Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IV 90



115 IV 90

20. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 23. Juni
1989 i.S. K. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 13 Abs. 1, 44 Ziff. 1 und 6, 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB.

    Bei anerkanntem Zusammenhang zwischen den Straftaten und der
Drogensucht darf der Richter ohne Beizug eines Gutachtens nicht schon
aufgrund fehlender körperlicher Abhängigkeitssymptome die Notwendigkeit
einer ambulanten Massnahme und eines damit verbundenen Aufschubs des
Strafvollzuges verneinen (E. 3 und 4).

Sachverhalt

    A.- Die Kriminalkammer des Kantons Thurgau verurteilte K. am
16. Januar 1989 wegen verschiedener Delikte (wiederholte Widerhandlungen
gegen das Betäubungsmittelgesetz, Hehlerei, Nichtbezahlung des
Militärpflichtersatzes), begangen im Rückfall und im Zustand leicht
verminderter Zurechnungsfähigkeit, zu einer Gefängnisstrafe von 12 Monaten,
unter Verweigerung des bedingten Strafvollzuges.

    B.- Mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde beantragt der
Verurteilte Aufhebung des Urteils und Rückweisung der Sache zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz.

    C.- Die Kriminalkammer und die Staatsanwaltschaft beantragen Abweisung
der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, der Richter
habe gemäss Art. 13 Abs. 1 StGB i.V. m. Art. 44 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
eine psychiatrische Untersuchung des Angeklagten anzuordnen, wenn zum
Entscheid über die Anordnung einer sichernden Massnahme Erhebungen über
dessen körperlichen oder geistigen Zustand nötig seien. Die hier in
Frage stehende Massnahme, eine ambulante Behandlung unter Aufschub des
Vollzuges der Strafe im Sinne von Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 i.V.m. Ziff. 6
und Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB, setze die Abklärung der Drogensüchtigkeit,
den Zusammenhang der Drogensucht mit den begangenen Delikten, die Eignung
der Massnahme, eine Rückfallgefahr zu vermindern oder zu verhindern, und
ihre Verträglichkeit mit einem allfälligen Strafvollzug voraus. Gemäss
BGE 102 IV 76 könne die psychiatrische Abklärung nur unterbleiben, wenn
die Anordnung einer solchen Massnahme von vornherein ausgeschlossen sei.

    b) Die Vorinstanz hat den entsprechenden Antrag des Beschwerdeführers
abgewiesen. Sie räumt zwar einen Zusammenhang zwischen den Straftaten
und seiner Drogenabhängigkeit ein, schliesst jedoch aus den Akten, dass
er nunmehr drogenfrei sei. Aus dem Bericht des sozialpsychiatrischen
Dienstes ergebe sich im übrigen, dass die im November 1988 begonnene
psychotherapeutische Behandlung nicht im Zusammenhang mit der
vergangenen Drogenproblematik des Beschwerdeführers stehe, sondern rein
prophylaktischer Natur sei. Mangels Hinweis auf eine noch bestehende
Drogensucht sei deshalb die Anordnung einer Massnahme gemäss Art. 44
StGB abzulehnen. Sie fügt hinzu, selbst bei Anordnung einer ambulanten
Behandlung komme ein Aufschub des Strafvollzuges nicht in Betracht,
insbesondere im Hinblick auf die beim Beschwerdeführer gegebene
Rückfallgefahr.

    c) Art. 13 Abs. 1 StGB schreibt eine Untersuchung des Beschuldigten
vor, wenn zum Entscheid über die Anordnung einer sichernden Massnahme
Erhebungen über dessen körperlichen oder geistigen Zustand nötig sind
(siehe auch Art. 44 Ziff. 1 Abs. 2 StGB). Die hier zur Diskussion stehende
Massnahme setzt unter anderem voraus, dass der Täter drogensüchtig ist
und die von ihm begangene Tat damit im Zusammenhang steht. Ferner muss
die Massnahme notwendig und geeignet sein, die Gefahr künftiger Verbrechen
oder Vergehen zu verhüten (Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 i.V.m. Ziff. 6 StGB).

    Die Vorinstanz anerkennt den Zusammenhang zwischen den Straftaten
des Beschwerdeführers und seiner Drogenabhängigkeit. Offenbar will
sie aus ihrer Annahme, dass er heute drogenfrei sei, schliessen, eine
Massnahmebedürftigkeit sei heute nicht mehr gegeben.

