Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 434



115 II 434

77. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 26. Oktober 1989 i.S.
Heller AG Wohnbauten gegen Varioprint AG (Berufung) Regeste

    Auslegung einer Bauhöhendienstbarkeit (Art. 738 ZGB).

    Eine Dienstbarkeit, mit welcher die erlaubte Bauhöhe auf dem belasteten
Grundstück in einer genauen Masszahl ausgedrückt wird, ist ihrem Sinne
entsprechend absolut zu verstehen. Sie muss daher unabhängig davon
eingehalten werden, ob die Bedürfnisse der herrschenden Liegenschaft im
konkreten Anwendungsfall durch ein Höherbauen tatsächlich geschmälert
würden (E. 2).

    Besteht der Zweck einer solchen Dienstbarkeit in der Verbesserung der
Wohnqualität auf dem herrschenden Grundstück, so erschöpft sich dieser
vernünftigerweise nicht nur in der Bewahrung der Aussicht, der Besonnung
und der Belichtung, sondern dient auch der Beschränkung des umbauten
Raumes auf dem Nachbargrundstück (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Die Firma Varioprint AG ist Eigentümerin der Parzelle Nr.
420 in der Gemeinde Heiden/AR. Darauf befindet sich ein etwas über
60 m langes Fabrikgebäude. Diese Liegenschaft grenzt im Norden an
die Parzelle Nr. 426, die im Eigentum der Firma Heller AG Wohnbauten
steht und mit einem Mehrfamilienhaus überbaut ist. Zugunsten dieser
Mehrfamilienhausliegenschaft und zulasten der Fabrikliegenschaft der Firma
Varioprint AG ist im Grundbuch eine Grunddienstbarkeit eingetragen. Danach
ist die Bauhöhe der Fabrikliegenschaft auf 6,5 m ab gewachsenem Terrain
beschränkt.

    Auf dem Dach der Fabrikliegenschaft befindet sich ein Aufbau,
der 2,14 m über die Oberkante des Dachrandes hinausragt und die in der
Dienstbarkeit festgelegte Bauhöhe überschreitet. Im Rahmen der Erneuerung
der technischen Anlagen beabsichtigte die Firma Varioprint AG anfangs 1987,
diesen Dachaufbau von 10,4 m2 auf 82,6 m2 zu vergrössern.

    Die Firma Heller AG Wohnbauten erhob öffentlichrechtliche und
privatrechtliche Baueinsprache. Die Baukommission Heiden entschied am
8. Mai 1987, die Frage, ob das Bauvorhaben der Varioprint AG gegen die
Bauhöhenbeschränkung verstosse, sei als Privatrechtsstreitigkeit durch
den Zivilrichter zu beurteilen. Dementsprechend setzte die Baukommission
Frist zur Klageerhebung an.

    B.- Die Firma Heller AG Wohnbauten erhob innerhalb der angesetzten
Frist gegen die Firma Varioprint AG Klage beim Kantonsgericht von Appenzell
Ausserrhoden mit folgendem Rechtsbegehren:

    "Es sei der Beklagten unter Androhung der Bestrafung nach Art. 292

    StGB zu verbieten, auf dem Gebäude Assek. Nr. 1526 der Liegenschaft

    Parz. Nr. 420, Grundbuch Heiden, einen Dachaufbau gemäss Bauanzeige
   des Gemeindebauamtes Heiden vom 25. Februar 1987 und Verfügung der
   Baukommission Heiden vom 8. Mai 1987 zu erstellen."

    Das Kantonsgericht wies die Klage mit Urteil vom 2. Mai 1988 ab.

    Die Heller AG Wohnbauten appellierte gegen dieses Urteil an das
Obergericht von Appenzell Ausserrhoden. Dieses wies die Klage mit Entscheid
vom 22. November 1988 ebenfalls ab.

    C.- Gegen den obergerichtlichen Entscheid hat die Heller AG Wohnbauten
Berufung an das Bundesgericht erhoben. Sie beantragt die Aufhebung der
beiden kantonalen Urteile und die Gutheissung der Klage, wobei sie die
im kantonalen Verfahren gestellten Rechtsbegehren erneuert.

    Die Varioprint AG beantragt die Abweisung der Berufung soweit darauf
einzutreten sei.

    Das Bundesgericht heisst Berufung und Klage unter Aufhebung des
angefochtenen Urteils gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist die Frage, ob
die von der Beklagten beabsichtigte Erweiterung der Dachaufbaute auf
ihrem Fabrikgebäude die Bauhöhenbeschränkung zugunsten der angrenzenden
Mehrfamilienhausliegenschaft der Klägerin verletze. Unbestritten ist,
dass die bereits bestehende Dachaufbaute die nach der Dienstbarkeit
zulässige Bauhöhe von 6,5 m überschreitet.

