Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 187



115 II 187

32. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 2. März 1989 i.S. X.
gegen Erbengemeinschaft W. (Berufung) Regeste

    Materielle Rechtskraft eines Urteils, mit dem die Einrede ungenügender
Substantiierung gutgeheissen wird.

    Voraussetzungen, unter denen ein Sachurteil mit materieller
Rechtskraftwirkung ergeht, wenn ein Gericht die Sachvorbringen der
beweisbelasteten Partei als nicht hinreichend substantiiert beurteilt.
Bedeutung der Begründung, des Dispositivs und der prozessualen Bezeichnung
des Entscheides durch das urteilende Gericht.

Sachverhalt

    A.- Rechtsanwalt X. vertrat W. in einem Enteignungsverfahren,
das der Kanton Uri gegen diesen eingeleitet hatte. Wieweit er für
W. oder dessen Tochter noch in anderen Angelegenheiten tätig war,
ist umstritten. Mit Entscheid vom 20. Dezember 1972 verpflichtete
die Eidgenössische Schätzungskommission, 9. Kreis, den Kanton Uri, dem
enteigneten W. eine Parteientschädigung von Fr. 4'126.60 zu bezahlen. In
der gleichen Sache sprach das Bundesgericht mit Abschreibungsbeschluss
vom 16. Mai 1974 W. eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu. Die
genannten Beträge wurden vom Kanton Uri an X. ausbezahlt. Zudem hatte er
von seinem Mandanten Kostenvorschüsse von insgesamt Fr. 4'000.-- erhalten.

    Am 11. Juni 1974 stellte X. für seine anwaltlichen Bemühungen
Rechnung über Fr. 30'504.20 und beanspruchte nach Abzug der
geleisteten Parteientschädigungen und Kostenvorschüsse einen Saldo von
Fr. 20'377.60. W. verweigerte die Zahlung, worauf X. beim Landgericht
Uri Klage einreichte. Der Beklagte erhob die Einreden der sachlichen
und örtlichen Unzuständigkeit, der beurteilten Sache, der ungenügenden
Substantiierung der Klage sowie des Verzichts des Klägers auf den
streitigen Saldo.

    Das Landgericht hiess mit Urteil vom 11. Dezember 1979 die Einreden
des Beklagten mit Ausnahme derjenigen des Verzichts gut. Gegen diesen
in der Rechtsmittelbelehrung als Prozessurteil bezeichneten Entscheid
reichte X. beim Obergericht des Kantons Uri Rekurs, eventuell Berufung,
ein. Dieses wies den Rekurs gegen den auch von ihm als Prozessurteil
bezeichneten erstinstanzlichen Entscheid am 18. Juni 1980 ab. Hierauf
erhob X. staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4
BV. Das Bundesgericht kam mit Urteil vom 17. Februar 1982 zum Schluss,
das Landgericht Uri habe die Einreden der abgeurteilten Sache und der
fehlenden Zuständigkeit in unhaltbarer Weise geschützt. Hingegen hätte
es die Einrede der ungenügenden Substantiierung der Klage unter dem
Blickwinkel des Willkürverbots auch dann gutheissen dürfen, wenn es sich
für die Beurteilung der Klage in vollem Umfang als zuständig erachtet
hätte. Weil damit die kantonalen Entscheide im Ergebnis vor Art. 4 BV
standhielten, wurde die Beschwerde abgewiesen.

    B.- Am 22. Juni 1983 reichte X. gegen die Erbengemeinschaft des
zwischenzeitlich verstorbenen W. beim Landgericht Uri erneut eine
Forderungsklage über die nämlichen Fr. 20'377.60 ein. Das Landgericht trat
mit Urteil vom 26. März 1985 auf die Klage nicht ein, da sein erstes Urteil
in materielle Rechtskraft erwachsen sei und somit eine abgeurteilte Sache
vorliege. Dagegen erhob X. Rekurs an das Obergericht, wobei er geltend
machte, der Entscheid sei unter Verletzung von Ausstandsbestimmungen
zustande gekommen und zudem im Ergebnis willkürlich, da das erste Urteil
des Landgerichts bloss als Prozessurteil ergangen sei und somit keine
materielle Rechtskraft entfalte. Das Obergericht wies den Rekurs am
30. Oktober 1985 ab.

