Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IV 152



115 IV 152

34. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 21. Juni 1989 i.S.
Statthalteramt des Bezirkes Uster gegen X. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 270 Abs. 1 BStP; öffentlicher Ankläger des Kantons.

    Die Statthalterämter des Kantons Zürich sind zur eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde nicht legitimiert, wenn dieses Rechtsmittel der
Staatsanwaltschaft zusteht.

Sachverhalt

    A.- Frau X. wurde am 12. April 1989 durch das Obergericht des Kantons
Zürich wegen Verletzung einer Verkehrsregel mit Fr. 40.-- gebüsst. Gegen
dieses Urteil führte der Statthalter des Bezirkes Uster eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde beim Bundesgericht, welches auf das Rechtsmittel
nicht eintrat.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde steht gemäss Art. 270
Abs. 1 BStP unter anderem dem öffentlichen Ankläger des Kantons zu.
Die Statthalterämter des Kantons Zürich können, wie das Bundesgericht in
BGE 111 IV 112 entschied, jedenfalls nicht neben der Staatsanwaltschaft
eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde führen. In diesem Entscheid wurde
ausgeführt, nach der Praxis des Bundesgerichts, zu deren Überprüfung kein
Anlass besteht, würden Beschwerden von Zürcher Statthalterämtern dann
zugelassen, wenn diese gewissermassen an Stelle der Staatsanwaltschaft in
der Funktion des Anklägers auftreten würden; ohne jeden Zweifel unzulässig
sei es jedoch, dass ein Statthalteramt neben der Staatsanwaltschaft
Beschwerde führe.

    In einem nicht veröffentlichten Entscheid vom 22. Oktober
1984 i.S. Justizdirektion Zürich gegen M. trat der Kassationshof
auf eine Nichtigkeitsbeschwerde der Justizdirektion Zürich nicht ein,
weil diese nicht "öffentlicher Ankläger des Kantons" sei. Darin wurde
weiter ausgeführt, im Interesse einer einheitlichen Überwachung der
Rechtsmittel bestehe kein Grund, den Wortlaut von Art. 270 Abs. 1 BStP
extensiv auszulegen und jeder kantonalen Amtsstelle, welche in irgendeinem
Verfahren öffentliche Interessen vertrete, gegebenenfalls die Befugnis
zur Einreichung einer Nichtigkeitsbeschwerde einzuräumen; über die
allfällige Anerkennung der Beschwerdebefugnis unterer Anklagebehörden
(Statthalterämter, Bezirksanwaltschaften) sei hier nicht zu befinden,
sondern es gehe darum, ob bei richterlichen Entscheidungen im Laufe
des Vollzugs (BGE 106 IV 186) statt dem Ankläger des Kantons die mit dem
Vollzug der Sanktion betraute Verwaltungsbehörde zur Nichtigkeitsbeschwerde
legitimiert sein solle; überzeugende Gründe für eine solche Ausweitung
der Legitimation seien jedoch nicht erkennbar.

Erwägung 3

    3.- Die Legitimation zur eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde
richtet sich vorab nach Art. 270 BStP und nicht nach der Stellung, die
einem Beteiligten nach dem kantonalen Strafprozessrecht zukommt oder
die er im kantonalen Verfahren tatsächlich auch einnahm (vgl. analog
dazu die Praxis zu Art. 88 OG, zuletzt in BGE 113 Ia 428 E. 1 und 470
E. a). Kantonales Strafprozessrecht ist nur insoweit von Bedeutung,
als in der bundesrechtlichen Bestimmung ausdrücklich darauf abgestellt
wird. So ist der Antragsteller bei Antragsdelikten unabhängig davon, ob
er im kantonalen Verfahren Partei war, zur Nichtigkeitsbeschwerde befugt
(BGE 84 IV 129). Beim Privatstrafkläger hängt es demgegenüber gemäss
dem ausdrücklichen Wortlaut des Abs. 3 von Art. 270 BStP davon ab, ob
er nach den Vorschriften des kantonalen Rechts allein, ohne Beteiligung
des öffentlichen Anklägers, die Anklage vertreten hat, wobei es für den
Ausschluss seiner Beschwerdelegitimation genügt, dass der öffentliche
Ankläger im kantonalen Verfahren hätte Parteirechte ausüben können und
nicht ausdrücklich darauf verzichtet hat (BGE 110 IV 114, 105 IV 280 und
93 IV 101). Schliesslich entschied das Bundesgericht in BGE 73 IV 53,
wenn sich kein öffentlicher Ankläger am kantonalen Verfahren beteiligen
durfte und niemand anders den Strafanspruch vor dem Bundesgericht verfolgen
könnte, so sei dazu der öffentliche Ankläger legitimiert.

