Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 V 208



115 V 208

30. Auszug aus dem Urteil vom 23. Juni 1989 i.S. H. gegen
Personalfürsorgestiftung der N. AG und Versicherungsgericht des Kantons
Obwalden Regeste

    Art. 23 und 24 Abs. 1 BVG, Art. 6 und 49 Abs. 2 BVG: Bemessung der
Invalidität durch die Vorsorgeeinrichtungen.

    - Der Begriff der Invalidität im obligatorischen Bereich
der beruflichen Vorsorge ist grundsätzlich derselbe wie in der
Invalidenversicherung. Im Bereich der weitergehenden Vorsorge steht es den
Vorsorgeeinrichtungen frei, den Invaliditätsbegriff selber zu bestimmen;
ebenso können sie ihn im obligatorischen Bereich zugunsten des Versicherten
erweitern (Erw. 2b).

    - Gehen die Vorsorgeeinrichtungen vom gleichen Invaliditätsbegriff
aus wie die Invalidenversicherung, ist die Invaliditätsschätzung durch die
Invalidenversicherungs-Kommission für die Vorsorgeeinrichtung verbindlich,
ausser sie erweist sich als offensichtlich unhaltbar (Erw. 2c).

    Art. 84 AHVG in Verbindung mit Art. 69 IVG, Art. 76 IVV:
Beschwerderecht der Vorsorgeeinrichtungen gegen die Verfügungen der
Ausgleichskassen. Steht den Vorsorgeeinrichtungen ein selbständiges
Beschwerderecht gegen die Verfügungen der Ausgleichskassen zu und ist ihnen
von Amtes wegen eine Verfügung zuzustellen? Frage offengelassen (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Heinz H. (geb. 1925) arbeitete vom 1. September 1975 bis
30. September 1986 im Aussendienst der Firma N. AG und gehörte der
Versicherungskasse der Personalfürsorge-Stiftung dieser Firma an. Seit
1. Juni 1982 bezieht er eine Rente der Invalidenversicherung, welche bis
31. Dezember 1986 auf der Annahme eines hälftigen Invaliditätsgrades
basierte und seit 1. Januar 1987 unter Zugrundelegung einer
Erwerbsunfähigkeit von mehr als zwei Dritteln ausgerichtet wird.

    Am 13. Oktober 1986 ersuchte der Versicherte die
Personalfürsorge-Stiftung um Prüfung des Anspruchs auf eine
Invalidenrente. Der Stiftungsrat lehnte das Begehren am 1. Oktober
1987 ab mit der Begründung, das Arbeitsverhältnis sei ordnungsgemäss
durch Kündigung aufgelöst worden und bis zu diesem Zeitpunkt habe keine
vollständige dauernde Erwerbsunfähigkeit bestanden. Dies teilte er dem
Versicherten mit Schreiben vom 26. Oktober 1987 mit.

    B.- Klageweise liess Heinz H. die Zusprechung einer vollen
Invalidenrente ab 1. August 1986 geltend machen, da er ab diesem Zeitpunkt
vollständig arbeitsunfähig gewesen sei. Das Versicherungsgericht des
Kantons Obwalden wies die Klage mit Entscheid vom 21. Juli 1988 ab.

    C.- Heinz H. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und das im
kantonalen Verfahren gestellte Begehren erneuern.

    Während die Personalfürsorge-Stiftung auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, beantragt das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) deren Gutheissung.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Anspruch auf Invalidenleistungen haben gemäss Art. 23 BVG
Personen, die im Sinne der Invalidenversicherung zu mindestens 50%
invalid sind und bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, deren Ursache zur
Invalidität geführt hat, versichert waren. Nach Art. 24 Abs. 1 BVG hat der
Versicherte Anspruch auf eine volle Invalidenrente, wenn er im Sinne der
Invalidenversicherung mindestens zu zwei Dritteln, auf eine halbe Rente,
wenn er mindestens zur Hälfte invalid ist. Für den Beginn des Anspruchs
auf Invalidenleistungen gelten gemäss Art. 26 Abs. 1 BVG in der hier
anwendbaren, bis Ende 1987 gültig gewesenen Fassung die entsprechenden
Bestimmungen des IVG (Art. 29).

