstörungen und epileptischen
Anfällen zu führen, wobei es einer Erfahrungstatsache entspricht, dass in
solchen Fällen keine eigentliche Heilung, sondern nur eine Stabilisierung
des Gesundheitszustandes möglich ist. Es kommt erfahrungsgemäss auch
vor, dass Hirnfunktionsstörungen und Epilepsie mit Grand-mal-Anfällen
zu einer Wesensveränderung des Betroffenen führen können, die ihrerseits
eine invalidisierende psychische Fehlentwicklung auszulösen vermag. Der
Versicherte liegt damit innerhalb der erwähnten weiten Bandbreite, in
welchem Rahmen einer ungünstigen konstitutionellen Prädisposition bei
der Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs Rechnung getragen wird.

    c) Aufgrund der dargelegten Würdigung kommt den Unfällen vom
8. Mai 1968 und 29. Mai 1969 eine massgebende Bedeutung für die
Entstehung der festgestellten vollständigen psychisch bedingten Arbeits-
bzw. Erwerbsunfähigkeit zu, weshalb die Adäquanz des Kausalzusammenhangs
zu bejahen ist. Wenn die Vorinstanz die Beschwerde hauptsächlich mit der
Begründung abwies, es liege eine Begehrungstendenz vor, so kann dieser
Auffassung nicht beigepflichtet werden. Sie stützte ihre Schlussfolgerung
einzig auf die Aussage im Gutachten des Dr. E. vom 29. Dezember 1985,
"rein vom ärztlichen Standpunkt aus gesehen (sei es) wahrscheinlich, dass
diese neurotische Depression samt den psychogenen Anfällen durch die ...
Neuberentung innert absehbarer Zeit zum Verschwinden gebracht würde". Es
erweist sich indessen als unzulässig, eine einzelne Aussage eines
Gutachters isoliert zu betrachten und dabei sämtliche anderen erhobenen
medizinischen Befunde ausser acht zu lassen. Angesichts des vorliegenden
Beweisergebnisses erübrigt sich ein ergänzendes psychiatrisches Gutachten,
wie dies in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt wird.

    Der Versicherte hat nach dem Gesagten ab 1. Januar 1985 Anspruch auf
eine Invalidenrente für die psychisch bedingte Erwerbsunfähigkeit von
100%. Anlass für eine Rentenkürzung nach Art. 91 KUVG besteht nicht, sind
doch nach den medizinischen Akten keine Anzeichen dafür vorhanden, dass
Krankheiten oder frühere Unfälle bei der Entstehung der gesundheitlichen
Störungen mitspielten.