Erwägung 4

    4.- Werden die aus dieser Rechtsprechung des Bundesgerichts folgenden
Grundsätze auf die Frage nach der Legitimation des öffentlichen Anklägers
des Kantons nach Abs. 1 von Art. 270 BStP angewandt, so ergibt sich
folgendes: Wem allgemein und in einem bestimmten Fall die Funktion des
öffentlichen Anklägers zukommt, sagt das kantonale Prozessrecht; ob jedoch
nur einem und gegebenenfalls welchem oder mehreren öffentlichen Anklägern
nebeneinander die Befugnis, eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde zu
führen, zukommt, entscheidet sich ausschliesslich nach Bundesrecht.

    Die Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichts
dient der einheitlichen Anwendung des Bundesrechts. Den kantonalen
Staatsanwaltschaften kommt bei der Verwirklichung dieses Zieles aufgrund
der ihnen zustehenden Beschwerdebefugnis eine wichtige Aufgabe zu;
sie tragen mit der Ergreifung von Rechtsmitteln wesentlich zu einer
einheitlichen Praxis innerhalb des Kantons bei und ebenso dazu, dass
sich diese entsprechend der Rechtsprechung des Bundesgerichts mit der
schweizerischen Praxis in Einklang befinde. Dort wo eine für den ganzen
Kanton zuständige Staatsanwaltschaft besteht - dies ist in den allermeisten
Kantonen der Fall -, der das Recht zur Beschwerdeführung vor der letzten
kantonalen Instanz zusteht und der damit auch aufgetragen ist, innerhalb
des Kantons für eine einheitliche Rechtsanwendung zu sorgen, muss auch
dieser die Legitimation zur eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde
zukommen. Ausser in den Fällen, in denen die Bundesanwaltschaft beim
Bundesgericht Nichtigkeitsbeschwerde einreichen kann (Art. 270 Abs. 6
BStP), besteht kein einheitlicher öffentlicher Ankläger für das Gebiet der
Eidgenossenschaft, sondern ist diese Aufgabe entsprechend der Anzahl der
Kantone aufgeteilt. Eine weitere, unnötige Aufsplitterung gilt es jedoch
zu vermeiden. Wenn auch nicht verhindert werden kann, dass ein Kanton nicht
eine für sein ganzes Gebiet zuständige Staatsanwaltschaft bezeichnet - wie
dies z.B. im Kanton Tessin mit je einer selbständigen Staatsanwaltschaft
für den Sopra- bzw. Sottoceneri besteht - oder auf einzelnen Rechtsgebieten
nicht dieser, sondern allein einzelnen Bezirksbehörden, das Beschwerderecht
vor der letzten kantonalen Instanz einräumt, so muss doch ausgeschlossen
werden, dass neben einer für den ganzen Kanton tätigen und in letzter
Instanz beschwerdebefugten Staatsanwaltschaft auch noch öffentliche
Ankläger, die nur für Fälle aus einem Teilgebiet des Kantons zuständig
sind, zur eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde legitimiert sind.