    Diese Vorschriften gehen den von den Vorsorgeeinrichtungen erlassenen
Bestimmungen vor (Art. 50 Abs. 3 BVG).

    b) Das BVG definiert den Begriff der Invalidität nicht, sondern
verweist auf die Invalidenversicherung (vgl. auch Art. 1 Abs. 1
lit. d und Art. 4 BVV 2). Im Bereich der obligatorischen Versicherung
(somit in jenem Bereich, wo sich die Invalidenrente nach dem gemäss
Art. 24 Abs. 2 BVG zugrundezulegenden Altersguthaben berechnet)
besteht eine vom Gesetzgeber gewollte enge Verbindung zwischen dem
Recht auf eine Rente der Invalidenversicherung und demjenigen auf
eine Rente der zweiten Säule. Daraus ergibt sich, dass der Begriff der
Invalidität im obligatorischen Bereich der beruflichen Vorsorge und in
der Invalidenversicherung grundsätzlich der gleiche ist (Botschaft des
Bundesrates zum Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen-
und Invalidenvorsorge vom 19. Dezember 1975, BBl 1976 I 232; ZAK 1984
S. 519 Ziff. 2; HELBLING, Personalvorsorge und BVG, 3. Aufl., S. 190;
GREBER, Les prestations relatives à l'invalidité servies par d'autres
régimes que l'AI, in Cahiers genevois de sécurité sociale, Nr. 3/4, S. 74;
HÄBERLE, Berufliche Vorsorge von Behinderten, SZS 1985 S. 132). Er bedeutet
demnach die durch einen versicherten Gesundheitsschaden verursachte
dauernde oder während längerer Zeit bestehende Beeinträchtigung der
Erwerbsmöglichkeiten auf dem für den Versicherten in Betracht fallenden
ausgeglichenen Arbeitsmarkt (BGE 109 V 23, 106 V 88 Erw. 2b, 105 V
207 Erw. 2, 98 V 169 Erw. 2; vgl. auch RÜEDI, Invalidität, Luzerner
Rechtsseminar, Luzern 1986, VII). Für die Bemessung der Invalidität wird
das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität
und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm
zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte,
in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn
er nicht invalid geworden wäre (Art. 28 Abs. 2 IVG).

    Im Bereich der weitergehenden Vorsorge demgegenüber können die
Vorsorgeeinrichtungen den Invaliditätsbegriff gestützt auf die Autonomie
gemäss Art. 49 Abs. 2 BVG in den Statuten oder Reglementen selber bestimmen
(HELBLING, aaO, S. 190; RIEMER, Verhältnis des BVG (Obligatorium und
freiwillige berufliche Vorsorge) zu anderen Sozialversicherungszweigen
und zum Haftpflichtrecht, SZS 1987 S. 123 f.; derselbe, Das Recht der
beruflichen Vorsorge in der Schweiz, S. 38, N. 41 zu § 1). Sie können
somit grosszügigere als die gesetzlich umschriebenen Leistungen vorsehen
und z.B. bereits bei "Berufsinvalidität", also bei Arbeitsunfähigkeit
hinsichtlich der angestammten Tätigkeit Leistungen gewähren oder im
Falle der Unmöglichkeit, eine bestimmte, der Ausbildung des Versicherten
entsprechende Berufsart auszuüben (Botschaft vom 19. Dezember 1975, BBl
1976 I 232; GREBER, aaO, S. 76 f.). Diese zweite Lösung stellt in dem Sinne
eine Begünstigung insbesondere der beruflich qualifizierten Versicherten
dar, als im Invaliditätsfall eine berufliche Schlechterstellung vermieden
werden soll (BERENSTEIN, Etudes de droit social 1936-1977, Hommage de la
Faculté de droit, Mémoires publiés par la Faculté de droit, Genf 1979,
S. 305). Das zumutbare Erwerbseinkommen bemisst sich in diesen Fällen
somit nicht nach dem auf dem gesamten für den Versicherten in Frage
kommenden Arbeitsmarkt erzielbaren Verdienst (vgl. hiezu in bezug auf
die Invalidenversicherung BGE 113 V 28 Erw. 4a).

    Gestützt darauf, dass das BVG gemäss Art. 6 nur die Mindestleistungen
bestimmt, steht es den Vorsorgeeinrichtungen auch frei, den
Invaliditätsbegriff in der obligatorischen Versicherung zugunsten
des Versicherten zu erweitern oder Invalidenrenten schon bei einem
Invaliditätsgrad von weniger als 50 Prozent auszurichten (Botschaft
des Bundesrates über die zweite Revision der Invalidenversicherung vom
21. November 1984, BBl 1985 I 40; RIEMER, aaO, S. 123 f.).

