Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 V 341



115 V 341

45. Urteil vom 31. Oktober 1989 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung
gegen H. und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden Regeste

    Art. 20 Abs. 2 AHVG. Zulässigkeit der Verrechnung der vom verstorbenen
geschiedenen Mann geschuldeten und im öffentlichen Inventar angemeldeten
persönlichen Beiträge (inkl. Verwaltungskosten und Betreibungsspesen)
mit der Witwenrente der geschiedenen Frau, soweit deren Existenzminimum
nicht berührt wird.

Sachverhalt

    A.- Am 10. März 1986 wurde die Ehe der Margrit und des Erwin
H.-H. geschieden. Erwin H. verstarb am 10. Mai 1988. Im darauffolgenden
öffentlichen Inventar machte die Ausgleichskasse des Kantons Graubünden
eine Forderung von nicht bezahlten Sozialversicherungsbeiträgen des Erwin
H. in der Höhe von Fr. 16'609.65 geltend.

    Mit Verfügung vom 11. August 1988 sprach die Ausgleichskasse
Margrit H. in Anwendung der Rentenskala 44 eine Witwenrente von
monatlich Fr. 1'200.-- zu. Der Rentenbestimmung hatte sie ein
durchschnittliches Einkommen beider Ehegatten von Fr. 67'500.-- aus 27
Jahren zugrundegelegt. In der gleichen Verfügung teilte die Ausgleichskasse
Margrit H. mit, dass die noch ausstehenden Beiträge des verstorbenen
Mannes bis zur Tilgung der Schuld mit der Witwenrente verrechnet würden.

    B.- Margrit H. beschwerte sich gegen diese Verfügung beim
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. Dieses verneinte die
Zulässigkeit der Verrechnung der Beitragsforderung mit der Witwenrente,
hiess die Beschwerde am 4. November 1988 gut und wies die Ausgleichskasse
an "die fälligen Rentenanteile der Beschwerdeführerin auszuzahlen".

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung erhebt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, es seien der angefochtene
Entscheid aufzuheben und die Sache zur Festsetzung des verrechenbaren
Rentenbetrages unter Berücksichtigung des betreibungsrechtlichen
Existenzminimums an das Verwaltungsgericht zurückzuweisen.

    Margrit H. hat sich zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht vernehmen
lassen.

    Die Ausgleichskasse beantragt die Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die
Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat
das Eidg. Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche
Richter Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder
Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung
mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG; betreffend Kognition
insbesondere bei Streitigkeiten aus Verrechnungsansprüchen vgl. BGE 111
V 102 Erw. 3a und 104 V 6 Erw. 1).

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 20 Abs. 2 AHVG können die AHV-Beiträge mit fälligen
AHV-Renten verrechnet werden. Dabei ist davon auszugehen, dass diese
Bestimmung zwingenden Charakter hat und die Ausgleichskassen im Rahmen
der gesetzlichen Vorschriften nicht nur befugt, sondern auch verpflichtet
sind, geschuldete Beiträge mit fälligen Leistungen zu verrechnen (BGE
111 V 102/103 Erw. 3b; EVGE 1961 S. 29; ZAK 1971 S. 508).

    In die Verrechnungsforderung können praxisgemäss auch die
Betreibungsspesen und die übrigen Verwaltungskosten mit einbezogen werden
(EVGE 1956 S. 190 Erw. 1, 1953 S. 288 Erw. 2; ZAK 1971 S. 508).

    b) Durch Art. 20 Abs. 2 AHVG wird für die Verrechnung eine eigene
Ordnung geschaffen, welche auf die Besonderheiten der Sozialgesetzgebung
im AHV-Bereich zugeschnitten ist (BGE 104 V 7 Erw. 3b). Dabei geht die
Verrechenbarkeit von Beiträgen mit Leistungen gemäss Art. 20 Abs. 2 AHVG
über die obligationenrechtlichen Regeln (Art. 120 Abs. 1 OR) hinaus;
denn nach ständiger Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts sind
versicherungsrechtlich bzw. versicherungstechnisch zusammenhängende
Beiträge und Renten ohne Rücksicht auf die pflichtige bzw. berechtigte
Person und ungeachtet erbrechtlicher Gegebenheiten verrechenbar (EVGE 1969
S. 94 Erw. c, 1966 S. 88 Erw. 3, 1951 S. 41 Erw. 2; nicht veröffentlichtes
Urteil O. vom 30. Juli 1982). Daher ist - unter Beachtung bestimmter
Rücksichtnahmen - auch nach amtlicher Liquidation (EVGE 1969 S. 95 Erw. g)
und selbst bei Ausschlagung der Erbschaft (BGE 111 V 2 Erw. 3a; EVGE
1956 S. 190 Erw. 1, 1953 S. 287, 1951 S. 41 Erw. 2) Verrechnung möglich.
Hingegen sind Beitragsforderungen, die aus Verschulden im öffentlichen
Inventar nicht angemeldet worden sind, nicht mehr verrechenbar, weil
solche nicht angemeldeten Forderungen allgemein und insbesondere auch im
Bereich der AHV infolge Verwirkung untergehen und daher auch nicht als
Naturalobligation weiterbestehen (BGE 111 V 3 Erw. 3b).

