Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 V 147



115 V 147

22. Auszug aus dem Urteil vom 29. März 1989 i.S. Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt gegen M. und Versicherungsgericht des Kantons
Aargau Regeste

    Art. 24 Abs. 1 und 25 Abs. 1 UVG, Art. 36 UVV: Integritätsentschädigung
bei Beeinträchtigung des Sehvermögens. Für die Beurteilung des
Integritätsschadens ist nicht der - mittels Brille oder Kontaktlinsen -
korrigierte, sondern der unkorrigierte Visus massgebend.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Erleidet der Versicherte durch den Unfall eine dauernde erhebliche
Schädigung der körperlichen oder geistigen Integrität, so hat er gemäss
Art. 24 Abs. 1 UVG Anspruch auf eine angemessene Integritätsentschädigung.

    Die Bemessung der Integritätsentschädigung richtet sich laut Art. 25
Abs. 1 UVG nach der Schwere des Integritätsschadens. Diese beurteilt sich
nach dem medizinischen Befund. Bei gleichem medizinischen Befund ist der
Integritätsschaden für alle Versicherten gleich; er wird abstrakt und
egalitär bemessen. Die Integritätsentschädigung der Unfallversicherung
unterscheidet sich daher von der privatrechtlichen Genugtuung, mit welcher
der immaterielle Nachteil individuell unter Würdigung der besonderen
Umstände bemessen wird. Es lassen sich im Gegensatz zur Bemessung der
Genugtuungssumme im Zivilrecht (vgl. BGE 112 II 133 Erw. 2) ähnliche
Unfallfolgen miteinander vergleichen und auf medizinischer Grundlage
allgemeingültige Regeln zur Bemessung des Integritätsschadens aufstellen;
spezielle Behinderungen des Betroffenen durch den Integritätsschaden
bleiben dabei unberücksichtigt. Die Bemessung des Integritätsschadens
hängt somit nicht von den besonderen Umständen des Einzelfalles ab; auch
geht es bei ihr nicht um die Schätzung erlittener Unbill, sondern um die
medizinisch-theoretische Ermittlung der Beeinträchtigung der körperlichen
oder geistigen Integrität, wobei subjektive Faktoren ausser acht zu lassen
sind (BGE 113 V 221 Erw. 4b mit Hinweisen).

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall ist streitig, ob der Beschwerdegegner
für die unfallbedingte Visusverminderung des rechten Auges eine
Integritätsentschädigung beanspruchen kann. Dies hängt davon ab, ob bei
der Ermittlung eines Integritätsschadens auf den unkorrigierten oder den -
mittels Brille oder Kontaktlinsen - korrigierten Visus abzustellen ist.

    a) Die Vorinstanz entschied, dass der unkorrigierte Visus massgebend
sei. Die abstrakt-egalitäre Bemessung des Integritätsschadens nach
dem medizinischen Befund schliesse aus, dass Hilfsmittel, auf
die der Versicherte zum Ausgleich von körperlichen Schädigungen
oder Funktionsausfällen Anspruch hat, bei der Feststellung des
Integritätsschadens mit berücksichtigt werden. Während bei Hilfsmitteln
der materielle Ausgleich des Schadens im Vordergrund stehe, bezwecke
die Integritätsentschädigung in erster Linie den Ausgleich immaterieller
Nachteile. Die beiden Leistungsarten ergänzten sich und stünden nicht in
einem Prioritäts- oder Subsidiaritätsverhältnis, wie dies im Bereich der
Invalidenversicherung für Eingliederungsmassnahmen und Rentenleistungen
zutreffe. Dementsprechend habe der Umstand, dass ein anatomisches oder
funktionelles Defizit durch Hilfsmittel mehr oder weniger vollständig
ausgeglichen werden kann, nicht eine Reduktion der Integritätsentschädigung
zur Folge. Ein Anlass, bei Augenschädigungen von diesen Grundsätzen
abzuweichen, bestehe nicht.

