Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IV 4



115 IV 4

2. Urteil des Kassationshofes vom 9. Februar 1989 i.S. K. gegen
Kriminalkammer des Kantons Thurgau (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 38 Ziff. 1 und 4 StGB, Art. 2 Abs. 5 VStGB 1; bedingte Entlassung;
Reststrafe.

    1. Art. 38 Ziff. 4 StGB verlangt nicht, dass die Reststrafe vollständig
zu verbüssen ist (E. 4).

    2. Keine Überschreitung der Rechtsetzungskompetenz durch Art. 2 Abs. 5
VStGB 1, der festlegt, dass auch eine Reststrafe bei der Bestimmung des
frühesten Zeitpunktes der bedingten Entlassung angemessen berücksichtigt
werden darf (E. 1 und 5).

Sachverhalt

    A.- K. verbüsst neben mehreren Freiheitsstrafen, welche in den
Jahren 1979, 1983 sowie 1987 ausgefällt wurden, aufgrund einer früheren
Verurteilung auch eine Reststrafe von 20 Monaten Zuchthaus, nachdem die
ihm diesbezüglich gewährte bedingte Entlassung durch die Justizdirektion
des Kantons Zürich widerrufen wurde.

    Am 9. Juli 1988 stellte K. ein Gesuch um bedingte Entlassung, welches
die Kriminalkammer des Kantons Thurgau mit Beschluss vom 6. Dezember
1988 abwies.

    Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 3. Januar 1989 beantragt K.,
den Entscheid der Kriminalkammer abzuweisen und das Gesuch um bedingte
Entlassung gutzuheissen, eventuell die Sache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

    Die Kriminalkammer des Kantons Thurgau verzichtet auf eine
Vernehmlassung und beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Hat der zu Zuchthaus oder Gefängnis Verurteilte zwei Drittel der
Strafe verbüsst, so kann ihn die zuständige Behörde bedingt entlassen,
wenn sein Verhalten während des Strafvollzuges nicht dagegen spricht
und anzunehmen ist, er werde sich in Freiheit bewähren (Art. 38 Ziff. 1
Abs. 1 StGB). Dem bedingt Entlassenen ist eine Probezeit von mindestens
einem Jahr aufzuerlegen (Art. 38 Ziff. 2 StGB). Gemäss Art. 2 Ziff. 5
VStGB 1 berechnet sich der früheste Zeitpunkt der bedingten Entlassung
auf Grund der Gesamtdauer der Strafen, welche zusammen zu vollziehen sind;
auch eine Reststrafe wegen Widerrufs der bedingten Entlassung darf dabei
angemessen berücksichtigt werden, ohne dass stets deren ganze Dauer zur
Berechnung der Frist von zwei Dritteln der Strafe herangezogen werden
muss (unveröffentlichter Entscheid des Bundesgerichts vom 31. Januar 1986
i.S. A. c. Kriminalkammer des Kantons Thurgau, E. 2).

Erwägung 2

    2.- a) Die Vorinstanz lässt offen, ob die Voraussetzungen für die
bedingte Entlassung hier erfüllt seien, da bereits die grundsätzliche
Frage, ob Art. 38 Ziff. 1 Abs. 1 StGB auf den Vollzug von Reststrafen
überhaupt anwendbar sei, verneint werden müsse; die Reststrafe sei gemäss
Art. 38 Ziff. 4 StGB vollständig zu verbüssen, und Art. 2 Abs. 5 VStGB
1 könne in solchen Fällen keine Anwendung finden. Art. 397bis StGB und
Ziff. II des Bundesgesetzes betreffend Änderung des StGB vom 18. März
1971 lasse sich keine Kompetenz des Bundesrates entnehmen, die Frage der
Behandlung von Reststrafen im Zusammenhang mit der bedingten Entlassung zu
regeln. Es gelte zu verhindern, dass derjenige, der neben dem Strafrest
eine neue Strafe zu verbüssen habe, bessergestellt werde als jener,
der lediglich noch den Strafrest verbüssen müsse.

    b) Der Beschwerdeführer hält dem entgegen, dem Wortlaut von
Art. 38 StGB lasse sich nicht entnehmen, dass Reststrafen in jedem Fall
ungeschmälert zu verbüssen seien; insbesondere verbiete er nicht die
zweimalige bedingte Entlassung.

    Im übrigen stütze sich Art. 2 Ziff. 5 VStGB 1 direkt auf Art. 397bis
Abs. 1 lit. a StGB; von einer kompetenzwidrig erlassenen Verordnung könne
daher nicht gesprochen werden. Im Kanton Zürich werde diese Bestimmung
denn auch uneingeschränkt angewandt.

