Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 V 285



115 V 285

38. Urteil vom 17. August 1989 i.S. Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt gegen G. und Versicherungsgericht des Kantons
Basel-Stadt Regeste

    Art. 20 Abs. 2 und 3 UVG, Art. 31 und 32 UVV: Berechnung der
Komplementärrenten für Invalide (in casu: Bezüger einer Invalidenrente
der IV).

    - Beim Zusammentreffen einer Invalidenrente der obligatorischen
Unfallversicherung mit einer Rente der IV oder der AHV ist gemäss
Art. 20 Abs. 2 UVG stets eine Komplementärrente zu gewähren. Bei deren
Berechnung sind die Renten der IV oder der AHV grundsätzlich in vollem
Umfang zu berücksichtigen (vgl. BGE 115 V 275).

    - Soweit die Art. 31 und 32 UVV den vorerwähnten Grundsatz der
vollen Anrechenbarkeit für Komplementärrenten an teilerwerbstätige
Hausfrauen, denen infolge eines Unfalls eine nach der gemischten Methode
(Art. 27bis IVV) zugesprochene einfache Rente der IV ausgerichtet wird,
gestützt auf die Delegationsnorm des Art. 20 Abs. 3 UVG uneingeschränkt
und ohne abweichende Regelung übernehmen, erweisen sie sich als gesetz-
und verfassungsmässig.

Sachverhalt

    A.- Marianne G. (geb. 1943) ist verheiratet und Mutter eines
1966 geborenen Sohnes. Sie übte seit 1977 neben der Besorgung ihres
Haushalts eine Teilzeitbeschäftigung aus und war in dieser Eigenschaft
bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch
versichert. Bei dieser Tätigkeit erzielte sie in der Zeit vom 21. Februar
1981 bis 20. Februar 1982 einen Verdienst von insgesamt Fr. 16'065.--. Am
21. Februar 1982 zog sie sich bei einem Unfall Verletzungen des
Steissbeines und des Rückens zu. Wegen anhaltender Beschwerden in
den Beinen und im Rücken musste sich die Versicherte lange dauernden
Behandlungen unterziehen und konnte ihre Erwerbstätigkeit nicht mehr
aufnehmen. Die Invalidenversicherung gewährte ihr aufgrund eines nach der
gemischten Methode ermittelten Invaliditätsgrades von mehr als 66 2/3%
eine ab 1. Februar 1983 laufende ganze einfache Invalidenrente (Verfügung
der AHV-Ausgleichskasse vom 24. Februar 1986).

    Die SUVA erbrachte die gesetzlichen Leistungen und richtete Marianne
G. u.a. eine Integritätsentschädigung von Fr. 17'400.-- aus. Ferner sprach
sie der Versicherten mit Verfügung vom 2. März 1987 u.a. ab 1. März 1987
eine Komplementärrente im Sinne von Art. 20 Abs. 2 UVG zu, deren Berechnung
sie 90%, des versicherten Verdienstes (d.h. Fr. 14'458.--) und die ganze
Rente der IV von jährlich Fr. 9'276.-- zugrunde legte, woraus sie einen
Rentenbetrag von Fr. 5'182.-- im Jahr bzw. Fr. 432.-- im Monat ermittelte.

    Eine gegen diese Verfügung erhobene Einsprache wies die SUVA mit
Entscheid vom 29. April 1987 ab.

    B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt hiess die dagegen
eingereichte Beschwerde hinsichtlich der Komplementärrentenberechnung
gut, hob die Verfügung vom 2. März 1987 auf und wies die SUVA an, bei der
Berechnung laut Art. 20 Abs. 2 UVG denjenigen Teil der IV-Rente ausser
acht zu lassen, mit dem die Unmöglichkeit der Besorgung des Haushalts
abgegolten werde (Entscheid vom 12. Januar 1988).

    C.- Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der
vorinstanzliche Entscheid sei hinsichtlich der angeordneten Berechnung
der Komplementärrente aufzuheben.

    Marianne G. schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV)
beantragt deren Gutheissung.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Anwendbares Recht)

Erwägung 2

    2.- (Vgl. BGE 115 V 278 Erw. 1.)

