Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IV 162



115 IV 162

37. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 2. August 1989 i.S. A.
gegen B. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 20, 32, 33 und 125 Abs. 2 StGB, § 28 des Dienstreglementes der
Kantonspolizei Solothurn; Schusswaffeneinsatz.

    Art. 33 und 32 StGB umschreiben die Voraussetzungen der Notwehr
beziehungsweise Amtspflicht abschliessend. Der Inhalt der Amtspflicht
hingegen ergibt sich aus der gesamten Rechtsordnung und insbesondere
dem kantonalen Recht (hier: Dienstreglement der Kantonspolizei). Ob eine
Amtspflicht einen Rechtfertigungsgrund darstellt, ist eine Rechtsfrage
(E. 2a).

    Voraussetzungen der Notwehr und Amtspflicht hier verneint (E. 2b und
c beziehungsweise E. 2d); ebenso das Vorliegen eines Rechtsirrtums (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Der Polizeibeamte A. beobachtete in der Nacht vom 17. auf
den 18. Mai 1982 zusammen mit einem Kollegen den Verkehrsablauf vor
dem Hauptbahnhof in Solothurn. Dabei fiel ihnen ein Pontiac auf, der
mit hoher Geschwindigkeit herannahte und in einer Kurve ins Schleudern
geriet. Mit ihrem als solchem gekennzeichneten Polizeifahrzeug nahmen sie
die Verfolgung auf. Nachdem sie das Fahrzeug zunächst aus dem Blickfeld
verloren hatten, entdeckten sie es auf dem Areal der AVAG-Tankstelle. Der
Pontiac stand mit abgestelltem Motor und gelöschten Lichtern, aber mit weit
geöffneten Türen und brennender Innenbeleuchtung im Bereich der östlichen
Tanksäule. Daneben beim Notenautomaten standen einige Personen. A. entstieg
dem Polizeifahrzeug, das sich bis auf einige Meter genähert hatte,
und ging langsam auf die Personengruppe zu. Plötzlich entfernte sich
eine Person, sprang in den Pontiac und startete den Motor. A. rannte,
die Dienstpistole ziehend, auf die rechte Seite des Wagens, Er hielt die
Waffe durch die offene Beifahrertür und rief "halt". In diesem Moment
setzte sich der Wagen in Bewegung, aus der Waffe des Polizisten löste
sich ein Schuss und verletzte B., den Fahrer des Pontiacs, schwer.

    Die Strafkammer des Obergerichts des Kantons Solothurn verurteilte
A. am 5. Oktober 1988 wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung und
versuchter Nötigung zu 14 Tagen Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug.

    A. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, der
angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung
an das Obergericht zurückzuweisen.

    B. schliesst in seiner Vernehmlassung auf Abweisung der
Nichtigkeitsbeschwerde. Das Obergericht verzichtete auf Gegenbemerkungen,
beantragte jedoch ebenfalls Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht im wesentlichen geltend, bei der
Waffenhandhabung habe er im Rahmen seiner Amtspflicht gehandelt, weshalb
ein Rechtfertigungsgrund gemäss Art. 32 StGB gegeben sei; das Obergericht
unterscheide zwischen dem Bereithalten der Schusswaffe gegen den Boden
als einfache Form der Eigensicherung und dem In-Anschlag-Halten der Waffe
in Richtung eines Verdächtigen als qualifizierte Form der Eigensicherung;
dies habe seine grundsätzliche Berechtigung; das Obergericht stelle jedoch
an die Erlaubtheit der qualifizierten Form zu strenge Anforderungen, weil
es kaum weniger als § 28 des Dienstreglementes der Kantonspolizei Solothurn
vom 21. November 1980 für die Schussabgabe (Notwehr, Fluchtverhinderung
etc.) verlange; er habe nicht wissen können, was ihn im Wageninnern des
Pontiacs erwarten würde; um die Personenkontrolle ausführen zu können,
sei er geradezu genötigt gewesen, die Schusswaffe ins Wageninnere zu
richten; er hätte sich einem unzumutbaren Risiko ausgesetzt, wenn er die
Waffe ausserhalb des Wagens gegen den Boden hätte halten und sich mit
dem Oberkörper zum Verdächtigen im tiefliegenden Amerikanerwagen hätte
hinabbeugen müssen.

