Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 V 384



115 V 384

52. Urteil vom 27. September 1989 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung
gegen S. und Versicherungsgericht des Kantons Zürich Regeste

    Art. 2 Abs. 1 lit. a, Art. 5bis Abs. 2, Art. 6bis Abs. 1 KUVG,
Art. 13a Abs. 1 Vo II. Art. 13 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Tessin
über die obligatorische Krankenversicherung vom 28. Mai 1986, wonach
die Krankenkassen für die Kollektivversicherten gleich hohe Prämien zu
erheben haben wie für die Einzelversicherten, ist bundesrechtswidrig.

Sachverhalt

    A.- Die Bank S. schloss am 14. November/1. Dezember 1986 für das in
der Schweiz wohnhafte Personal mit der Krankenkasse Intras per 1. Januar
1987 einen Kollektivversicherungsvertrag im Sinne von Art. 5bis KUVG. Mit
Verfügung vom 22. Juni 1987 eröffnete die Krankenkasse der Bank S.,
gemäss Art. 13 Abs. 2 des vom Eidgenössischen Departement des Innern
(EDI) am 5. September 1986 genehmigten und auf den 1. Januar 1987 in
Kraft getretenen Gesetzes des Kantons Tessin über die obligatorische
Krankenversicherung vom 28. Mai 1986 seien die zum Betrieb der
Krankenversicherung im Tessin zugelassenen Krankenkassen verpflichtet,
für die Einzel- und Kollektivversicherten die gleichen Prämien zu erheben.

    B.- Beschwerdeweise beantragte die Bank S. im wesentlichen, die
Verfügung vom 22. Juni 1987 sei aufzuheben und es sei festzustellen,
dass Art. 13 Abs. 2 des erwähnten kantonalen Gesetzes bundesrechtswidrig
sei; die Kasse sei zu verpflichten, die im Kollektivversicherungsvertrag
festgelegten Prämien auch für die im Kanton Tessin wohnhaften Versicherten
anzuwenden.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Zürich hiess die Beschwerde mit
Entscheid vom 9. September 1987 gut und hob die angefochtene Verfügung auf.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides.

    Die Bank S. und die beigeladene Krankenkasse schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Der zur Stellungnahme
eingeladene Staatsrat des Kantons Tessin schliesst sich der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde des BSV an.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde)

Erwägung 2

    2.- (Kognition)

Erwägung 3

    3.- (Vernehmlassung des Tessiner Staatsrates)

Erwägung 4

    4.- In materieller Hinsicht ist streitig, ob ein Kanton den
Krankenkassen vorschreiben darf, in der Kollektivkrankenversicherung gleich
hohe Mitgliederbeiträge wie in der Einzelversicherung festzusetzen. Der
Umstand, dass der fragliche Art. 13 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Tessin
über die obligatorische Krankenversicherung vom 28. Mai 1986 vom EDI am
5. September 1986 gemäss Art. 2 Abs. 3 KUVG in Verbindung mit Art. 8
Abs. 1 Vo V genehmigt worden ist, steht der richterlichen Überprüfung
nicht entgegen (vgl. BGE 110 V 324 Erw. 1b).