    Dass zwei nebeneinander beschwerdelegitimierte öffentliche Ankläger
des Kantons nicht beide im gleichen konkreten Fall Beschwerde führen
können, entschied das Bundesgericht bereits im oben zitierten BGE 111 IV
112. Diese Praxis ist in dem Sinne zu erweitern, dass jedenfalls dort,
wo eine kantonale Anklagebehörde besteht und sie befugt war, vor der
letzten kantonalen Instanz aufzutreten, stets nur diese allein berechtigt
ist, beim Bundesgericht die Nichtigkeitsbeschwerde in Strafsachen
einzureichen. Es kann nicht etwa entscheidend sein, welche von zwei
öffentlichen Anklagebehörden, die beide vor der letzten kantonalen Instanz
den staatlichen Strafanspruch vertreten konnten, vor dieser tatsächlich
auftrat. Damit würde das Recht der kantonalen Staatsanwaltschaft,
durch Einreichen einer eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde für die
einheitliche Rechtsanwendung im Kantonsgebiet zu sorgen, dort genommen,
wo sie vor der letzten kantonalen Instanz kein Rechtsmittel einlegte,
was nicht angeht. Die Einschränkung des Beschwerderechts kann daher
nur dadurch erfolgen, dass der entsprechenden Bezirksbehörde die
Beschwerdelegitimation gänzlich abgesprochen wird. Dies muss um so
mehr erfolgen, als auch ein nebeneinander bestehendes Beschwerderecht
zweier Behörden, welches jedoch nicht gleichzeitig ausgeübt werden kann
(BGE 111 IV 112), zu Schwierigkeiten führen kann, weil dies eine dem
Rechtsmittelsystem fremde vorherige Absprache unter den beiden Behörden
voraussetzt, die zu Schwierigkeiten führen kann, weil sie unter Umständen
nicht möglich ist oder zumindest erschwert sein kann.

Erwägung 5

    5.- Die Statthalterämter der Bezirke im Kanton Zürich sind
in Übertretungsstrafsachen für den Erlass von Strafverfügungen
zuständig. Verlangt der Bestrafte gerichtliche Beurteilung und hält das
Statthalteramt seine Strafverfügung aufrecht, so überweist es die Sache
an den Einzelrichter in Strafsachen des zuständigen Bezirksgerichtes. Im
Verfahren vor diesem vertritt das Statthalteramt den staatlichen
Strafanspruch (§ 341 ff. und § 358 ff. StPO/ZH). Gegen den Entscheid
des Einzelrichters können die Staatsanwaltschaft und das Statthalteramt
beim Obergericht Nichtigkeitsbeschwerde oder Berufung einlegen (§
395 Ziff. 1, § 410 und § 428 StPO/ZH). Im vorliegenden Fall reichte
die heutige Beschwerdegegnerin gegen den Einzelrichterentscheid beim
Obergericht Nichtigkeitsbeschwerde ein und in jenem Verfahren wurde das
Statthalteramt Uster als Beschwerdegegner behandelt.

    Obwohl dem Statthalteramt nach zürcherischem Recht bei Übertretungen
die Aufgabe des öffentlichen Anklägers zukommt und obwohl es das zur
Verfügung stehende kantonale Rechtsmittel ergreifen kann bzw. in diesem
Rechtsmittelverfahren Parteistellung hat, ist dessen Legitimation zur
Einreichung einer eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde nach dem oben
Gesagten zu verneinen. Neben dem Statthalteramt steht bei Übertretungen
auch der Staatsanwaltschaft das Recht zu, von den kantonalen Rechtsmitteln
Gebrauch zu machen. Im Kanton Zürich ist die Staatsanwaltschaft als für
das ganze Kantonsgebiet zuständiger öffentlicher Ankläger zu betrachten
(§ 72 GVG/ZH), dem auch die Aufgabe zukommt, mittels Ergreifung von
kantonalen Rechtsmitteln für die Wahrung des Rechts zu sorgen (§ 395
und 396 StPO/ZH). Da ihr auch im hier zu beurteilenden Fall das Recht
zugestanden hätte, bei der letzten kantonalen Instanz das zulässige
Rechtsmittel einzulegen, ist allein sie vor dem Kassationshof des
Bundesgerichts beschwerdelegitimiert.

    Auf die Nichtigkeitsbeschwerde des Statthalteramtes Uster ist daher
nicht einzutreten.