    Zu Recht macht der Beschwerdeführer geltend, diese Argumentation
greife zu kurz. Wie bereits in BGE 102 IV 76 festgestellt wurde, darf
aus dem Fehlen einer körperlichen Drogenabhängigkeit nichts gegen die
Notwendigkeit einer Massnahme geschlossen werden. Es ist in der Tat häufig
so, dass zum Zeitpunkt der Urteilsfällung ein Beschuldigter "sauber" ist,
ohne dass im Hinblick auf die im Zusammenhang mit der Drogenabhängigkeit
häufig auftretenden schwerwiegenden Persönlichkeitsveränderungen (vgl. BGE
102 IV 76 oben) die Gefahr des Rückfalls als gebannt betrachtet werden
kann. Dazu wird sich in der Regel nur ein Gutachter aussprechen können, da
sich die Frage der psychischen Abhängigkeit und der Therapiebedürftigkeit
vom Richter ohne Beizug eines Sachverständigen meist nicht beantworten
lässt. Der Hinweis auf das Schreiben des sozialpsychiatrischen Dienstes der
Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich vom 10. Januar 1989 genügt den
Anforderungen an eine gutachtliche Äusserung, wie sie sich aus Art. 13 StGB
ergeben, nicht. Dieses Schreiben, adressiert an den damaligen Verteidiger
des Beschwerdeführers und offenbar auf dessen Verlangen erstattet,
informiert nur darüber, dass die psychotherapeutische Behandlung auf
Wunsch des Beschwerdeführers, offenbar im November 1988 begonnen wurde;
das Motiv für die Behandlung nicht in seiner vergangenen Drogenproblematik
und in der kommenden Gerichtsverhandlung liege; die Therapie indiziert
und erfolgversprechend sein dürfte; für einen psychotherapeutischen
Prozess allerdings ein längerer Zeitraum vorgesehen werden müsse;
der Beschwerdeführer um die Gefahr wisse, bei schweren Problemen in den
Drogenkonsum abzugleiten, und dass er zum Schutz vor einem Rückfall in den
Opiatkonsum um regelmässige Urinprobenkontrolle bezüglich Heroinkonsum
gebeten habe. Eine einlässliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob
die Voraussetzungen von Art. 44 Ziff. 1 i.V.m. Ziff. 6 StGB gegeben
sind, findet in diesem Schreiben offensichtlich nicht statt. Immerhin
ergibt sich, dass die Gefahr eines Rückfalls in den Opiatkonsum beim
Beschwerdeführer nach wie vor besteht, andernfalls die erwähnten
Urinprobenkontrollen nicht notwendig wären. Die Vorinstanz konnte
deshalb nicht unter Rückgriff auf dieses Schreiben die Voraussetzungen
von Massnahmen gemäss Art. 44 StGB von vornherein verneinen, sondern
hätte im Gegenteil gestützt darauf Veranlassung gehabt, die Frage
der Massnahmebedürftigkeit vertieft durch einen Gutachter abklären zu
lassen. Dies drängt sich um so mehr auf, als ohnehin ein Gutachten zur
Frage des Ausmasses der Verminderung der Zurechnungsfähigkeit einzuholen
ist (hier nicht publizierte E. 2).