    a) Gemäss Art. 5bis Abs. 2 KUVG sind die Krankenkassen befugt, in
Kollektivversicherungsverträgen Versicherungsbedingungen zu vereinbaren,
die von denjenigen der Einzelversicherung abweichen. In Art. 6bis
Abs. 1 Satz 2 KUVG wird vorgeschrieben, dass die Mitgliederbeiträge
in der Kollektivversicherung unter Berücksichtigung der besonderen
Risiken festzusetzen sind. Nach dieser Vorschrift müssen die
Kollektivversicherungsprämien im Interesse der finanziellen Sicherheit
der Kassen den Risiken des Versichertenbestandes entsprechen (vgl. dazu
Botschaft des Bundesrates zum Entwurf eines Bundesgesetzes betreffend
die Änderung des Ersten Titels des Bundesgesetzes über die Kranken- und
Unfallversicherung vom 5. Juni 1961, BBl 1961 I 1451). Art. 13a Abs. 1 Vo
II führt hiezu ergänzend aus, die Kasse müsse die Mitgliederbeiträge in den
einzelnen Verträgen so festsetzen, dass sowohl die Kollektivversicherung
für Krankenpflege als auch jene für Krankengeld selbsttragend sind und die
Kasse die nötigen Reserven bilden kann. Dabei sind nach Art. 13a Abs. 3
Vo II die Erfahrungszahlen über die betreffenden Personengruppen, welche
mindestens die letzten drei Jahre umfassen müssen, massgebend. Einzelheiten
über die Mindestbeiträge in der Kollektivversicherung werden in der
Verordnung 5 des EDI über die Krankenversicherung vom 12. November
1965 geregelt. So schreibt Art. 6 Abs. 1 dieser Verordnung vor, dass
die Mindestbeiträge für die Krankenpflegeversicherung entsprechend den
örtlich bedingten Kostenunterschieden nach Risikogruppen abzustufen sind.

    b) Mit dem Prinzip der risikogerechten Prämie für den einzelnen Vertrag
weicht die Regelung der Mitgliederbeiträge in der Kollektivversicherung
wesentlich von der Ordnung der Beiträge in der Einzelversicherung
ab. Bei dieser ist die Berücksichtigung der besonderen Risiken bei
der Prämiengestaltung im Hinblick auf die Solidarität innerhalb einer
Versichertengemeinschaft nur in abgeschwächter Form zulässig (vgl. MAURER,
Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. II, S. 302).

    Die Kollektivversicherung einer Krankenkasse hat sich als Ganzes selber
zu erhalten (Art. 13a Abs. 1 Vo II). Durch Kollektivversicherungsverträge
mit dem in Art. 2 Vo II genannten Kreis der Versicherungsnehmer
und Versicherten werden meistens "günstige" Risikogruppen (z.B. die
relativ junge Belegschaft eines Betriebes) innerhalb der gleichen Kasse
gebildet. "Je nach Konkurrenzlage ist es den einzelnen Krankenkassen
damit unter Umständen möglich, einzelne Verträge zu ausserordentlich
tiefen Prämien anzubieten und die hieraus resultierenden Verluste in
anderen Regionen bzw. mit anderen Verträgen wieder wettzumachen. Diese
Risikoselektion geht zu Lasten der Einzelversicherung im allgemeinen,
weil sich hier die "schlechteren" Risiken (Betagte, Kranke, Frauen)
konzentrieren" (Bericht der Kommission des Ständerates über einen
Gegenentwurf auf Gesetzesstufe zur Volksinitiative für eine finanziell
tragbare Krankenversicherung vom 17. Oktober 1988, BBl 1988 III 1343).

Erwägung 5

    5.- a) Zu prüfen ist, ob Art. 13 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Tessin
über die obligatorische Krankenversicherung vom 28. Mai 1986, wonach für
die Einzel- und Kollektivversicherten die gleichen Prämien zu erheben
sind, gegen die den Krankenkassen in Art. 5bis Abs. 2 KUVG bundesrechtlich
eingeräumte Befugnis verstösst, in den Kollektivversicherungsverträgen
Versicherungsbedingungen zu vereinbaren, die von denjenigen der
Einzelversicherung abweichen. Zudem fragt es sich, ob die vorgeschriebene
Prämiengleichheit zwischen Kollektiv- und Einzelversicherten vereinbar
ist mit der (bundesrechtlichen) Vorschrift gemäss Art. 6bis Abs. 1 Satz
2 KUVG, wonach die Mitgliederbeiträge in der Kollektivversicherung unter
Berücksichtigung der besonderen Risiken festzusetzen sind.

