Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 201



115 II 201

34. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 27. April 1989 i.S. L.
gegen L. und Bezirksgerichtsausschuss Plessur (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Art. 145 Abs. 2 ZGB; rückwirkende Zusprechung von Unterhaltsleistungen
im Scheidungsprozess.

    Die in Art. 173 Abs. 3 ZGB vorgesehene Möglichkeit,
Unterhaltsleistungen während des Zusammenlebens bis zu einem Jahr vor
Einreichung des Gesuches zuzusprechen, muss auch im Zusammenhang mit
der Regelung des Getrenntlebens nach Art. 176 ZGB und der Anordnung
vorsorglicher Massnahmen während des Scheidungsprozesses nach Art. 145
Abs. 2 ZGB sinngemäss zum Zuge kommen. Im Rahmen von Art. 145 ZGB fällt
indessen eine Rückwirkung nur insoweit in Betracht, als die Massnahme
erst nach Einreichung der Scheidungsklage verlangt wurde.

Sachverhalt

    A.- Zwischen den Ehegatten L. ist ein Ehescheidungsverfahren
hängig. Am 8. Juni 1988 ersuchte die Ehefrau den Präsidenten des
Bezirksgerichts Plessur um die Anordnung vorsorglicher Massnahmen für
die Dauer des Prozesses. Sie verlangte dabei die rückwirkende Zusprechung
einer Unterhaltsrente ab August 1987, die in einer mündlich getroffenen
Vereinbarung auf Fr. 2'000.-- festgelegt worden sein soll.

    B.- Der Bezirksgerichtspräsident verfügte mit Entscheid vom
8. September 1988, der Ehemann habe der Ehefrau monatliche Beiträge
von Fr. 1'725.-- zu bezahlen. Nach allgemeiner Praxis könnten
Unterhaltsbeiträge nicht rückwirkend zugesprochen werden, so dass sie
auch im vorliegenden Fall ab Beginn des Gesuchsmonats, d.h. ab 1. Juni
1988 geschuldet seien.

    Am 29. September 1988 liess die Ehefrau beim Bezirksgerichtspräsidium
Plessur ein Wiedererwägungsgesuch einreichen, wobei sie verlangte, es
sei der Ziffer 1 der Präsidialverfügung vom 8. September 1988 Wirkung ab
August 1987, eventuell ab Januar 1988 zu verleihen. Der Gerichtspräsident
trat auf das Gesuch nicht ein, überwies es jedoch als Beschwerde an den
Bezirksgerichtsausschuss Plessur.

    Der Bezirksgerichtsausschuss wies die Beschwerde mit Entscheid vom 8.
November 1988 ab.

    C.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht beantragt
die Ehefrau die Aufhebung des Entscheides des Bezirksgerichtsausschusses.

    Der Beschwerdegegner stellt das Begehren, der angefochtene Entscheid
sei "gutzuheissen", während der Bezirksgerichtsausschuss auf eine
Vernehmlassung zur Beschwerde verzichtet hat.

    Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut und hebt
den angefochtenen Entscheid auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Bezirksgerichtsausschuss hat eine rückwirkende Verpflichtung
des Ehemannes zur Bezahlung von Unterhaltsbeiträgen an seine Ehefrau
aus zwei Gründen verneint. Einerseits hat er darauf hingewiesen, dass
gemäss geltender Rechtsprechung Unterhaltsbeiträge nicht rückwirkend
zugesprochen werden. Anderseits anerkannte er zwar, dass mit der Revision
des Eherechts in Art. 173 Abs. 3 ZGB ausdrücklich die Möglichkeit der
rückwirkenden Zusprechung der Unterhaltsleistungen bis zu einem Jahr vor
Gesuchseinreichung ins Gesetz aufgenommen wurde. Doch erachtete es der
Bezirksgerichtsausschuss nicht als gerechtfertigt, diese nur für die Dauer
des ehelichen Zusammenlebens ausdrücklich im Gesetz verankerte Rückwirkung
analog auch auf die nach Aufhebung des gemeinsamen Haushalts festzulegenden
Unterhaltsbeiträge auszudehnen, nachdem diese Möglichkeit vom Gesetzgeber
in den revidierten Art. 175 ff. ZGB gerade nicht vorgesehen worden sei.

