Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 484



115 II 484

86. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 21. November 1989
i.S. T. gegen Ehepaar H. (Berufung) Regeste

    Mietvertrag; Gültigkeit der Kündigung gemäss BMM, Ergänzung der
lückenhaften Kündigungsregelung (Art. 18 Abs. 3, 28 Abs. 3 und 31 Ziff. 1
Abs. 2 BMM; Art. 63 Abs. 2 OG; Art. 8 ZGB).

    1. Bindung des Bundesgerichts an die auf Beweiswürdigung beruhenden
Feststellungen der Vorinstanz über die Gründe, welche den Vermieter zur
Kündigung veranlasst haben. Ob eine tatsächliche oder natürliche Vermutung
für eine bestimmte Absicht des Vermieters spricht, ist ebenfalls eine
nicht überprüfbare Frage der Beweiswürdigung (E. 2).

    2. Lückenhaftigkeit des Mietvertrages, dessen Kündigung gemäss
vereinbarter Regelung durch die Sperrfrist von Art. 28 Abs. 3 BMM
verunmöglicht wird. Ergänzung des Vertrages nach dem hypothetischen
Parteiwillen (E. 4).

Sachverhalt

    A.- T. mietete mit Vertrag vom 27. Juli 1971 vom Ehepaar H.
ein Restaurant in der Zürcher Altstadt. Am 15. Mai 1976 wurde der
Mietvertrag unter anderem durch folgende Bestimmung ergänzt:

    "Die Vertragsdauer wurde für beide Parteien um weitere 10 Jahre
   verlängert und ist bis zum 31. März 1987 unkündbar. Wird der Vertrag
   weder von der einen noch der anderen Partei wenigstens 1 Jahr vor Ablauf
   der Mietzeit durch eingeschriebenen Brief gekündigt, so gilt er jeweils
   auf 5 weitere Jahre verlängert, wieder mit jährlicher Kündigungsfrist."

    Am 24. September 1985 erkannte das Bundesgericht im Verfahren nach
Art. 28 Abs. 2 BMM letztinstanzlich auf Unzulässigkeit einer von den
Vermietern anbegehrten Mietzinserhöhung.

    Am 25. September 1987 kündigten die Vermieter den Vertrag auf den 30.
September 1988, eventuell auf zwei spätere Termine.

    B.- Der Mieter klagte am 26. Oktober 1987 auf Feststellung der
Nichtigkeit oder Ungültigkeit der Kündigung, eventuell soweit sie auf
einen vor dem 31. März 1992 liegenden Zeitpunkt ausgesprochen worden
war; subeventuell verlangte er die längstmögliche Erstreckung des
Mietverhältnisses.

    Das Mietgericht des Bezirks Zürich wies die Klage mit Urteil vom
18. August 1988 ab und stellte in Gutheissung einer Widerklage der
Vermieter fest, dass die Kündigung auf den 30. September 1988 gültig
sei. In Abweisung eines Rekurses des Klägers bestätigte das Obergericht
des Kantons Zürich am 10. Januar 1989 dieses Urteil.

    C.- Der Kläger hat gegen den Beschluss des Obergerichts Berufung
eingelegt, die vom Bundesgericht abgewiesen wird.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Im Berufungsverfahren ist das Bundesgericht an die tatsächlichen
Feststellungen der letzten kantonalen Instanz gebunden, wenn sie nicht
offensichtlich auf Versehen beruhen, unter Verletzung bundesrechtlicher
Beweisvorschriften zustande gekommen (Art. 63 Abs. 2 OG) oder zu
ergängen sind (Art. 64 OG). Liegen solche Ausnahmen vor, so hat die
Partei, die den Sachverhalt berichtigt oder ergänzt wissen will, darüber
genaue Angaben mit Aktenhinweisen zu machen (BGE 110 II 497 E. 4). Eine
Ergänzung setzt zudem voraus, dass entsprechende Sachbehauptungen bereits
im kantonalen Verfahren prozesskonform aufgestellt, von der Vorinstanz
aber zu Unrecht für unerheblich gehalten oder übersehen worden sind, was
wiederum näher anzugeben ist; andernfalls gelten die Vorbringen als neu und
damit als unzulässig (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG; BGE 111 II 473 E. 1c mit
Hinweisen). Für eine blosse Kritik an der Beweiswürdigung des Sachrichters
sodann ist, soweit nicht Vorschriften des Bundesrechts in Frage stehen
(dazu KUMMER, N. 68 ff. zu Art. 8 ZGB), die Berufung nicht gegeben.

    b) Der Kläger hält die Kündigung des Mietvertrages gemäss Art. 31
Ziff. 1 Abs. 2 BMM für nichtig, weil sie als Repressalie gegen die
Wahrnehmung seiner Rechte aus der Missbrauchsgesetzgebung erklärt
worden sei.