    Die Verrechenbarkeit von Renten mit nicht bezahlten geschuldeten
Beiträgen liegt häufig im Interesse der anspruchsberechtigten
Personen, namentlich auch der Hinterlassenen selber. Unterbliebe
nämlich die Verrechnung (insbesondere von rentenbildenden Beiträgen),
so müsste die Ausgleichskasse das für die Rentenbestimmung massgebende
Durchschnittseinkommen nachträglich neu berechnen, unter Umständen mit
der Wirkung, dass bereits laufende Renten rückwirkend dauernd gekürzt
werden müssten. Gerade dies soll aber mit der Verrechnung vermieden werden
(vgl. EVGE 1956 S. 191 Erw. 1).

    c) Nach der Rechtsprechung darf die Verrechnung geschuldeter
persönlicher Beiträge - ob diese rentenbildend sind oder nicht - mit der
Rente nur insoweit erfolgen, als der Verrechnungsabzug an den monatlichen
Renten das betreibungsrechtliche Existenzminimum nicht beeinträchtigt.

    Wenn die Einkünfte des Versicherten das Existenzminimum nicht
übersteigen, ist eine Verrechnung ausgeschlossen. Sind hingegen die
Einkünfte des Beitragspflichtigen höher als sein Existenzminimum, so darf
in der Weise verrechnet werden, dass das Existenzminimum nicht berührt
wird. Ist die Verrechnung des vollen Betrages auf einmal nicht möglich,
so sind entsprechende Teilbeträge monatlich zur Verrechnung zu bringen
(BGE 111 V 103 Erw. 3b).

    Diese Ordnung hat auch dann zu gelten, wenn es darum geht, die nicht
bezahlten persönlichen Beiträge eines verstorbenen Versicherten mit
Hinterlassenenrenten zu verrechnen.

Erwägung 3

    3.- Im bereits zitierten BGE 111 V 2 Erw. 3a hat das Eidg.
Versicherungsgericht befunden, dass ein versicherungsrechtlicher
Zusammenhang insbesondere bestehe zwischen den ausstehenden persönlichen
Beiträgen eines verstorbenen Ehemannes und der Witwenrente bzw. den
Waisenrenten, weil diese nach Art. 33 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 32
Abs. 1 AHVG vorab aufgrund des durchschnittlichen Jahreseinkommens
des Ehemannes berechnet werden. Folglich könnten die vom Verstorbenen
geschuldeten persönlichen Beiträge mit der der Ehefrau grundsätzlich
zustehenden Witwenrente verrechnet werden. Im vorliegenden Fall stellt sich
die Frage, ob eine Verrechnung mit der Witwenrente auch dann möglich ist,
wenn der verstorbene Ehemann geschieden war.

    a) Die Vorinstanz verneint die Zulässigkeit der Verrechnung
in diesem Fall, weil "sie zu den zivilrechtlichen Wirkungen der
Ehescheidung in unauflösbarem Widerspruch steht und fundamentalen
Gerechtigkeitsvorstellungen zuwiderläuft". Insbesondere bemerkt die
Vorinstanz: In der Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts zur
Verrechnungsfrage sei nirgends von einer geschiedenen Witwe die Rede. Diese
Rechtsprechung könne auf den vorliegenden Fall höchstens analog angewendet
werden. Wollte man argumentieren, die Gleichstellung der geschiedenen Frau
mit der Witwe in Art. 23 Abs. 2 AHVG unter den kumulativen Voraussetzungen
der mindestens 10jährigen Ehedauer und der Unterhaltspflicht des Mannes sei
auch auf die Verrechnung geschuldeter Beiträge zu beziehen, so widerspräche
dies den grundlegenden Wertungen des Zivilrechts, weil die Scheidung die
Ehe als gesetzliches Verhältnis beendige und die Ehefrau dadurch jegliche
Möglichkeit der Einflussnahme auf die Bezahlung der Beiträge durch den
geschiedenen Mann verliere. Zudem würde die Verrechnung der geschuldeten
persönlichen Beiträge des geschiedenen Mannes mit der Witwenrente zu dem
stossenden Ergebnis führen, dass der erfolglos betriebene und gepfändete
Ehemann die Rente seiner Frau beeinflussen würde. Damit wären auch
Manipulationen möglich, indem der geschiedene Mann dafür sorgen könnte,
dass er AHV-Beiträge schuldig bleibe und so den Rentenanspruch seiner
Frau verkürze. Die Zulassung der Verrechnung würde den Grundsatz der
Auflösung der gegenseitigen finanziellen Auseinandersetzung durchbrechen
und Wirkungen weit über die Eheauflösung hinaus begründen. Ein so krasser
Widerspruch zum Zivilrecht erscheine ungerechtfertigt, da der enge
sachliche Zusammenhang, den die versicherungsgerichtliche Rechtsprechung
fordere, durch die Scheidung aufgehoben werde. Schliesslich erscheine
es stossend, dass in den Fällen, in denen die Ausgleichskasse auch auf
dem Wege der Betreibung nicht zu den ihr zustehenden Beiträgen gelange,
ausgerechnet die geschiedene Frau für den der Verwaltung erwachsenen
Schaden einstehen müsste. In einem Falle wie dem vorliegenden bestehe
kein genügender sachlicher Zusammenhang.