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall ist streitig, wie die der Beschwerdegegnerin
nach dem Unfall vom 21. Februar 1982 aufgrund der gemischten Methode
(Art. 27bis IVV) zugesprochene ganze Rente der IV bei der Berechnung
der Komplementärrente der obligatorischen Unfallversicherung zu
berücksichtigen ist. Während nach Auffassung der SUVA und des BSV die
Rente der IV gemäss Art. 20 Abs. 2 (und Abs. 3) UVG (in Verbindung
mit den Art. 31 und 32 UVV) in vollem Umfang anzurechnen ist, vertreten
Vorinstanz und Beschwerdegegnerin die Meinung, Art. 20 Abs. 2 UVG regle
(wie auch Art. 31 Abs. 4 UVG) das Zusammentreffen von Leistungen der IV
(bzw. der AHV) mit Renten der Unfallversicherung einer früher teilweise
erwerbstätigen Hausfrau nicht; deshalb seien die allgemeinen, von Lehre
und Rechtsprechung (im Rahmen von Art. 40 UVG bzw. 74 Abs. 3 KUVG)
entwickelten Grundsätze heranzuziehen. Weil entsprechend dem bei der
Überentschädigung massgebenden Grundsatz der sachlichen Kongruenz nur
wirtschaftlich gleichgerichtete Leistungen miteinander verglichen werden
dürften, sei die Rente der IV nach den in BGE 112 V 126 aufgestellten
Regeln bloss insoweit zu berücksichtigen, als sie die erwerbliche
Einschränkung abgelte; dagegen müsse jener Teil der Rente ausser acht
gelassen werden, der als Ausgleich für die Unmöglichkeit der Betätigung
im nichterwerblichen Aufgabenbereich (d.h. im Haushalt) bestimmt sei.