    In Einklang mit der jüngsten bundesgerichtlichen Rechtsprechung
(BGE 114 II 81, 113 II 461 E. 3) ist das Obergericht von der Auffassung
ausgegangen, eine "Rachekündigung" im Sinne von Art. 31 Ziff. 1
Abs. 2 BMM sei auch nach Ablauf der Sperrfrist von Art. 28 Abs. 3
BMM nichtig. Die Beweislast für ein entsprechendes Kündigungsmotiv
hat es dem Kläger auferlegt und hinsichtlich der Beweisanforderungen
eine grosse Wahrscheinlichkeit genügen lassen, diese jedoch nicht als
erstellt erachtet. Der Kläger beanstandet weder die Beweislastverteilung
noch die gesetzten Beweisanforderungen, erblickt aber in der Annahme
der Beweislosigkeit eine Verletzung von Art. 8 ZGB. Er bringt zudem vor,
es bestehe eine natürliche Vermutung dafür, dass die Beklagten gekündigt
hätten, weil er die ihm gemäss dem Bundesbeschluss zustehenden Rechte
wahrgenommen habe.

    Das Motiv einer Kündigung ist Tatfrage (BGE 113 II 462 E. 3b). Lässt
sie der Sachrichter zufolge Beweislosigkeit offen, verletzt er Art. 8 ZGB
einzig dann, wenn er taugliche und formgültig beantragte Beweise dazu nicht
abgenommen hat. Dagegen schreibt ihm diese Bestimmung nicht vor, wie er
das Ergebnis der Beweiserhebungen zu würdigen hat (BGE 114 II 291). Der
Kläger macht nicht geltend, sein bundesrechtlicher Beweisführungsanspruch
sei verletzt worden; er will bloss die erhobenen Beweise abweichend von den
Feststellungen des Obergerichts gewichtet wissen. Für eine solche Kritik
an der vorinstanzlichen Beweiswürdigung aber steht die Berufung nicht zur
Verfügung, so dass insoweit darauf nicht einzutreten ist. Daran ändert
die Behauptung des Klägers nichts, es müsse auf eine natürliche Vermutung
abgestellt werden, die zu seinen Gunsten spreche. Ob im konkreten Fall
eine tatsächliche oder natürliche Vermutung besteht, ist ebenfalls eine
Frage der Beweiswürdigung (BGE 110 II 4). Eine solche Vermutung führt
im übrigen auch nicht zur Umkehr der Beweislast (KUMMER, N. 364 ff. zu
Art. 8 ZGB; GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 326).

    c) Der Kläger betrachtet die Kündigung zudem gemäss Art. 18
Abs. 3 BMM als nichtig, da sie im Zusammenhang mit einer nachfolgenden
Mietzinserhöhung ausgesprochen worden sei.

    Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Kündigung auch
dann nichtig, wenn sie im Hinblick auf eine spätere Mietzinserhöhung
ausgesprochen wird und den Mieter vor die Wahl stellen soll, entweder
die Mieträume zu verlassen oder den höheren Mietzins zu bezahlen. Dabei
ist wiederum Tatfrage, ob der Vermieter in solcher Absicht gehandelt hat
(BGE 115 II 84 ff. E. 3 und 4). Entgegen der Feststellung im angefochtenen
Urteil hält der Kläger diese Absicht für indizienmässig nachgewiesen. Auch
damit übt er aber unzulässige Kritik an der Beweiswürdigung der Vorinstanz,
auf welche nicht einzutreten ist. Die behauptete Nichtigkeit der Kündigung
scheitert somit bereits an der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz.

Erwägung 4

    4.- Das Obergericht geht davon aus, die Parteien hätten weder nach
empirischer noch normativer Vertragsauslegung eine Regelung für den Fall
getroffen, dass die vereinbarte Möglichkeit, den Mietvertrag auf den
31. März 1987 zu kündigen, wegen zwingenden Gesetzesrechts nicht zulässig
sei. Damit sei die Annahme ausgeschlossen, auch diesfalls erstrecke
sich die Mietdauer gemäss Vertragsnachtrag um fünf Jahre. Vielmehr liege
eine Vertragslücke vor, welche dahingehend zu schliessen sei, dass der
Kündigungstermin um die Dauer der Sperrfrist nach Art. 28 Abs. 3 BMM
hinausgeschoben werde. Der Kläger erblickt darin eine Verletzung von
Art. 18 OR.

    a) Eine Vertragslücke liegt vor, wenn die Parteien eine Rechtsfrage,
die den Vertragsinhalt betrifft, nicht oder nicht vollständig geregelt
haben (JÄGGI/GAUCH, N. 486 zu Art. 18 OR; KRAMER, N. 213 zu Art. 18 OR;
BGE 107 II 149). Ob der Vertrag in diesem Sinne einer Ergänzung bedarf,
ist vorerst durch empirische, bei deren Ergebnislosigkeit durch normative
Auslegung zu ermitteln (KRAMER, N. 213 und 224 ff. zu Art. 18 OR).