Erwägung 4

    4.- Die Beschwerde kann nur in dem Sinne verstanden werden, dass
die Beschwerdeführerin sich gegen eine unterschiedliche Behandlung
gleichartiger Sachverhalte wendet. Sie beanstandet denn auch, dass der
Bezirksgerichtsausschuss sich auf kein Argument zu stützen vermöge,
welches den logischen Zusammenhang zwischen den Art. 173 und 176 ZGB
in Frage stelle und eine unterschiedliche Behandlung des Ansprechers
zu rechtfertigen vermöchte, je nachdem, ob das Zusammenleben aufgehoben
worden sei oder nicht. Die Beschwerdeführerin weist darauf hin, dass in
beiden Fällen der Ansprecher mit dem Verpflichteten verheiratet sei, nur
dass er im Falle von Art. 176 ZGB zum Getrenntleben berechtigt sei. Das
sei aber kein Grund, diesen Ansprecher unterhaltsrechtlich schlechter
zu stellen als denjenigen, der mit dem Verpflichteten im gemeinsamen
Haushalt lebe. Das Getrenntleben und die sich daraus ergebende Tatsache,
dass zwei Haushalte geführt werden, könnten sich allenfalls auf die Höhe
der Unterhaltsbeiträge auswirken. Diesem Umstand sei im vorliegenden Fall
denn auch Rechnung getragen worden.

    a) Diese Rüge erscheint als begründet. Wie der Botschaft des
Bundesrates vom 11. Juni 1979 zum neuen Eherecht zu entnehmen ist, ist
Art. 173 Abs. 3 ZGB, welcher bestimmt, dass Unterhaltsleistungen für
die Zukunft und für das Jahr vor Einreichung des Begehrens zugesprochen
werden können, in Anlehnung an Art. 279 Abs. 1 ZGB erlassen worden
(BBl 1979 II S. 1252 N. 214.122 und S. 1276 N. 219.222.13). In diese
Bestimmung wurde erstmals der Grundsatz aufgenommen, dass das Kind gegen
seine Eltern auf Leistung des Unterhalts klagen kann für die Zukunft
und für ein Jahr vor Klageanhebung. Der Sinn dieses Grundsatzes liegt
darin, dass der Unterhalt für die Gegenwart und die Zukunft und nicht
für eine unbestimmt lange Dauer der Vergangenheit gefordert werden
soll (in peritum non vivitur). Anderseits soll aber der Berechtigte
auch nicht gezwungen sein, sofort zum Richter zu gehen, sondern es
soll ihm eine gewisse Zeit für gütliche Einigung eingeräumt werden
(Botschaft des Bundesrates vom 5. Juni 1974 über die Änderung des ZGB
(Kindesverhältnis), BBl 1974 II S. 58/59). Allerdings hat der Gesetzgeber
diesen bundesrechtlichen Grundsatz ausdrücklich nur in Art. 173 ZGB,
der die richterlichen Massnahmen während des Zusammenlebens regelt,
nicht hingegen in Art. 176 ZGB, der sich mit dem Getrenntleben befasst,
aufgenommen. Indessen ist nicht einzusehen, weshalb der Fall des
Getrenntlebens in dieser Hinsicht anders zu behandeln ist als derjenige des
Zusammenlebens, da in beiden Fällen die Ehe weiter besteht und in beiden
auch ein Bedürfnis nach einem Versuch der gütlichen Einigung vorhanden
sein kann. Auch der Bezirksgerichtsausschuss vermochte keinen Grund
anzugeben für eine unterschiedliche Behandlung der beiden Fälle ausser der
angeblichen kantonalen Praxis, welche eine rückwirkende Zusprechung von
Unterhaltsbeiträgen verbiete. In der von der Beschwerdeführerin zitierten
Kommentarstelle wird denn auch ohne weiteres - und wohl deshalb auch ohne
nähere Begründung - die Regelung von Art. 173 Abs. 3 ZGB als auf Art. 176
Abs. 1 Ziff. 1 ZGB analog anwendbar erklärt, sofern das Getrenntleben schon
länger als ein Jahr gedauert hat (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Kommentar zum
Eherecht, N. 28 zu Art. 176 ZGB). Gleicher Meinung sind auch HEGNAUER,
Grundriss des Eherechts, 2. Aufl., S. 196 unten, und DESCHENAUX/STEINAUER,
Le nouveau droit matrimonial, Bern 1987, S. 140.

