Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 II 123



115 II 123

23. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 17. März 1989
i.S. Z. U. gegen H. U. (Berufung) Regeste

    Art. 277 Abs. 2 ZGB; Klage des mündigen Kindes auf Unterhalt zur
Vervollständigung der Schulbildung und für die Dauer der anschliessenden
Zweitlehre.

    - Der Unterhaltsanspruch nach Art. 277 Abs. 2 ZGB ist auf die
Verwirklichung einer beruflichen Ausbildung gerichtet. Diese ist zwar nicht
eng zu verstehen und umfasst nicht nur die eigentliche Berufsschulung. Ein
Anspruch auf Unterhalt über die Mündigkeit hinaus ist jedoch nur dann
gegeben, wenn der Ausbildungsplan zumindest in seinen Grundzügen bereits
vor der Mündigkeit angelegt ist (E. 4b).

    - Keine Berücksichtigung von Fähigkeiten und Neigungen, die sich
ausschliesslich erst nach der Mündigkeit entwickelt haben (E. 4d).

    - Besteht gestützt auf Art. 277 Abs. 2 ZGB ein Anspruch auf Unterhalt
für eine Zweitausbildung nach der Mündigkeit, wenn der zuerst erlernte
Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausgeübt werden kann? Frage
offengelassen, da ein solcher Anspruch jedenfalls nur im Rahmen eines
bestimmten Ausbildungsplanes gegeben ist und daher voraussetzt, dass das
neue Berufsziel feststeht (E. 4e).

Sachverhalt

    A.- Die Ehe von H. und J. U. wurde am 12. Dezember 1980 geschieden. Der
am 12. April 1962 geborene Sohn Z. wurde unter die elterliche Gewalt
der Mutter gestellt. Er absolvierte in der Folge eine Lehre als
Autoservice-Mann, die er im Jahre 1982 abschloss.

    B.- Am 22. Januar 1985 reichte Frau U. namens und mit Vollmacht
ihres Sohnes Z. beim Bezirksgericht Hinwil gegen den Vater H. U. folgende
Unterhaltsklage ein:

    "Es sei der Beklagte zu verpflichten, dem Klüger für die Dauer seiner

    Schulausbildung und die anschliessende Lehre sowie für die Zeit seit

    Aufnahme der Privatstunden bis zum eigentlichen Schulbeginn einen
   angemessenen

    Unterhaltsbeitrag zu bezahlen, zahlbar monatlich je auf den Ersten
   jeden Monats."

    Ferner wurde beantragt, dieser Unterhaltsbeitrag sei mit einer üblichen
Indexklausel zu versehen und der Beklagte sei zur Sicherheitsleistung
zu verpflichten.

    Das Bezirksgericht Hinwil hiess die Klage am 28. Oktober 1986
im wesentlichen gut und verpflichtete den beklagten Vater, seinem
erwachsenen Sohn rückständige Unterhaltsbeiträge im Betrage von
Fr. 36'751.-- zu bezahlen. Ausserdem wurde der Vater zur Leistung
weiterer Unterhaltsbeiträge bis zum 31. März 1991 verpflichtet, die
monatlich zwischen Fr. 2'400.-- und Fr. 570.-- betragen sowie indexiert
sein sollten. Überdies wurde er zur Sicherheitsleistung angehalten.

    Der Vater reichte beim Obergericht des Kantons Zürich Berufung
ein. Dieses hiess die Berufung mit Urteil vom 19. März 1987 gut und wies
die Klage ab.

    C.- Sohn Z. hat gegen das Urteil des Obergerichts Berufung an das
Bundesgericht und Nichtigkeitsbeschwerde an das Kassationsgericht des
Kantons Zürich erhoben.

    Mit der Berufung an das Bundesgericht beantragt Z. die Aufhebung
des angefochtenen Urteils. Die Sache sei zur Aktenergänzung und
zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventuell
verlangt er sinngemäss die Wiederherstellung des bezirksgerichtlichen
Urteils. Ausserdem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege
unter Einschluss der unentgeltlichen Verbeiständung.

    Der Beklagte beantragt die Abweisung der Berufung, soweit darauf
einzutreten sei.