    b) Zur Begründung ihres Standpunktes, für die Bemessung eines
Integritätsschadens sei auf den korrigierten Visus abzustellen, macht
die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) im wesentlichen
geltend, dass bei der Korrektur einer Visusverminderung durch Brille
oder Kontaktlinse mit der Wirkung einer Normalsichtigkeit nicht von
einer starken Beeinträchtigung der körperlichen Integrität die Rede sein
könne. Brille und Kontaktlinse zur Korrektur einer verminderten Sehkraft
seien nicht Hilfsmittel im eigentlichen Sinne. Substanzverluste könnten
durch Exo- und Endoprothesen nur behelfsmässig ersetzt werden, während die
Visusbeeinträchtigung eines morphologisch intakten Auges, bei dem kein
makroskopischer Substanzverlust besteht, mittels Brille oder Haftschale
im Idealfall vollständig behoben werden könne. Das Tragen einer Brille
oder von Kontaktlinsen sei weder augenfällig noch stark beeinträchtigend
und werde - im Unterschied zu anderen medizinischen Hilfsmitteln - im
Alltagsleben nicht mehr als Gebrechen oder erhebliche Integritätseinbusse
empfunden. Würde die Notwendigkeit, zur Korrektur der Sehkraft eine
Brille oder Kontaktlinsen zu verwenden, als entschädigungspflichtig im
Sinne von Art. 24 f. UVG angenommen, so käme dies einer Qualifizierung
von 45% der schweizerischen Bevölkerung, entsprechend dem Anteil der
Brillen- und Haftschalenträger, als erheblich Integritätsgeschädigten
gleich. Im Vergleich zu Hörapparaten, deren Verwendung mit wesentlichen
Nachteilen verbunden sei, liege ein qualitativer Unterschied vor. In
ihrer Stellungnahme vom 2. November 1988 machen die Augenärzte
Dres. med. A. und B. von der SUVA-Abteilung Unfallmedizin sodann
u.a. geltend, das Abstellen auf generell unkorrigierte Visuswerte würde zu
kaum lösbaren Vollzugsproblemen führen; die unkorrigierte Sehschärfe sei
als Mass der Sehleistung ungeeignet, weil sie im Gegensatz zur allgemein
üblichen Bestimmung der korrigierten Sehschärfe nicht standardisiert und
demzufolge nicht zuverlässig reproduzierbar sei. Des weitern erörtern sie
medizinische Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Feststellung von
Integritätsschäden bei verschiedenen Augenleiden ergeben.

Erwägung 3

    3.- a) Der Wortlaut von Art. 24 Abs. 1 UVG, welcher für die
Auslegung einer Gesetzesbestimmung in erster Linie massgebend ist
(BGE 113 V 109 Erw. 4a mit Hinweisen), ist klar: Der Anspruch auf eine
Integritätsentschädigung setzt voraus, dass der Versicherte durch den
Unfall eine dauernde erhebliche Schädigung der körperlichen oder geistigen
Integrität erleidet. Eine solche Schädigung besteht meistens in einem
anatomischen, funktionellen, geistigen oder psychischen Defizit (MAURER,
Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 414). Entscheidend ist somit,
ob der Versicherte eine derartige Schädigung erlitten hat. Ob diese dank
einem Hilfsmittel mehr oder weniger vollständig ausgeglichen werden kann
mit der Folge, dass sie sich im täglichen Leben nicht mehr oder nur noch
in geringem Masse nachteilig auswirkt, ist hingegen unerheblich. Die
gegenteilige Auffassung verkennt den Zweck der Integritätsentschädigung,
durch eine pekuniäre Leistung einen gewissen Ausgleich zu bieten für
körperliche Schmerzen, Leid, verminderte Lebensfreude, Beeinträchtigung
des Lebensgenusses und ähnliche Ursachen seelischen Unbehagens (MAURER,
aaO, S. 413 f.; vgl. auch BGE 113 V 222 oben); diese Beeinträchtigungen
bestehen unabhängig von Ausgleichsmöglichkeiten durch Hilfsmittel.