    Das Bundesgericht hiess am 23. Januar 1987 die von X. gegen diesen
Entscheid eingelegte staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 58 BV gut. Die Frage der abgeurteilten Sache wurde nicht geprüft. In
den Erwägungen hielt das Gericht lediglich fest, diese Rüge wäre ihm wohl
mit Berufung und nicht mit staatsrechtlicher Beschwerde zu unterbreiten
gewesen.

    C.- Mit Urteil vom 10. November 1987 trat das Landgericht Uri auf
die Klage erneut nicht ein, welchen Entscheid das Obergericht auf Rekurs
des Klägers am 24. Februar 1988 bestätigte. Beide kantonalen Instanzen
hielten dafür, der erste Entscheid des Landgerichts vom 11. Dezember 1979
sei jedenfalls insoweit als Sachurteil ergangen, als er die Einrede der
mangelnden Substantiierung der Klage geschützt habe. Da der streitige
Anspruch somit endgültig beurteilt worden sei, stehe die materielle
Rechtskraft des ersten Entscheides einer neuen Klage entgegen.

    Der Kläger hat gegen das Urteil des Obergerichtes Berufung eingereicht,
die vom Bundesgericht abgewiesen wird.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) In materielle Rechtskraft erwachsen grundsätzlich nur
Sachurteile, Prozessurteile höchstens hinsichtlich der beurteilten
Zulässigkeitsfrage (HABSCHEID, Die Rechtskraft nach schweizerischem
Zivilprozessrecht, SJZ 74/1978, S. 201 ff., 203 f.; HABSCHEID,
Droit judiciaire privé suisse, 2. Aufl., S. 306 f.). Im vorliegenden
Verfahren stellt sich die Frage, ob das formell rechtskräftige Urteil
des Landgerichts Uri vom 11. Dezember 1979 ein Sachurteil darstellt.

    b) Ein Sachurteil liegt vor, wenn das Gericht sich über
Begründetheit oder Unbegründetheit der Klage ausspricht, wenn der
geltend gemachte Anspruch bestandesmässig beurteilt wird (GULDENER,
Schweiz. Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 204 und S. 242). Im Gegensatz
zum Prozessurteil beschlägt es nicht die formelle Zulässigkeit, sondern
die materielle Begründetheit der Klage. Es stellt fest, ob nach Massgabe
des vorgetragenen oder im Beweisverfahren ermittelten Sachverhalts der
behauptete Anspruch besteht und gegebenenfalls in welchem Umfang.