    a) Ist eine Situation strafrechtlich zu beurteilen, in der ein
Polizeibeamter seine Schusswaffe gebrauchte, stehen die Unterscheidungen
zwischen Eigensicherung in der einfachen und der qualifizierten Form
einerseits sowie der eigentlichen Schussabgabe andererseits, wie sie die
Vorinstanz traf, nicht im Vordergrund. Das Bundesrecht und insbesondere
das eidgenössische Strafrecht gehen der Regelung des Schusswaffengebrauchs
in einem kantonalen Dienstreglement der Polizei vor. Ausgangspunkt für die
Prüfung eines Straftatbestandes sind die Bestimmungen des schweizerischen
Strafgesetzbuches, die besagen, wann und unter welchen Voraussetzungen
kantonalen Verwaltungsrechtsvorschriften, die den Schusswaffengebrauch
durch die Polizei ordnen, Bedeutung zukommt (vgl. dazu BGE 94 IV 7 E. 2;
JÖRG REHBERG, Über den Schusswaffengebrauch der Polizei in strafrechtlicher
Sicht, Kriminalistik 1976, S. 565 f., und 1977, S. 37; THOMAS HUG,
Schusswaffengebrauch durch die Polizei, Diss. Zürich 1980, S. 42 ff.,
und 91 f.).

    So sind die Voraussetzungen der Notwehr in Art. 33 StGB geregelt. Diese
können durch kantonales Recht in keiner Weise modifiziert oder
eingeschränkt werden. Der Polizeibeamte hat ein Recht zur Notwehr und
zur Notwehrhilfe wie jeder andere Bürger (MARTIN SCHUBARTH, Kommentar
zum schweizerischen Strafrecht, Besonderer Teil, Band 1, Systematische
Einleitung N. 170; REHBERG, aaO, 1977 S. 37). Ob sich der Beschwerdeführer
auf Notwehr berufen kann oder nicht, ist daher ausschliesslich nach
Art. 33 StGB zu beurteilen.

    Die Tat, die unter anderem eine Amtspflicht gebietet, ist nach Art. 32
StGB kein Verbrechen oder Vergehen. Ob eine und welche Amtspflicht eines
kantonalen Polizeibeamten besteht, sagt das kantonale Verwaltungsrecht;
ob diese Amtspflicht jedoch einen Rechtfertigungsgrund für eine nach
Bundesrecht strafbare Handlung bildet, bestimmt sich nach Art. 32 StGB. Die
Frage, ob eine konkrete Handlung durch eine Amtspflicht geboten war, ist
somit sowohl nach kantonalem Verwaltungsrecht als auch nach eidgenössischem
Strafrecht zu beantworten, wobei sich die beiden Fragestellungen teilweise
überschneiden. Der Inhalt der Amtspflicht ist nicht aus dem Strafrecht des
Bundes, sondern aus der übrigen Rechtsordnung, insbesondere dem kantonalen
Recht, d.h. in unserem Falle aus dem Dienstreglement der Kantonspolizei
Solothurn, zu ermitteln. Sogenannte rechtlich geprägte Tatbestandsmerkmale
aus anderen Rechtsgebieten - z.B. "bewegliche Sache", "fremd" oder
"anvertraut" - überprüft der Kassationshof als Rechtsfragen (BGE 87
IV 117, 88 IV 16 f., 99 IV 202 ff.; JÖRG REHBERG, Der Anfechtungsgrund
bei der Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichts,
ZSR 94/1975, II. Halbband, S. 379 f.); gleich zu verfahren ist somit bei
der Beurteilung, ob vorliegend eine vom kantonalen Recht umschriebene
Amtspflicht bestand und ob diese einen Rechtfertigungsgrund nach Art. 32
StGB darstellt (so BGE 111 IV 116 E. 4, während BGE 99 IV 256 in dieser
Frage noch widersprüchlich war, wie REHBERG in Kriminalistik 1976, S. 566,
zu Recht bemerkt).

    b) Die Einwendungen des Beschwerdeführers laufen vorab auf eine
Anrufung des Rechtfertigungsgrundes der Notwehr hinaus. Die Vorinstanz
stellte indessen fest, der Beschwerdeführer sei weder angegriffen noch
mit einem Angriff bedroht worden. Sie verneinte auch die tatsächlichen
Voraussetzungen einer Putativnotwehr.