    b) Die von der SUVA vorgetragenen Argumente, mit welchen für
Augenschäden eine Abweichung vom Grundsatz der abstrakten und egalitären
Bemessung der Integritätsentschädigung aufgrund des medizinischen
Befundes (Erw. 1 hievor) postuliert wird, indem auf die korrigierte
Visusverminderung abgestellt und somit individuellen Besonderheiten
(Verträglichkeit von Kontaktlinsen u.ä.) Rechnung getragen würde,
sind nicht stichhaltig. Wie das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV)
zutreffend bemerkt, ändert die Möglichkeit, einen Visusverlust mittels
Brille oder Kontaktlinsen ganz oder teilweise zu korrigieren, nichts an
der Tatsache, dass die Augenschädigung von einem bestimmten Grad an eine
erhebliche Schädigung der körperlichen Integrität darstellt. Der Umstand,
dass wenigstens ein Teil der von Unfallfolgen betroffenen Versicherten
keiner gesellschaftlichen Diskriminierung ausgesetzt ist, hat ebenfalls
keinen Einfluss auf das objektive Ausmass einer Behinderung. Als verfehlt
erweist sich die Auffassung der SUVA, der Integritätsschaden bestehe in
der Notwendigkeit, eine Brille oder Kontaktlinsen zu tragen, und diese
Korrekturmittel seien nicht als eigentliche Hilfsmittel zu betrachten. Als
Integritätsschaden gilt die Beeinträchtigung der Integrität. Die
Notwendigkeit, Kontaktlinsen oder eine Brille zu tragen, ist lediglich
eine Folge dieses Schadens. Praxisgemäss ist unter einem Hilfsmittel
ein Gegenstand zu verstehen, dessen Gebrauch den Ausfall gewisser Teile
oder Funktionen des menschlichen Körpers zu ersetzen vermag (BGE 112
V 15 Erw. 1b, 101 V 269 Erw. 1b; ZAK 1986 S. 341 Erw. 1b). Dass dies
auf Brillen und Kontaktlinsen zutrifft, kann nicht ernstlich bestritten
werden, weshalb diese denn auch vom Eidgenössischen Departement des Innern
in die im Anhang zur HVUV enthaltene Hilfsmittelliste (Ziff. 7.01 und
7.02) aufgenommen wurden (vgl. ferner Art. 21 Abs. 1 IVG und Ziff. 7
HVI-Anhang). Dass beinahe die Hälfte der schweizerischen Bevölkerung auf
eine Brille oder Kontaktlinsen angewiesen und damit erheblich in ihrer
Integrität geschädigt ist, wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde des
weiteren vorgebracht wird, mag zutreffen, ist jedoch im vorliegenden
Zusammenhang ohne Belang, handelt es sich doch dabei zum grössten
Teil nicht um unfallbedingte Augenleiden. Im übrigen führt das BSV
in seiner Vernehmlassung zu Recht aus, dass die Häufigkeit eines
Schadens diesen keinesfalls mindert. Unerheblich ist auch der Hinweis
auf die "Beurteilungspraxis der Schweizerischen Ophthalmologischen
Gesellschaft in Fragen von Visusschädigungen". Denn bei der Frage, ob
die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Integritätsentschädigung
gemäss Art. 24 UVG erfüllt sind, handelt es sich um eine Rechtsfrage, die
vom Richter und nicht vom Mediziner zu beurteilen ist. Aus dem gleichen
Grund ist dem Beweisantrag der SUVA, es sei bei der Schweizerischen
Ophthalmologischen Gesellschaft ein Gutachten über die bisherige
augenärztliche Beurteilungspraxis in der allgemeinen Unfallversicherung
und die Empfehlungen zur Integritätsschätzung im UVG einzuholen, nicht
stattzugeben. Da in der Stellungnahme der Abteilung Unfallmedizin der SUVA
vom 2. November 1988 im wesentlichen medizinische Aspekte erörtert und
keine neuen rechtlich relevanten Argumente vorgetragen werden, erübrigt
es sich, auf diese Eingabe näher einzugehen. Die von den Augenärzten
angedeuteten Vollzugsprobleme beim Abstellen auf unkorrigierte Werte
vermögen an der Tatsache, dass die von der SUVA befürwortete Basis
(korrigierter Visus) einer gesetzlichen Grundlage entbehrt, nichts
zu ändern.