    Ob ein Sachurteil vorliegt, hängt demnach allein davon ab, ob das
Gericht die Sachverhaltsvorbringen der Parteien materiell-rechtlich
würdigte, nicht aber von der Art und Weise der Ermittlung der
tatbeständlichen Urteilsgrundlagen. Stellt der Richter fest,
ein Sachvorbringen sei unbewiesen geblieben, und fällt er gestützt
darauf einen non-liquet-Entscheid, erwächst dieser ebenso in materielle
Rechtskraft, wie wenn der Richter zum Schluss gelangt, die Behauptungen der
beweisbelasteten Partei seien nicht hinreichend substantiiert vorgetragen
worden, um über Bestand oder Nichtbestand des Anspruchs die notwendigen
Enscheidungsgrundlagen abzugeben, weshalb dieser aufgrund der gesetzlichen
Beweislastregel zu verneinen sei (zur Substantiierungspflicht BGE 108 II
339 ff.; zur Rechtskraft der non-liquet-Entscheidung KUMMER, das Klagerecht
und die materielle Rechtskraft im schweizerischen Recht, S. 94 f.).
Für die Frage nach dem Sachurteil ist mithin ausschliesslich das materielle
Schicksal der individualisierten Rechtsbehauptung massgebend, denn zur
Beurteilung gelangt bloss diese Rechtsbehauptung und nicht eine Rechtsfolge
im Umfang ihrer Begründetheit (KUMMER, aaO, S. 94). Daher ergeht ein
Sachurteil, wenn der Richter nach Massgabe der aufgestellten Behauptungen
den geltend gemachten Anspruch als hinreichend individualisiert, jedoch
die Tatsachenbehauptungen als ungenügend substantiiert erachtet, ein
Prozessurteil dagegen, wenn die vorgetragenen Behauptungen nicht einmal
die Individualisierung des Anspruchs zulassen (GEORGES HUGUENIN-DUMITTAN,
Behauptungslast, Substantiierungspflicht und Beweislast, Diss. Zürich
1980, S. 21 f. und 25). Diese Rechtslage verkennt der Kläger, wenn er
einwendet, nach der von den kantonalen Instanzen vertretenen Auffassung
wäre der Urheber einer vollständig begründungslosen Klage rechtskraftmässig
besser gestellt als derjenige einer mangelhaft begründeten Eingabe.

    Die materielle Rechtskraft des Sachurteils erstreckt sich nach
dem Grundsatz der Präklusion auf den individualisierten Anspruch
schlechthin und schliesst Angriffe auf sämtliche Tatsachen aus,
die im Zeitpunkt des ersten Urteils bereits bestanden hatten,
unabhängig davon, ob sie den Parteien bekannt waren, von diesen
vorgebracht oder vom Richter beweismässig als erstellt erachtet wurden
(HABSCHEID, Schweiz. Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht,
S. 229 Rz. 631; HABSCHEID, Droit judiciaire, S. 317; GULDENER,
aaO, S. 379). Unbekümmert darum, ob die privatrechtliche oder die
prozessrechtliche Substantiierungspflicht in Frage steht, trägt daher
die behauptungsbelastete Partei das Risiko, den materiellen Anspruch
zu verlieren, wenn sie ihrer Obliegenheit nicht nachkommt, die
Tatsachenbehauptungen genügend zu substantiieren (BGE 108 II 340 E. 2d).

    Sachurteile entfalten materielle Rechtskraft nur insoweit,
als über den erhobenen Anspruch entschieden worden ist (BGE 101 II
378). Das heisst indessen nicht, der Richter müsse sich in jedem Fall
mit den Anspruchsbehauptungen beweismässig auseinandersetzen, sondern
besagt bloss, dass einzig das Sachurteilsdispositiv an der Rechtskraft
teilnimmt, nicht aber die Sachverhaltsfeststellungen oder die Erwägungen
zur Rechtslage. Fällt der Richter einen non-liquet-Entscheid oder verneint
er einen erhobenen Anspruch mangels genügender Substantiierung, ist daher
unter dem Blickwinkel der materiellen Rechtskraft unerheblich, ob Art. 8
ZGB durch falsche Verteilung der Beweislast oder übersetzte Anforderungen
an die bundesrechtliche Substantiierungspflicht verletzt oder kantonales
Prozessrecht falsch angewandt wurde. Die Funktion der Rechtsprechung, die
Rechtsgewissheit und den Rechtsfrieden herzustellen, erheischt, dass jedes
formell rechtskräftige Sachurteil auch materielle Rechtskraft entfaltet,
selbst wenn es auf unrichtigen Grundlagen beruht (GULDENER, aaO, S. 387;
GERHARD WALTER, Zur Abweisung einer negativen Feststellungsklage, ZBJV
123/1987, S. 553 ff., S. 557 f.; vgl. auch STEIN-JONAS, Kommentar zur
Zivilprozessordnung, 20. Aufl., N. 118 zu § 322 mit weiteren Hinweisen).