    Die vom Kanton Tessin angeordnete Prämiengleichheit in der Kollektiv-
und Einzelversicherung steht nach dem in Erw. 4 Gesagten mit der
finanziellen Sicherstellung der mit der Kollektivversicherung abgedeckten
Risiken in keinem Zusammenhang. Vielmehr geht es nach den Darlegungen des
Staatsrates des Kantons Tessin darum, durch höhere Mitgliederbeiträge der
Kollektivversicherten Änderungen in der Kassenstruktur zu verhindern. Das
Argument des Staatsrates, mit der Kollektivversicherung würden der
Einzelversicherung die "guten Risiken" der Einzelversicherung weggenommen,
was gegen das Prinzip der Gegenseitigkeit und der Solidarität verstosse,
ist als Rechtfertigung für die getroffene kantonale Regelung nicht
stichhaltig. Der Gedanke der Solidarität unter den Versicherten lässt
sich gemäss geltendem Recht nicht durch eine Prämiengleichheit zwischen
Kollektiv- und Einzelversicherten verwirklichen. Denn das Bundesrecht
räumt den Kassen, wie bereits gesagt, ausdrücklich die Befugnis ein,
in den Kollektivversicherungsverträgen Versicherungsbedingungen zu
vereinbaren, die von denjenigen der Einzelversicherung abweichen;
zudem ist bundesrechtlich vorgeschrieben, dass die Mitgliederbeiträge
in der Kollektivversicherung unter Berücksichtigung der besonderen
Risiken festzusetzen sind (zu den früheren Revisionsbestrebungen
bezüglich der Mitgliederbeiträge siehe Botschaft des Bundesrates über
die Teilrevision der Krankenversicherung vom 19. August 1981, BBl 1981
II 1160; vgl. hinsichtlich der Angleichung der Mitgliederbeiträge in der
Kollektiv-Krankenpflegeversicherung an diejenigen der Einzelversicherung
auch den Bericht der Kommission des Ständerates über einen Gegenentwurf
auf Gesetzesstufe zur Volksinitiative für eine finanziell tragbare
Krankenversicherung vom 17. Oktober 1988, BBl 1988 III 1343).

    b) Die fragliche kantonale Gesetzesbestimmung kann sich schliesslich
auch nicht auf Art. 2 Abs. 1 lit. a KUVG stützen, wonach die Kantone
ermächtigt sind, die Krankenversicherung allgemein oder für einzelne
Bevölkerungsklassen obligatorisch zu erklären. Die Einführung des
(vollen oder teilweisen) Obligatoriums bezweckt sozialpolitisch, den
Versicherungsschutz des KUVG zu verstärken (vgl. MAURER, Schweizerisches
Sozialversicherungsrecht, Bd. II, S. 304; LÜÖND, Die obligatorische
Krankenversicherung nach kantonalem Recht unter besonderer Berücksichtigung
der zürcherischen Gesetzgebung, SZS 1979 S. 46 ff.), was sich mit der
Anpassung der Kollektivversicherungsprämien an jene der Einzelversicherung
aber nicht erreichen lässt. Daran ändert der Umstand nichts, dass mit der
Einführung des Obligatoriums den beteiligten Kassen im Hinblick auf die
Prämiensubventionierung Auflagen bezüglich der Prämiengestaltung gemacht
werden können.

    c) Zusammenfassend ergibt sich, dass für eine ergänzende kantonale
Rechtsetzungskompetenz bezüglich der Höhe der Mitgliederbeiträge in
der Kollektivversicherung gemäss der Tessiner Regelung aufgrund der
abschliessenden bundesrechtlichen Ordnung kein Raum besteht, wie die
Vorinstanz in ihrem Entscheid zutreffend festgestellt hat. Art. 13 Abs. 2
des Gesetzes des Kantons Tessin über die obligatorische Krankenversicherung
vom 28. Mai 1986 ist bundesrechtswidrig. Die Krankenkasse Intras kann
somit nicht verpflichtet werden, die Prämien für die Kollektivversicherten
der Bank S. denjenigen der Einzelversicherten anzupassen, weshalb der
kantonale Richter die angefochtene Verfügung vom 22. Juni 1987 zu Recht
aufgehoben hat.

Erwägung 6

    6.- (Kostenpunkt)

Entscheid:

        Demnach erkennt das eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.