    a) Die Vorinstanz ist davon ausgegangen, die eingetragene
Bauhöhenbeschränkung bedürfe der Auslegung, da sich die Streitfrage, ob
eine Vergrösserung des Dachaufbaus zulässig sei, anders nicht beantworten
lasse. Der Inhalt der Dienstbarkeit werde durch die Zweckvorstellungen
der Parteien bei der Begründung des Rechtsverhältnisses bestimmt. In der
Folge liess sich die Vorinstanz wesentlich von der Entstehungsgeschichte
der Dienstbarkeit leiten.

    b) Soweit sich Rechte und Pflichten aus dem Grundbucheintrag
deutlich ergeben, ist dieser für den Inhalt der Dienstbarkeit massgebend
(Art. 738 Abs. 1 ZGB). Im Rahmen des Eintrages kann sich der Inhalt der
Dienstbarkeit sodann aus ihrem Erwerbsgrund oder aus der Art ergeben,
wie die Dienstbarkeit während längerer Zeit unangefochten und in gutem
Glauben ausgeübt worden ist (Art. 738 Abs. 2 ZGB).

    Im Verhältnis unter den Begründungsparteien bestimmt sich der Inhalt
der Dienstbarkeit indessen vorab nach dem Begründungsakt. Lässt sich
der wirkliche Wille der Parteien nicht mehr ermitteln, so ist eine
objektivierende Auslegung aufgrund der Bedürfnisse des herrschenden
Grundstücks vorzunehmen (vgl. LIVER, Zürcher Kommentar, N 23 f., N 91
und N 94-96 zu Art. 738 ZGB). Ausgehend vom Wortlaut gilt es, Sinn und
Zweck der Dienstbarkeit für das herrschende Grundstück im Zeitpunkt der
Errichtung zu ermitteln (BGE 113 II 508 E. 2; 109 II 414 f. E. 3). Je
genauer der Wortlaut der Dienstbarkeit abgefasst ist, um so enger bemessen
ist der Raum für die Auslegung aufgrund der weiteren Kriterien (vgl. LIVER,
Zürcher Kommentar, N 36, N 103 und N 109 zu Art. 738 ZGB).

    c) Der Wortlaut der Dienstbarkeit ist im vorliegenden Fall
eindeutig. Die Beklagte darf auf ihrer Fabrikliegenschaft nicht
höher als 6,5 m ab gewachsenem Terrain bauen. Diese Beschränkung ist
absolut gehalten und daher auch so zu verstehen. Ein Grund zu einer
einschränkenden Auslegung dahingehend, dass die Dienstbarkeit nur im Rahmen
eines bestimmten Bedürfnisses des herrschenden Grundstückes bestehe, ist
nicht ersichtlich. Eine Dienstbarkeit zur Begrenzung der Bauhöhe vermag
ihren Zweck vielmehr nur dann richtig zu erfüllen, wenn sie grundsätzlich
starr eingehalten werden muss. Wer eine solche Dienstbarkeit eingeht,
ist sich im klaren darüber, dass er nicht mehr höher bauen kann, sofern
der Dienstbarkeitsvertrag nicht entsprechende Ausnahmen vorsieht. Es
entspricht daher in aller Regel nicht dem Willen der Parteien, dass
in jedem konkreten Anwendungsfall noch nachgeprüft werden muss, ob die
Bedürfnisse der herrschenden Liegenschaft durch ein Höherbauen tatsächlich
geschmälert werden. Gegen eine solche Auslegung spricht auch die dadurch
entstehende Rechtsunsicherheit. Streitigkeiten wie die vorliegende
wären die unvermeidliche Folge, obwohl die Dienstbarkeit an sich klar
abgefasst ist. Dies kann aber nicht im Interesse der Parteien liegen. Es
ist deshalb nicht anzunehmen, dass eine solche Auslegung dem Willen der
Parteien entspricht. Die Dienstbarkeit ist vielmehr entsprechend ihrem
Wortlaut im Sinne einer absoluten Höhenbeschränkung zu verstehen.

Erwägung 3

    3.- Selbst wenn auf die konkrete Interessenlage beim Abschluss der
Dienstbarkeit abgestellt wird, ergibt sich indessen kein anderes Resultat.

    a) Die Vorinstanz hat zur Entstehungsgeschichte der
Dienstbarkeit ausgeführt, die Beklagte habe seinerzeit bei
Erstellung ihres Fabrikgebäudes die Grenz- und Gebäudeabstände zur
Mehrfamilienhausliegenschaft der Klägerin unterschreiten wollen, sei
aber auf eine volle Ausnützung der höchstzulässigen Gebäudehöhe von 12
m nicht angewiesen gewesen. Sie habe sich deshalb gegen eine Reduktion
des Grenzabstandes bereit gefunden, eine Beschränkung der Bauhöhe auf
6,5 m einzugehen. Mit der Bauhöhenbeschränkung habe vernünftigerweise
nichts anderes gewollt sein können, als dem Mehrfamilienhausgrundstück der
Klägerin ein Optimum an Wohnqualität bezüglich Besonnung, Belichtung und
Aussicht zu bewahren. Die Aussicht werde durch die geplante Dachaufbaute
aber nicht beeinträchtigt, da sich hinter dem Gebäude der Beklagten
eine weitere Fabrikfassade erhebe. Auch hinsichtlich der Besonnung sei
keine Verschlechterung Zu befürchten, da der Umriss der geplanten Baute
unter die Horizontlinie zu liegen käme. Gleich verhalte es sich mit der
Belichtung. Die Flucht der bestehenden Aufbaute liege 20,33 m hinter
der Fassade zurück, die dem klägerischen Mehrfamilienhaus zugewandt sei;
dieser Abstand würde sich bei der geplanten Vergrösserung der Dachaufbaute
unwesentlich um 3,3 m verringern.