    Soweit das Obergericht festgestellt hat, die Parteien hätten die Frage
einer gesetzlichen Einschränkung der vereinbarten Kündigungsmodalitäten
nicht bedacht und deshalb nicht geregelt, hat es eine Tatfrage verbindlich
beantwortet. Auf die dagegen gerichteten Einwände des Klägers ist daher
nicht einzutreten. Soweit das Obergericht sodann auch aufgrund einer
normativen Auslegung zum Ergebnis gelangt ist, eine vertragliche Regelung
fehle, ist sein Entscheid bundesrechtlich nicht zu beanstanden. Die
Vertragsergänzung vom 15. Mai 1976 musste nach dem Vertrauensprinzip
so verstanden werden, dass die Mietdauer sich bloss dann um fünf Jahre
erstrecken sollte, wenn die Vertragsparteien eine Kündigung des Vertrages
auf den 31. März 1987 freiwillig unterliessen, nicht aber auch dann, wenn
die Auflösung auf diesen Zeitpunkt aus zwingenden gesetzlichen Gründen
ausgeschlossen war. Das Vertrauensprinzip gibt keinen Anhaltspunkt dafür,
dass die Parteien diesen Fall bedacht und geregelt hätten. Die Vorinstanz
hat somit zu Recht eine Vertragslücke angenommen.

    b) Ist ein lückenhafter Vertrag zu ergänzen, so hat der Richter -
falls dispositive Gesetzesbestimmungen fehlen - zu ermitteln, was die
Parteien nach dem Grundsatz von Treu und Glauben vereinbart hätten,
wenn sie den nicht geregelten Punkt in Betracht gezogen hätten. Bei der
Feststellung dieses hypothetischen Parteiwillens hat er sich am Denken
und Handeln vernünftiger und redlicher Vertragspartner sowie an Wesen und
Zweck des Vertrages zu orientieren (BGE 111 II 262, 108 II 114, 107 II 149;
JÄGGI/GAUCH, N. 498 ff. zu Art. 18 OR; KRAMER, N. 238 ff. zu Art. 18 OR;
MERZ, Vertrag und Vertragsschluss, S. 102 ff., Rz. 184 ff.). Das Ergebnis
dieser normativen Tätigkeit überprüft das Bundesgericht zwar frei (BGE 108
II 114), aber mit einer gewissen Zurückhaltung, da die Vertragsergänzung
regelmässig mit richterlichem Ermessen verbunden ist (vgl. BGE 48 II 258
f.). Verbindlich sind dagegen Feststellungen der Vorinstanz über Tatsachen,
die bei der Ermittlung des hypothetischen Willens in Betracht kommen
(BGE 107 II 149 und 424 mit Hinweisen).

    Im Lichte der erwähnten Kriterien ist die vom Obergericht
vorgenommene Vertragsergänzung nicht zu beanstanden. Auszugehen
ist davon, dass die Parteien im Jahre 1976 eine Vertragsdauer von
vorerst zehn Jahren vereinbarten, welche sich um weitere fünf Jahre
verlängern sollte, sofern keine der Parteien die Kündigung aussprach. Da
gesetzliche Kündigungsbeschränkungen nicht bedacht wurden, drängt sich
aus dem Vertrauensprinzip der Schluss geradezu auf, beim Eintritt einer
Sperrfrist werde die vereinbarte Vertragsdauer nur um diese verlängert
und der Kündigungstermin entsprechend hinausgeschoben, ohne dass die
neue fünfjährige Vertragsdauer beginne, welche die Parteien in die
eigene Gestaltungsfreiheit gestellt hatten. Vom massgebenden objektiven
Gesichtspunkt aus beurteilt darf die willentlich unterlassene Kündigung
nicht der gesetzlich untersagten gleichgestellt werden; die Folgen jener
richten sich nach den Vereinbarungen der Parteien, diejenigen dieser nach
den gesetzlichen Schutzbestimmungen. Der angefochtene Entscheid erweist
sich auch insoweit als bundesrechtskonform, was zur Abweisung der Berufung
führt, soweit darauf einzutreten ist.