    Ob sodann ein Sach- oder ein Prozessurteil vorliegt, entscheidet
sich nicht nach der Bezeichnung des Entscheides, sondern allein nach
dessen Gehalt. Ein Prozessurteil ändert seinen Charakter nicht, wenn
im Dispositiv eine Klage fälschlicherweise abgewiesen, anstatt wegen
Fehlens einer Prozessvoraussetzung - auf sie nicht eingetreten wird (BGE
101 II 378 f.). Ebensowenig wird ein Sachurteil, mit dem ein ungenügend
substantiierter Anspruch als unbegründet erklärt wird, zum Prozessurteil,
bloss weil das urteilende Gericht es als solches bezeichnet.

    c) Das Landgericht Uri hat mit seinem Urteil vom 11. Dezember 1979
die Einrede W.s, die Klage sei ungenügend substantiiert, geschützt. Das
Obergericht hat diese Betrachtungsweise im Urteil vom 18. Juni 1980
übernommen. Wohl gingen beide kantonalen Instanzen zu Unrecht davon aus,
die eingeklagte Honorarforderung sei bloss insoweit zu überprüfen, als sie
Bemühungen ausserhalb des Enteignungsverfahrens umfasse; doch stellte das
Bundesgericht in seinem Entscheid vom 17. Februar 1982 ausdrücklich fest,
die Gutheissung der Einrede halte vor Art. 4 BV selbst dann stand, wenn
die zu Unrecht vorgenommene Kognitionsbeschränkung entfalle. Mit dieser
Begründung aber wurden die angefochtenen Entscheide in ihrer formellen
Rechtskraft belassen.

    Die Erwägungen im Urteil vom 11. Dezember 1979 lassen weiter
keinen Zweifel darüber offen, dass nach Auffassung des Landgerichts
der beweisbelastete Kläger seine Behauptungen nicht genügend
substantiiert vorgetragen hatte, um über Bestand oder Nichtbestand des
im übrigen ausreichend individualisierten Anspruchs die notwendigen
Entscheidungsgrundlagen abzugeben. Insoweit liegt nach dem Gesagten
inhaltlich ein Sachentscheid vor. Dessen Bezeichnung als Prozessurteil
in der Rechtsmittelbelehrung ist unerheblich, da die Qualifikation - wie
dargelegt - nach dem Inhalt und nicht nach der äusseren Form vorzunehmen
ist. Aus denselben Gründen ist für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens
bedeutungslos, dass das Obergericht gegen das Urteil des Landgerichts
kantonalrechtlich nur einen Rekurs, d.h. das Rechtsmittel gegen ein
Prozessurteil zuliess. Zudem vermöchte auch eine unrichtige prozessuale
Beurteilung des erstinstanzlichen Entscheides durch das Obergericht die
materielle Rechtskraft als Institut des Bundesrechts nicht zu beeinflussen.

    Ebensowenig ist entscheidend, dass das Urteil vom 11. Dezember 1979
lediglich die Einrede des Beklagten schützte, sich dagegen über das
Schicksal der Klage nicht aussprach, diese insbesondere nicht förmlich
abwies. Der Schutz des Anspruchs und der auf seine Zerstörung gerichteten
Einrede schliessen sich gegenseitig aus. Wird einem der beiden Begehren
entsprochen, bedeutet dies gleichzeitig die Abweisung des andern. Schützt
der Richter beispielsweise eine vom Beklagten erhobene Verjährungseinrede,
verneint er gleichzeitig die selbständige Durchsetzbarkeit des eingeklagten
Anspruchs, wobei wiederum ohne Bedeutung ist, ob er im Dispositiv die
Einrede gutheisst oder die Klage abweist. Das eine heisst zwangsläufig
gleichzeitig das andere. Gleich verhält es sich aber bei Gutheissung der
Einrede ungenügender Substantiierung; damit ist ebenfalls die Abweisung
des eingeklagten, ungenügend substantiierten Anspruchs festgestellt.