    b) Wenn die Vorinstanz aus der Entstehungsgeschichte, insbesondere der
damaligen Interessenlage der Parteien, den Schluss gezogen hat, mit der
Bauhöhenbeschränkung habe man vernünftigerweise nichts anderes gewollt,
als dem Mehrfamilienhausgrundstück ein Optimum an Wohnqualität bezüglich
Besonnung, Belichtung und Aussicht zu bewahren, so hat sie damit entgegen
der Auffassung der Beklagten nicht eine Feststellung tatsächlicher Art
getroffen. Die Vorinstanz stellt hier nicht den wirklichen Willen, sondern
den hypothetischen Parteiwillen fest, den sie nach dem Vertrauensprinzip
ermittelt hat. Dies ist eine rechtliche Folgerung die der Überprüfung
durch das Bundesgericht unterliegt (BGE 107 II 418).

    c) In ihrem Ansatz ist die Auslegung der Vorinstanz nicht zu
beanstanden. Lässt sich nicht mehr genau feststellen, welche Motive der
Parteien für die Errichtung einer Dienstbarkeit im einzelnen massgebend
gewesen sind, so ist jedenfalls nicht anzunehmen, es habe sich um eine
blosse Liebhaberei oder ein anderes rein persönliches Interesse des
Eigentümers des herrschenden Grundstücks gehandelt. Es muss vielmehr davon
ausgegangen werden, dass die Parteien mit der Begründung der Dienstbarkeit
jenen Zweck verfolgt haben, der sich aufgrund der damaligen Bedürfnisse
des herrschenden Grundstücks vernünftigerweise ergab (BGE 107 II 336,
mit Hinweisen).

    Entgegen der Auffassung der Beklagten erschöpft sich der Zweck der
Dienstbarkeit, die Wohnqualität zu verbessern, jedoch nicht nur in der
Bewahrung der Aussicht, der Besonnung und der Belichtung. Die Begrenzung
der Gebäudehöhe auf ein bestimmtes Mass ist darüber hinaus auch ein Mittel
zur Beschränkung des umbauten Raumes und damit der baulichen Ausnützung des
belasteten Grundstücks. Insbesondere vermag eine Begrenzung der Bauhöhe
zu verhindern, die Bewohner der servitutsberechtigten Liegenschaft dem
Eindruck auszusetzen, vom grossen Volumen des Nachbargebäudes gleichsam
erdrückt zu werden. Diese das Bauvolumen beschränkende Funktion einer
Höhenbeschränkung ist dort um so wichtiger, wo das Gebäude auf der
dienstbarkeitsbelasteten Liegenschaft eine so grosse Fläche bedeckt wie
hier und infolge Reduktion des Grenz- und Gebäudeabstandes näher an das
Wohnhaus des berechtigten Grundstücks heranreicht als sonst zulässig. Auch
wenn daher Aussicht, Besonnung und Belichtung durch eine Überschreitung
der servitutsmässig festgelegten Bauhöhe nicht beeinträchtigt werden, wie
im angefochtenen Entscheid für das Bundesgericht verbindlich festgestellt
wird, so erfüllt die Einhaltung der festgelegten Bauhöhe dennoch einen
mit der Begründung der Dienstbarkeit vernünftigerweise angestrebten Zweck.

    Dem kann selbstverständlich nicht entgegengehalten werden, die
vorgesehene Vergrösserung der Dachaufbaute diene dem Interesse der
Nachbarschaft im Sinne einer Verminderung von Geruchsimmissionen. Falls
diese Immissionen das zulässige Mass übersteigen sollten, ist ihnen
gegebenenfalls auf andere Weise abzuhelfen als mit der geplanten
Dachaufbaute. Dass dies allenfalls nur auf Kosten des Fabrikbetriebes
möglich wäre, ist eine von der Beklagten hinzunehmende Folge der
Beschränkung der baulichen Ausnützung des Grundstückes durch die Begrenzung
der Bauhöhe.

    d) Damit steht aber auch fest, dass die Vorinstanz der Klägerin zu
Unrecht vorwirft, ihr Festhalten an der Dienstbarkeit verstosse gegen
den Grundsatz der Identität (BGE 107 II 335). Wie sich ergeben hat,
erfüllt die Bauhöhenbeschränkung auch heute noch einen Zweck, der ihr
bereits bei der Begründung der Dienstbarkeit zugekommen ist.