    Diese tatsächlichen Feststellungen sind für das Bundesgericht
verbindlich (Art. 277bis Abs. 1 BStP). Soweit der Beschwerdeführer geltend
macht, das Opfer habe ihn mit einem Angriff bedroht beziehungsweise er habe
dies annehmen dürfen, ist auf seine Beschwerde daher nicht einzutreten.

    c) Nach dem verbindlich festgestellten Sachverhalt verletzte die
Vorinstanz Bundesrecht nicht, wenn sie den Rechtfertigungsgrund der
Notwehr verneinte. Dass sie nach dem oben Gesagten (lit. a Abs. 2) zu
Unrecht davon ausging, neben Art. 33 StGB sei auch das Dienstreglement
der Kantonspolizei Solothurn (§ 28 lit. a und b) massgebend, ist unter
den gegebenen Umständen ohne Belang.

    d) Als Rechtfertigungsgrund nach Art. 32 StGB kommen beim
Schusswaffengebrauch durch die Polizei nur die Ziffern 1 und 2 von § 28
lit. c des Dienstreglementes der Solothurner Kantonspolizei in Frage. Diese
entsprechen Art. 2 Ziff. 3 lit. a und b der Musterdienstanweisung über
den Gebrauch der Schusswaffe durch die Polizei von 1976 der Konferenz
der kantonalen Polizeikommandanten. Darin sind die Voraussetzungen für
die Fluchtverhinderung und die Festnahme mittels Schusswaffengebrauch
umschrieben.

    Die Vorinstanz kam zum Schluss, frühestens als B. in den Wagen einstieg
und den Motor startete, habe der Beschwerdeführer annehmen können und
dürfen, es sei allenfalls mehr hinter der Sache als eine blosse Verletzung
von Verkehrsregeln; allein die beobachteten Gesetzesübertretungen
und dieser einmalige Fluchtversuch genügten nicht, um anzunehmen,
die flüchtende Person müsse um jeden Preis angehalten und kontrolliert
werden; aufgrund der geschilderten Umstände hätte ein umsichtig handelnder
Polizist erkennen können und müssen, dass der Einsatz der Schusswaffe
zur Verhinderung der Flucht dieser Person unverhältnismässig sei.

    Dagegen werden in der Nichtigkeitsbeschwerde keine Einwendungen
vorgebracht. Es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern die einschlägigen
Bestimmungen des kantonalen Dienstreglementes falsch ausgelegt
oder angewandt worden sein und inwieweit die Verneinung eines
Rechtfertigungsgrundes Bundesrecht verletzen sollten.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer beruft sich auf Rechtsirrtum gemäss Art. 20
StGB. Er will zureichende Gründe gehabt haben, sein Verhalten vor der
Schussauslösung als gerechtfertigt zu betrachten, weil er § 28 lit. c des
Dienstreglementes gekannt habe und in der Instruktion die Eigensicherung
mit der Dienstwaffe weitgehend der Interpretation des einzelnen Polizisten
überlassen werde, so dass er die qualifizierte Form der Eigensicherung
mittels Schusswaffe als verhältnismässig und gesetzeskonform gehalten habe.

    Ein Rechtsirrtum, d.h. ein Verbotsirrtum (BGE 109 IV 67 mit
Hinweisen), ist gegeben, wenn dem Täter das Unrechtsbewusstsein trotz
Kenntnis des unrechtsbegründenden Sachverhalts fehlt, wobei sich das
Unrechtsbewusstsein gerade auf diejenigen Momente der Tat stützen muss,
die sie als rechtlich verboten erscheinen lassen (GÜNTER STRATENWERTH,
Schweizerisches Strafrecht, AT I, S. 256, N. 53 f.). Der Beschwerdeführer
macht nur geltend, sein Verhalten vor der Schussauslösung beziehungsweise
die qualifizierte Form der Eigensicherung, die eine blosse Drohung
mit einer Schussabgabe beinhalte, als nicht unrechtmässig betrachtet
zu haben. Nicht wegen seines Verhaltens vor der Schussauslösung oder
weil er sich selber schützen wollte, wird der Beschwerdeführer (wegen
fahrlässiger Körperverletzung) zur Rechenschaft gezogen, sondern weil sich
aus seiner Dienstpistole ein Schuss löste, der B. schwer verletzte. Dem
Beschwerdeführer wird vorgeworfen, indem er die Waffe mit dem Finger am
Abzug in den Personenwagen gehalten und gegen den Lenker gerichtet habe,
sei er der gebotenen Vorsicht nicht nachgekommen (siehe oben E. 1). Dass
er seine Sorgfaltspflichtverletzung als nicht unrechtmässig betrachtet
habe, behauptet der Beschwerdeführer nicht und es liegt auch auf der Hand,
dass er hiefür keine zureichenden Gründe haben konnte. Wenn er einwendet,
er habe sich als zur Eigensicherung befugt betrachtet, so beruft er
sich überdies nicht auf Rechtsirrtum, sondern auf Sachverhaltsirrtum;
dass letzteres nicht zutrifft, wurde bereits dargelegt (E. 2b hievor).

    Demnach erweist sich die Beschwerde als unbegründet.