    Die Gestaltungsfreiheit nach Art. 6 und 49 Abs. 2 BVG bedeutet
allerdings nicht uneingeschränktes Ermessen. Wenn die Vorsorgeeinrichtungen
in ihren Statuten oder Reglementen einen bestimmten Invaliditätsbegriff
verwenden, so haben sie bei der Interpretation darauf abzustellen,
was in anderen Gebieten der Sozialversicherung (vgl. z.B. in bezug
auf die Arbeitsunfähigkeit im angestammten Beruf BGE 111 V 239
Erw. 1b mit Hinweisen) oder nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen
(vgl. z.B. BGE 113 II 347 Erw. 1a mit Hinweisen) darunter verstanden
wird. Die Vorsorgeeinrichtungen sind mithin frei in der Wahl des
Invaliditätsbegriffs, sie haben sich aber an eine einheitliche
Begriffsanwendung zu halten.

    c) Gehen die Vorsorgeeinrichtungen ausdrücklich oder unter
Hinweis auf das Gesetz vom gleichen Invaliditätsbegriff aus wie
die Invalidenversicherung - was sowohl in der obligatorischen als
auch in der weitergehenden Vorsorge der Fall sein kann -, sind sie
hinsichtlich des versicherten Ereignisses an die Invaliditätsschätzung
der zuständigen Stellen der Invalidenversicherung gebunden. Andernfalls
müssten die Vorsorgeeinrichtungen jeden angemeldeten Fall parallel zur
Invalidenversicherung und nach denselben Kriterien sehr eingehend, vor
allem medizinisch untersuchen. Dies würde häufig unnötig Schwierigkeiten
mit sich bringen und birgt zudem das Risiko in sich, dass die Abklärungen
zu unterschiedlichen Schätzungen und demzufolge - trotz des identischen
Invaliditätsbegriffs - zu verschiedenen Ergebnissen führen. Das entspricht
nicht dem Sinn und dem Ziel des BVG. Vielmehr muss das Interesse an
einer einheitlichen Auslegung gleicher Rechtsbegriffe vorgehen. Auch
wollte der Gesetzgeber durch die Anlehnung an die Begriffsdefinition der
Invalidenversicherung den Vorsorgeeinrichtungen die Arbeit erleichtern,
indem sie auf den Entscheid der Invalidenversicherungs-Kommission abstellen
können (Botschaft vom 19. Dezember 1975, BBl 1976 I 232). Sodann wird mit
einer einheitlichen Beurteilung desselben Versicherungsfalles durch die
Invalidenversicherung und die berufliche Vorsorge der verfassungsmässigen
Zuordnung der beruflichen Vorsorge als Ergänzung der ersten Säule,
der AHV/IV, am besten entsprochen. Allerdings ist der Entscheid der
Organe der Invalidenversicherung für die Vorsorgeeinrichtungen nicht
absolut verbindlich, indem sie davon abweichen können, wenn er sich als
offensichtlich unhaltbar erweist. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, dass
auch die formell rechtskräftigen Verfügungen in der Invalidenversicherung,
die nicht Gegenstand einer materiellen gerichtlichen Beurteilung bildeten,
von Amtes wegen und jederzeit in Wiedererwägung gezogen werden können,
wenn sie zweifellos unrichtig sind und ihre Berichtigung von erheblicher
Bedeutung ist (BGE 112 V 373 Erw. 2c, 111 V 332 Erw. 1, 110 V 178 Erw. 2a
und 292 Erw. 1 mit Hinweisen).

    Anders ist die Situation, wenn die Vorsorgeeinrichtungen einen anderen
Invaliditätsbegriff verwenden als die Invalidenversicherung. Hier
rechtfertigt sich eine selbständige Prüfung. Wohl können die
Vorsorgeeinrichtungen im Einzelfall auf die Untersuchungsergebnisse der
Invalidenversicherungs-Kommission (medizinische und erwerbliche Erhebungen)
abstellen, aber sie sind nicht an deren Entscheid gebunden, weil dieser
auf anderen Kriterien beruht.

Erwägung 3

    3.- Aus dem Gesagten folgt, dass die Verfügungen der
Ausgleichskassen über Rentenleistungen der Invalidenversicherung für die
Vorsorgeeinrichtungen von grosser Bedeutung sind. Es wird sich daher die
Frage stellen, ob den Vorsorgeeinrichtungen gestützt auf Art. 84 AHVG
in Verbindung mit Art. 69 IVG ein selbständiges Beschwerderecht gegen
die Rentenverfügungen der Ausgleichskassen zusteht und - was vor allem
von praktischem Interesse ist - ob ihnen von Amtes wegen eine Verfügung
zuzustellen ist, wie dies Art. 76 IVV für die Unfallversicherer, die
Militärversicherung und die Krankenkassen vorsieht. Im vorliegenden Fall
braucht sich das Eidg. Versicherungsgericht indessen mit dieser Problematik
nicht auseinanderzusetzen.