    d) Das angefochtene Urteil ist auch in sich widersprüchlich, wenn
einerseits die Voraussetzungen einer Massnahme gemäss Art. 44 StGB
abgelehnt werden, andererseits unter Hinweis auf eine Rückfallgefahr des
Beschwerdeführers die Möglichkeit einer ambulanten Massnahme verneint
wird. Da sich eine Rückfallgefahr vorliegend nur aus einer allfälligen
Drogenabhängigkeit des Beschwerdeführers erklären liesse, ist der
Widerspruch im angefochtenen Entscheid offensichtlich. Zu Unrecht beruft
sich die Vorinstanz im übrigen auf BGE 100 IV 12, da jener Entscheidung
ein anderes Problem zugrunde lag. Die kantonale Instanz hatte angeordnet,
dass im Strafvollzug einer Zuchthausstrafe von 6 1/2 Jahren so lange,
als ärztlich geboten, eine psychotherapeutische Behandlung durchgeführt
werde; eine von der Staatsanwaltschaft gegen diese Massnahme erhobene
Nichtigkeitsbeschwerde wurde abgewiesen. Massgebend ist vielmehr BGE 105 IV
87, wonach der Strafaufschub gemäss Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB angezeigt
ist, wenn die wirklich vorhandene Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung
durch den sofortigen Vollzug der Freiheitsstrafe erheblich beeinträchtigt
würde. Wo eine Behandlung bereits im Gang ist, kommt es auf die Aussicht
erfolgreicher Weiterführung derselben an (BGE 115 IV 88). Unzutreffend
ist im übrigen die pauschale Bezugnahme auf die Dissertation von URSULA
FRAUENFELDER, Die ambulante Behandlung geistig Abnormer und Süchtiger als
strafrechtliche Massnahme nach Art. 43 und 44 StGB (Zürich 1978). Diese
Autorin gibt (S. 50 und S. 134) eine wesentlich differenziertere Aussage
zur Frage der Gefährlichkeit und im Zusammenhang damit, ob im Hinblick
auf Rückfallgefahr eine ambulante Massnahme anstelle eines Straf- oder
Massnahmevollzuges verweigert werden darf. Im übrigen dürfte die konkrete
Gefahr, die vom Beschwerdeführer ausgehen könnte, schon deshalb nicht ins
Gewicht fallen, weil er nach 17 Tagen Untersuchungshaft auf freien Fuss
gesetzt wurde, sich offenbar seit längerer Zeit auf freiem Fuss befindet
und seither anscheinend nicht straffällig geworden ist. Der pauschale
Vorwurf der Uneinsichtigkeit, den die Vorinstanz erhebt, ist ebenfalls
schwer verständlich im Lichte des von ihr selbst attestierten ernsthaften
Bemühens, einen Rückfall in den Drogenkonsum abzuwenden. In BGE 100 IV 14
E. 2a wurde klargestellt, dass der Gesetzgeber mit Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1
StGB lediglich verhindern wollte, dass der gefährliche Abnorme in Freiheit
bleibt. Nach dem Gesagten kann der Beschwerdeführer kaum als gefährlich
bezeichnet werden, um so weniger als er in einer Behandlung steht, die
eine allenfalls noch bestehende Gefahr zusätzlich reduziert, welcher
Gesichtspunkt bei der Gefährlichkeitsbeurteilung zu berücksichtigen ist
(STRATENWERTH, Das Schweizerische Strafrecht, Allg. Teil II, Bern 1989,
S. 396).

    Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die Vorinstanz
eingehend, insbesondere durch Einholung eines Gutachtens, mit der Frage
der Massnahmebedürftigkeit des Beschwerdeführers wird auseinandersetzen
müssen; insbesondere wird sie sorgfältig zu prüfen haben, ob eine ambulante
Massnahme den Aufschub des Strafvollzuges rechtfertigt.

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer macht schliesslich geltend, die Vorinstanz
habe zu Unrecht eine günstige Prognose und damit den bedingten Strafvollzug
verweigert.

    Bei der Überprüfung der günstigen Prognose im Sinne von Art. 41 Ziff. 1
Abs. 1 StGB hat der Richter sämtliche Umstände zu berücksichtigen (BGE
101 IV 329) und insbesondere in die Abklärung auch die Wirkung allfällig
stützender Massnahmen wie Schutzaufsicht oder Therapie einzubeziehen (BGE
99 IV 69). Hat die Vorinstanz ohnehin die Situation des Beschwerdeführers
noch gutachtlich abzuklären, wird sie im Rahmen ihrer neuen Entscheidung
auch auf die Frage eingehen müssen, ob ihm unter Berücksichtigung aller,
auch der für die Gewährung des bedingten Strafvollzuges sprechenden
Umstände, im Hinblick auf die laufende Therapie der bedingte Strafvollzug
gewährt werden kann. Die Vorinstanz wird sich überdies nicht mit dem
pauschalen Hinweis begnügen können, der Beschwerdeführer werde immer
wieder straffällig, was auf seine Labilität schliessen lasse; vielmehr
wird sie sich damit auseinandersetzen müssen, ob aus dem offenbar nun seit
längerer Zeit bestehenden Wohlverhalten und der auf seine Veranlassung
begonnenen Therapie (deren Erfolgsaussichten nach dem Schreiben des
sozialpsychiatrischen Dienstes allerdings einen längeren Zeitraum
erfordern) nicht umgekehrt auf eine Stabilität geschlossen werden kann,
die eine günstige Prognose rechtfertigt.