Erwägung 3

    3.- Die Frage der richtigen Auslegung und Anwendung von Bundesrecht
überprüft das Bundesgericht im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren
frei (Art. 104 lit. a OG; BGE 104 IV 282 E. 2).

Erwägung 4

    4.- Es ist zunächst zu prüfen, ob die Vorinstanz Art. 38 Ziff. 4
Abs. 1 StGB richtig ausgelegt bzw. angewandt hat.

    Nach ihrem Wortlaut verlangt diese Bestimmung in einem Fall wie
hier - Verurteilung während der Probezeit der bedingten Entlassung
zu einer drei Monate übersteigenden unbedingten Freiheitsstrafe -
zwingend die Anordnung der Rückversetzung. Damit ist aber - entgegen der
Auffassung der Vorinstanz, die sich diesbezüglich auf die eigene neuste
und geänderte Praxis stützt - noch nicht bestimmt, dass nun auf jeden
Fall die Reststrafe vollständig zu verbüssen sei; auch den Materialien
lässt sich kein entsprechender Wille des Gesetzgebers entnehmen (BBl
1965 I 569; Amtl.Bull. SR 1967, 53 f., NR 1969, 94 ff.). Es ist vielmehr
mit der herrschenden Lehre davon auszugehen, dass Art. 38 Ziff. 4 Abs.
1 StGB die erneute Berücksichtigung der Reststrafe nach erfolgter
Rückversetzung zulässt (SCHULTZ, Einführung in den allgemeinen Teil des
Strafrechts, 2. Band, Bern 1982, S. 61; SCHWANDER, Das Schweizerische
Strafgesetzbuch, Freiburg 1963, S. 177, Nr. 355). Diese Lösung drängt sich
insbesondere im Hinblick auf lange Freiheitsstrafen auf (LOGOZ/SANDOZ,
Commentaire du Code Pénal Suisse, Partie Générale, 2. Auflage, Art. 38
N. 6c; vgl. auch THORMANN/V. OVERBECK, Schweizerisches Strafgesetzbuch,
Allgemeiner Teil, Zürich 1940, S. 164 N. 20), da sich in solchen Fällen
nach erfolgter Rückversetzung die Verhältnisse so ändern können, dass es
sich rechtfertigt, die Reststrafe erneut zu berücksichtigen; bei kurzen
Freiheitsstrafen wird die wiederholte bedingte Entlassung schon aus
zeitlichen Gründen in der Praxis kaum in Betracht fallen. Auch in der
Bundesrepublik Deutschland wird von Lehre und Rechtsprechung die Meinung
vertreten, der Widerruf schliesse eine erneute Aussetzung des Strafrestes
nicht aus (SCHÖNKE/SCHRÖDER/STREE, Strafgesetzbuch, 23. Auflage, § 57 N. 33
mit Hinweisen). In der schweizerischen Doktrin wird einzig durch HAFTER
(Lehrbuch des schweizerischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, Bern 1946,
S. 339) - allerdings ohne Begründung - die Auffassung vertreten, es sei
der ganze Strafrest zu verbüssen.

    Indem die Vorinstanz - nach dem Gesagten zu Unrecht - davon ausgeht,
gemäss Art. 38 Ziff. 4 StGB sei eine Reststrafe vollständig zu verbüssen,
hat sie Bundesrecht verletzt, was zur Gutheissung der Beschwerde führt.

Erwägung 5

    5.- Der Vorinstanz kann auch nicht gefolgt werden, soweit sie ihre
Auffassung auf die fehlende Kompetenz des Bundesrates zum Erlass von Art.
2 Abs. 5 VStGB 1 stützt.

    Gemäss Art. 397bis Abs. 1 lit. a StGB ist der Bundesrat befugt,
ergänzende Bestimmungen aufzustellen über den Vollzug von Gesamtstrafen,
Zusatzstrafen und mehreren, gleichzeitig vollziehbaren Einzelstrafen und
Massnahmen. Von dieser Kompetenz hat er mit Erlass der VStGB 1 Gebrauch
gemacht. Da Art. 38 Ziff. 4 StGB nicht die vollständige Verbüssung
der Reststrafe verlangt, hat er seine Rechtsetzungskompetenz nicht
überschritten, wenn er in Art. 2 Abs. 5 VStGB 1 - in zurückhaltender
Formulierung - festlegt, dass bei der Bestimmung des frühesten Zeitpunktes
der bedingten Entlassung auch eine Reststrafe angemessen berücksichtigt
werden darf.

Erwägung 6

    6.- Aus diesen Gründen ist die Beschwerde gutzuheissen und der
angefochtene Entscheid aufzuheben. ...