    D.- Mit Beschluss vom 5. Dezember 1988 hat das Kassationsgericht
des Kantons Zürich festgestellt, dass ein Teil der Begründung im
angefochtenen Urteil an einem Nichtigkeitsgrund leide; es hat diesen
Teil der Urteilsbegründung zuhanden des Bundesgerichts gestrichen. Im
übrigen hat es die Nichtigkeitsbeschwerde abgewiesen, soweit darauf
einzutreten war.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Der Kläger steht auf dem Standpunkt, sein Anspruch auf Gewährung
von Unterhalt durch den Beklagten müsse gestützt auf Art. 277 Abs. 2 ZGB
selbst dann anerkannt werden, wenn vom Sachverhalt ausgegangen werde,
wie er im angefochtenen Urteil festgestellt sei. Nach Art. 302 Abs. 2 ZGB
habe ein Kind gegenüber seinen Eltern Anspruch auf eine angemessene, seinen
Fähigkeiten und Neigungen soweit als möglich entsprechende allgemeine und
berufliche Ausbildung. Als allgemeine Ausbildung im Sinne dieser Bestimmung
müsse mindestens ein Volksschulabschluss gelten. Da dem Kläger mit einem
Volksschulabschluss eine grössere Palette an Berufen offenstehe als mit der
bis anhin lückenhaften Schulbildung, müsse folgerichtig auch sein Anspruch
auf eine seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechende Berufsausbildung
im Anschluss an die neu erworbene Schulbildung bejaht werden. Zudem habe
er bisher überhaupt keine seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechende
Berufsausbildung erhalten; jene hätten sich in den vergangenen 5 Jahren
im übrigen positiv entwickelt.

    b) Mit diesen Vorbringen vermag der Kläger jedoch keinen
Unterhaltsanspruch gemäss Art. 277 Abs. 2 ZGB zu begründen. Während
der Erziehungsanspruch des unmündigen Kindes nach Art. 302 Abs. 2 ZGB
im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten auch die allgemeine Ausbildung
umfasst, ist der Unterhaltsanspruch nach Art. 277 Abs. 2 ZGB auf
die Verwirklichung einer beruflichen Ausbildung gerichtet. Darunter
ist eine Ausbildung zu verstehen, die es dem Kind im Rahmen seiner
Fähigkeiten und Neigungen erlaubt, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und
wirtschaftlich selbständig zu werden (BGE 114 II 207; vgl. auch REUSSER,
Unterhaltspflicht, Unterstützungspflicht, Kindesvermögen, in: Das neue
Kindesrecht, Bern 1978, S. 63 insbes. Anm. 6). Die berufliche Ausbildung
ist allerdings nicht in einem engen Sinn zu verstehen und umfasst nicht
nur die eigentliche Berufsschulung (HEGNAUER, Die Dauer der elterlichen
Unterhaltspflicht, in: Festschrift für Max Keller, Zürich 1989, S.
26; vgl. auch STETTLER, Traité de droit privé suisse, Band III/II/1,
S. 325 f.); HEGNAUER (aaO) spricht in diesem Zusammenhang anschaulich
vom beruflichen Lebensplan. Im wesentlichen soll die Unterhaltspflicht
der Eltern soweit über die Mündigkeit hinaus dauern, bis der bereits vor
der Mündigkeit begonnene berufliche Lebensplan verwirklicht ist; dieser
kann auch eine Weiterausbildung nach der Mündigkeit umfassen.

    Die Vorstellung eines beruflichen Lebensplanes entspricht weitgehend
der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung. In BGE 107 II 476 f. ist
entschieden worden, dass ein Anspruch auf zum Unterhalt berechtigende
Ausbildung des Kindes über die Mündigkeit hinaus auch dann vorliege,
wenn vor dem 20. Altersjahr eine Ausbildung in Aussicht genommen werde,
die im Anschluss an irgend eine Grundausbildung erst kurz vor oder nach
der Mündigkeit begonnen werden könne und den Fähigkeiten, Neigungen
und Bedürfnissen des Kindes entspreche. Der berufliche Lebensplan,
dessen Verwirklichung Anspruch auf Unterhalt über die Mündigkeit hinaus
verleihen kann, muss indessen zumindest in seinen Grundzügen bereits vor
diesem Zeitpunkt angelegt sein. Nur unter dieser Voraussetzung kann die
eigentliche Berufsausbildung auch erst später beginnen (vgl. BGE 107 II 408
f.). Zu einer weiteren Ausdehnung, wie sie offenbar STETTLER vorschwebt
(Traité de droit privé suisse, S. 326 sowie ZVW 37/1982, S. 9), besteht
kein Anlass. Andernfalls würde der Wortlaut von Art. 277 Abs. 2 ZGB
klar überdehnt. Art. 277 Abs. 2 ZGB gewährt ausdrücklich nur dann einen
Anspruch auf Unterhalt über die Mündigkeit hinaus, wenn sich das Kind
in diesem Zeitpunkt "noch in Ausbildung" befindet. Diese einschränkende
Formulierung kann nicht völlig beiseite geschoben werden, zumal sie auch
durch die Gesetzesmaterialien gestützt wird.