Erwägung 4

    4.- a) Gemäss Art. 12 Abs. 1 des Reglements der
Personalfürsorge-Stiftung der N. AG (gültig ab 1. Januar 1977) hat der
Versicherte Anspruch auf eine Invalidenrente, wenn er "aus gesundheitlichen
Gründen dauernd vollständig arbeitsunfähig wird und ausserstande ist, seine
bisherigen beruflichen Aufgaben zu erfüllen oder eine andere, ihm zumutbare
Erwerbstätigkeit auszuüben". Scheidet ein Versicherter aus anderen Gründen
als Invalidität, Alter oder Tod aus dem Dienst der Firma aus, so hat dies
auch den Austritt aus der Kasse zur Folge (Art. 7 Abs. 1). In diesen Fällen
hat er Anspruch auf eine Austrittsleistung gemäss Art. 20 des Reglements.

    Laut Ziff. 2 der "Reglements-Anpassungen an das BVG" vom 21 Dezember
1984 wurde neu Art. 36 ins Reglement eingefügt, der unter dem Titel
Übergangsbestimmungen vorsieht, dass das Reglement bis zur Anpassung an
das BVG innerhalb der gesetzlichen Frist zwar noch in allen Teilen gilt,
dass bei Abweichungen vom BVG aber das Gesetz Vorrang hat.

    b) Daraus ergibt sich, dass für die Beurteilung des Anspruchs
des Beschwerdeführers auf eine Invalidenrente aus der obligatorischen
Versicherung - nach der Aktenlage stehen ihm keine Leistungen aus der
weitergehenden Vorsorge zu - nur die Bestimmungen des BVG massgebend
sind. Der Beschwerdeführer bezieht seit 1. Januar 1987 auf der
Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von mehr als zwei Dritteln eine
ganze Rente der Invalidenversicherung. Nach dem in Erw. 2c Gesagten
ist im vorliegenden Fall auf die Invaliditätsschätzung durch die
Invalidenversicherungs-Kommission abzustellen. Der Beschwerdeführer hat
daher gemäss Art. 24 Abs. 1 BVG Anspruch auf eine volle Invalidenrente der
Personalfürsorge-Stiftung, wenn die Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 23
BVG in einem Zeitpunkt eingetreten ist, in welchem er der beruflichen
Vorsorge noch unterstand. Die infolge der seit Juni 1982 bestehenden
Teilinvalidität bereits reduzierte Arbeitsfähigkeit muss sich demnach
während der Versicherungsdauer nochmals derart verschlechtert haben,
dass in der Folge Anspruch auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung
entstand. Nicht massgebend ist - wie das BSV zutreffend ausführt -, dass
der Zeitpunkt des Eintritts der Invalidität (1. Januar 1987) ausserhalb
der BVG-Versicherungszeit liegt (Botschaft vom 19. Dezember 1975, BBl
1976 I 232).

    Für die Beurteilung des Zeitpunkts, in welchem die Verschlechterung
der Arbeitsfähigkeit eingetreten ist, kann ebenfalls auf den Entscheid
der Invalidenversicherungs-Kommission abgestellt werden, zumal Art. 26
Abs. 1 BVG ausdrücklich auf Art. 29 IVG verweist. Es ist demnach davon
auszugehen, dass der Beschwerdeführer am 1. Januar 1987 ohne wesentliche
Unterbrechung drei Monate zu mehr als zwei Dritteln erwerbsunfähig war
(Art. 88a Abs. 2 IVV). Für die berufliche Vorsorge bedeutet dies, dass
der Beginn der zur vollständigen Invalidität führenden Verschlechterung
der Arbeitsfähigkeit sicher vor dem 30. Oktober 1986 (30 Tage nach
Beendigung des Arbeitsverhältnisses; Art. 10 Abs. 3 BVG) und damit
eingetreten war, als der Beschwerdeführer der Versicherungskasse der
Personalfürsorge-Stiftung noch angehörte. Er hat demnach Anspruch auf
eine Invalidenrente der Personalfürsorge-Stiftung.