    a) Bei der Auslegung des Gesetzes ist von Bedeutung, dass
Art. 20 Abs. 2 UVG bei einem Anspruch auf eine Invalidenrente der
Unfallversicherung und dem gleichzeitigen "Anspruch auf eine Rente
der IV oder auf eine Rente der AHV" generell von der Gewährung einer
"Komplementärrente" spricht, deren Höhe grundsätzlich der Differenz
zwischen 90% des versicherten Verdienstes und "der Rente der IV oder
der AHV" entspricht. Ebenso ist in Art. 31 Abs. 4 UVG beim Anspruch auf
eine Hinterlassenenrente der Unfallversicherung und dem gleichzeitigen
"Anspruch auf Renten der AHV oder der IV" generell und uneingeschränkt
von der Gewährung einer "Komplementärrente" die Rede, welche ebenfalls
grundsätzlich der Differenz zwischen 90% des versicherten Verdienstes
und "den Renten der AHV oder der IV" entspricht. Die wörtliche Auslegung
dieser Bestimmungen ergibt somit, dass beim Zusammentreffen von Renten
der Unfallversicherung mit solchen der IV oder der AHV dem Versicherten
bzw. gegebenenfalls seinen Hinterlassenen stets ein Anspruch auf eine
Komplementärrente zusteht, bei deren Berechnung die Renten der IV oder der
AHV grundsätzlich in vollem Umfang zu berücksichtigen sind. Da der Wortlaut
von Art. 20 Abs. 2 (und 31 Abs. 4) UVG klar ist, besteht aufgrund dieser
Vorschriften kein Raum für eine gestützt auf die allgemeinen Grundsätze
der Überversicherung bzw. der Kongruenz abweichende Auslegung mit einer
nur teilweisen Anrechnung der genannten Renten (BGE 114 V 135 f. Erw. 2b
und 3a, 113 V 77 Erw. 3b und c sowie 109 Erw. 4a mit Hinweisen). Dazu
besteht umso weniger Anlass, als die erwähnte Bedeutung des Wortlautes
auch dem Sinn und Zweck der Bestimmungen entspricht. Denn der Gesetzgeber
hat mit der Einführung der Komplementärrenten die früheren allgemeinen
Überentschädigungsregeln (Art. 45 IVG bzw. Art. 39bis IVV; Art. 48 AHVG
resp. Art. 66quater AHVV), welche laufende Überprüfungen und Anpassungen
der Kürzungssätze erforderten, bewusst vereinfachen und durch das neue
Koordinationssystem ersetzen wollen, womit er eines der wichtigsten
Revisionsziele zu verwirklichen beabsichtigte (vgl. Botschaft zum
Bundesgesetz über die Unfallversicherung vom 18. August 1976, BBl
1976 III 170 f. und 224 f.; SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens von
Schadenausgleichssystemen, Basel 1984, S. 359, Rz. 1045 und N. 3; MAURER,
Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 381 und 437 f.; SEILER,
Der Entwurf zu einem neuen Unfallversicherungsgesetz, SZS 1977 S. 25
f. und 29; siehe auch KOHLER, Surindemnisation choquante dans la LAA,
en cas de salaire résiduel, SZS 1987 S. 289). Dabei wurde mit der neuen
Komplementärrentenregelung eine einfache und sozial vertretbare Kombination
zwischen den Systemen der AHV/IV und der Unfallversicherung angestrebt,
bei der sich nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers eine
"eigentliche Systemkongruenz" nicht bewerkstelligen liess (BBl 1976 III
170). Die von Beschwerdegegnerin und Vorinstanz anhand des Grundsatzes der
Kongruenz bzw. der sachlichen Übereinstimmung von Leistungen vorgetragene
Argumentation ist auch deshalb nicht zulässig, weil der Richter die als
Ausfluss des Systemwechsels unmittelbar aus dem Gesetz sich u.a. ergebenden
Grundsätze der Komplementärrentenregelung mit einer prinzipiell vollen
Anrechenbarkeit der AHV/IV-Renten hinzunehmen hat (vgl. zum Grundsatz
der Kongruenz SCHAER, aaO, S. 158 f., 361 und 391 ff.; VPB 1987 Nr. 2
S. 19 Ziff. 3; BGE 112 V 128 f., je mit weiteren Hinweisen). Entgegen
den Meinungen von Beschwerdegegnerin und Vorinstanz kann zudem aus den im
Rahmen von Art. 40 UVG sowie Art. 74 Abs. 3 KUVG entwickelten - und hier
nicht anwendbaren (vgl. BGE 115 V 279 Erw. 1c) - Überentschädigungsregeln
ebensowenig etwas anderes abgeleitet werden wie aus BGE 112 V 126, weil es
in diesem Urteil - anders als im vorliegenden Fall - um ein Zusammentreffen
von Invalidenrenten der IV mit Krankengeld der Unfallversicherung ging
und deshalb die genannten Regeln zu berücksichtigen waren. Die durch den
kantonalen Richter und die Beschwerdegegnerin anhand der in BGE 112 V
126 angeführten Grundsätze befürwortete lediglich teilweise Anrechnung
der IV-Renten von teilerwerbstätigen Hausfrauen erweist sich demzufolge
unter dem Gesichtspunkt des Art. 20 Abs. 2 UVG als unzutreffend.

    b) (Vgl. BGE 115 V 281 Erw. 3b; die dortigen Ausführungen über die in
Art. 31 und 32 UVV - gestützt auf die Delegationsnorm von Art. 20 Abs. 3
UVG - aufgestellte Ordnung bezüglich der teilerwerbstätigen Altersrentner
gelten im wesentlichen auch hinsichtlich der hier zu beurteilenden Frage
der Gesetz- und Verfassungsmässigkeit der Regelung bei teilerwerbstätigen
Hausfrauen.)

    c) Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Komplementärrente der
Beschwerdegegnerin richtigerweise nach der Grundregel des Art. 20
Abs. 2 UVG berechnet worden ist. Insoweit steht unbestrittenermassen
fest, dass die SUVA an sich korrekt vorgegangen ist, indem sie den 90%
des versicherten Verdienstes (d.h. Fr. 14'458.--) die ganze Rente der
IV von jährlich Fr. 9'276.-- gegenübergestellt hat, womit sich aus der
Differenzberechnung eine Komplementärrente von Fr. 5'182.-- im Jahr
ergibt. Die Verfügung und der Einspracheentscheid der SUVA erweisen sich
daher als rechtmässig.

Erwägung 4

    4.- (Parteientschädigung)

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 12. Januar 1988
insoweit aufgehoben, als die SUVA zur Neuberechnung der Komplementärrente
verpflichtet wurde.