    b) Der vorinstanzlichen Auffassung kann aus folgenden Gründen nicht
beigepflichtet werden:

    aa) Bereits in Erw. 2 ist mit dem Hinweis auf die Rechtsprechung
dargelegt worden, dass Art. 20 Abs. 2 AHVG für die Verrechnung
eine eigene Ordnung schafft, welche auf die Besonderheiten der
Sozialgesetzgebung im AHV-Bereich zugeschnitten ist. Die zivilrechtliche
Betrachtungsweise bezüglich der Wirkungen der Ehescheidung ist daher
nicht massgebend. Wesentlich ist aus sozialversicherungsrechtlicher
Sicht die Überlegung, dass sich die in Frage stehende Verrechnung aus
der AHV-rechtlichen Gleichstellung der geschiedenen Frau mit der Witwe
(vgl. Art. 23 Abs. 2 AHVG) ergibt. Es wäre - wie das Bundesamt mit Recht
bemerkt - stossend, diese Gleichstellung nicht auch im Bereich des Art. 20
Abs. 2 AHVG gelten zu lassen, da schon die Gewährung der Witwenrente an die
geschiedene Frau Folgen zeitigt, welche über die zivilrechtlichen Wirkungen
der Ehe hinausgehen (vgl. BGE 110 V 244 Erw. 1b und 100 V 89 Erw. 1 und 2).

    Die vom Verwaltungsgericht befürchteten Manipulationsmöglichkeiten
des geschiedenen Mannes im Hinblick auf eine Minderung des allfälligen
Witwenrentenanspruchs seiner geschiedenen Frau sind im übrigen nicht
derart gravierend, dass sie die Anwendung der AHV-rechtlichen Grundsätze
verbieten würden.

    bb) Zu prüfen ist demnach, ob die von der Rechtsprechung aufgestellten
Voraussetzungen der Konnexität (vgl. oben Erw. 2) erfüllt sind. Der enge
rechtliche und versicherungstechnische Zusammenhang zwischen Beitragsschuld
und Rentenanspruch wird durch die Ehescheidung deswegen nicht unterbrochen,
weil die für die Berechnung der Witwenrente anwendbaren AHV-rechtlichen
Bemessungsgrundlagen auch für den Witwenrentenanspruch geschiedener Frauen
gelten. Insbesondere wird die Witwenrente - wie gesagt - vorab aufgrund
des durchschnittlichen Erwerbseinkommens des Ehemannes berechnet (Art. 33
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 32 Abs. 1 AHVG). Daher ist das Vorliegen der
massgeblichen Konnexität zwischen den vom verstorbenen Beitragspflichtigen
geschuldeten persönlichen Beiträgen und der Witwenrente der geschiedenen
Frau zu bejahen.

Erwägung 4

    4.- Gesamthaft ergibt sich demnach, dass die vom verstorbenen Erwin
H. geschuldeten Beiträge mit der Margrit H. grundsätzlich zustehenden
Witwenrente verrechnet werden dürfen. Verrechenbar sind aber, wie in
Erw. 2 dargelegt, nur die nicht bezahlten persönlichen Beiträge (nicht
aber die paritätischen Beiträge) sowie die den persönlichen Beiträgen
entsprechenden Betreibungsspesen und Verwaltungskosten. Darauf hat
die Ausgleichskasse selbst in ihrer vorinstanzlichen Beschwerdeantwort
hingewiesen und den verrechenbaren Schuldbetrag von insgesamt Fr. 7'842.85
sowie ihr Restguthaben nach bereits erfolgter Verrechnung von Fr. 4'800.--
per 1. Oktober 1988 auf Fr. 3'042.85 beziffert. Dieser Betrag ist mit der
Witwenrente so weit zu verrechnen, als dadurch das betreibungsrechtliche
Existenzminimum der Margrit H. nicht berührt wird. Die Ausgleichskasse
beziffert dieses in ihrer vorinstanzlichen Beschwerdeantwort in
Übereinstimmung mit den Angaben des Betreibungsamtes ihres Wohnsitzes
unwidersprochen auf monatlich Fr. 1'720.--.

    Es wird nun Sache des kantonalen Verwaltungsgerichts sein, den
monatlich verrechenbaren Rentenbetrag den vorstehenden Erwägungen
entsprechend festzusetzen.