    Die gleichen Überlegungen haben auch Gültigkeit für die Anordnung
der vorsorglichen Massnahmen während der Dauer des Scheidungsverfahrens
im Sinne von Art. 145 ZGB. Mit der Einreichung der Scheidungsklage wird
der Scheidungsrichter zuständig für die Regelung der Unterhaltspflicht
anstelle des Eheschutzrichters, welcher im Falle von Art. 173 und
176 ZGB angegangen werden muss (BGE 101 II 2 mit Hinweisen). Da die
Entscheidungsbefugnis des Eheschutzrichters (Art. 172 Abs. 3 ZGB) und
jene des Scheidungsrichters nicht in allen Teilen übereinstimmen, drängt
sich auch eine Abgrenzung ihrer Kompetenzen in zeitlicher Hinsicht auf
(BGE 101 II 2; HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Vorbem. zu Art. 171 ff. N. 17
f. mit weiteren Hinweisen). Der Richter nach Art. 145 ZGB kann daher
nicht auch in den Zeitraum zurückwirken, der in die Zuständigkeit des
Eheschutzrichters fällt, auch wenn mit der Jahresfrist in Analogie zu
Art. 173 Abs. 3 ZGB ein solcher berührt wird. Eine Rückwirkung fällt somit
nur insoweit in Betracht, als die Massnahme nach Art. 145 ZGB erst nach
Einreichung der Scheidungsklage verlangt wurde. Ist dies wie hier der Fall,
stellt sich daher die Frage nach der Regelung der Unterhaltspflicht nicht
nur für die Zukunft, sondern auch für die Zeit zwischen der Einreichung
der Scheidungsklage und des Massnahmebegehrens. Für die Beurteilung dieser
Frage ist immer der Scheidungsrichter zuständig. Leben die Ehegatten
aber trotz des hängigen Scheidungsverfahrens noch zusammen, so hat
der Massnahmerichter sich an Art. 173 ZGB, im Falle des Getrenntlebens
hingegen an Art. 176 ZGB zu orientieren. Auch daraus ergibt sich, dass
der bundesrechtliche Grundsatz über die beschränkte Rückwirkung der
Unterhaltsleistungen, der vom Kindesrecht in das neue Eherecht übernommen
wurde, auch bei Anwendung von Art. 145 ZGB gelten muss. Im übrigen bleibt
auch hier die Ehe bis zum Abschluss des Scheidungsverfahrens aufrecht
und soll die Partei, die sich vorerst um eine gütliche Einigung über die
Unterhaltsleistungen bemüht, nicht über Gebühr benachteiligt werden. Die
in Art. 173 Abs. 3 ZGB enthaltene Bestimmung über die zeitliche Dauer
der Unterhaltspflicht ist somit nicht nur im Falle von Art. 176 ZGB,
sondern auch im Verfahren nach Art. 145 ZGB sinngemäss anzuwenden.

    Wenn der Massnahmerichter, wie im vorliegenden Fall der
Bezirksgerichtsausschuss, die Berücksichtigung dieses allgemeinen
und klaren bundesrechtlichen Rechtsgrundsatzes mit der Begründung, er
widerspreche der bisherigen in seinem Kanton geübten Praxis, ablehnt, so
verfällt er in Willkür und verstösst damit gegen Art. 4 BV (BGE 112 Ia 122
E. 4 und 112 II 320 E. a). Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben.

    b) Im vorliegenden Fall ist den Akten nicht genau zu entnehmen,
wann die Scheidungsklage eingereicht worden ist. Die Beschwerdeführerin
ersuchte am 8. Juni 1988 um den Erlass vorsorglicher Massnahmen im
Sinne von Art. 145 Abs. 2 ZGB, wobei sie die Zusprechung monatlicher
Unterhaltsbeiträge von Fr. 2'000.-- rückwirkend ab August 1987, d.h. dem
auf die Aufnahme des Getrenntlebens folgenden Monat, verlangte. Es macht
den Anschein, dass der Beschwerdegegner seine Klage nach dem 9. November
1987 eingereicht hat. Für die Regelung der Unterhaltspflicht des Ehemannes
war anscheinend zumindest ab November 1987 der Scheidungsrichter und nicht
der Eheschutzrichter zuständig. Nachdem das neue Eherecht am 1. Januar
1988 in Kraft getreten ist, gilt die neue Regelung laut Art. 8 SchlT ZGB
ab diesem Zeitpunkt (BGE 114 II 14 f. E. 2). Die Beschwerdeführerin hat
daher auf jeden Fall Anspruch auf rückwirkende Unterhaltsleistungen ab
dem 1. Januar 1988 (vgl. auch HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N. 23 zu Art. 173
ZGB; FRANK, Grundprobleme des neuen Ehe- und Erbrechts der Schweiz,
Basel 1987, S. 113). Soweit der Massnahmerichter der Beschwerdeführerin
die Unterhaltsbeiträge nur mit Wirkung ab 1. Juni 1988 und nicht schon
ab 1. Januar 1988 zugesprochen hat, ist sein Entscheid offensichtlich
unhaltbar. Es ist Sache des kantonalen Richters zu entscheiden, ob dem
Gesuch der Beschwerdeführerin um rückwirkende Gewährung der Beiträge
des Ehemannes ab August oder allenfalls ab November 1987 entsprochen
werden könnte. Indessen wäre dies höchstens bis zum Zeitpunkt der
Anhängigmachung der Scheidungsklage möglich.