    c) Im vorliegenden Fall hat der Kläger nach dem Ende der Schulzeit
vorerst ein Werkschuljahr eingeschaltet, um den Berufswahlentscheid
besser treffen zu können. Dieser Entscheid ist nach den verbindlichen
tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz aufgrund einer gründlichen
Abklärung der persönlichen Voraussetzungen und Wünsche erfolgt. Gestützt
darauf kann aber nicht ernsthaft bezweifelt werden, dass der damalige
Entscheid für den Kläger angemessen und richtig war. Die damals
gewählte Ausbildung als Autoservice-Mann hat der Kläger ordnungsgemäss
abgeschlossen.

    Unter diesen Umständen steht dem Kläger kein Anspruch zu, seine
allgemeine Schulbildung nach Erreichen der Mündigkeit auf Kosten der
Eltern zu vervollständigen. Entgegen den Ausführungen in der Berufung
gibt es kein gleichsam absolutes Recht jedes Kindes auf Abschluss der
Volksschule. Die schulische Zusatzausbildung, für die der Kläger einen
Unterhaltsanspruch geltend macht, dient nicht dazu, in der bereits
vor der Mündigkeit in Aussicht genommenen Berufsausbildung Lücken zu
schliessen. Bezeichnenderweise hat der Kläger keine Angaben darüber
gemacht, welche Berufsausbildung er nach dem Abschluss der Realschule
in Angriff nehmen will. Damit fehlt es aber zum vornherein an einer
notwendigen Voraussetzung, um im Rahmen von Art. 277 Abs. 2 ZGB einen
Anspruch auf Schulbildung anerkennen zu können.

    d) Der Hinweis auf die seit Abschluss der Lehre angeblich eingetretene
positive Entwicklung des Klägers vermag ebenfalls keinen Anspruch auf eine
zweite Berufsausbildung zu begründen. Es würde dem Ausnahmecharakter von
Art. 277 Abs. 2 ZGB widersprechen, wenn entscheidend auf Fähigkeiten und
Neigungen abgestellt würde, die sich erst nach der Mündigkeit entwickelt
haben. Inwieweit solchen neuen Entwicklungen Rechnung getragen werden
könnte, wenn sie sich im Rahmen eines beruflichen Lebensplanes bewegten,
der bereits auf die Zeit vor der Mündigkeit zurückgeht, muss hier nicht
entschieden werden. Es genügt festzustellen, dass Art. 277 Abs. 2
ZGB keinen Anspruch auf Unterhalt gibt, wenn die neue Entwicklung
ausschliesslich erst nach der Mündigkeit eingetreten ist.

    e) Zu prüfen bleibt, ob der Kläger gestützt auf Art. 277 Abs. 2 ZGB
einen Anspruch auf eine zweite Berufsausbildung erheben kann, weil er aus
gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage ist, den zuerst erlernten
Beruf auszuüben, wie er geltend macht.

    Ob der Kläger tatsächlich aus gesundheitlichen Gründen seinen
bisherigen Beruf nicht mehr ausüben kann, müsste von der Vorinstanz auf
dem Wege einer Rückweisung allerdings noch näher abgeklärt werden, nachdem
das Kassationsgericht die betreffenden Feststellungen im angefochtenen
Urteil zuhanden des Bundesgerichts gestrichen hat; entgegen der in der
Berufung vertretenen Auffassung wäre das Bundesgericht nicht in der Lage,
den Sachverhalt diesbezüglich selber zu ergänzen, da es sich nicht nur
um einen nebensächlichen Punkt handelt (Art. 64 Abs. 2 OG).

    Von einer Rückweisung kann jedoch abgesehen werden, weil
die Klage selbst dann nicht gutgeheissen werden könnte, wenn die
Sachverhaltsdarstellung des Klägers zutreffen sollte. Es steht nämlich in
keiner Weise fest, für welchen zweiten Beruf sich der Kläger ausbilden
lassen möchte. Für die Durchsetzung eines Unterhaltsanspruches gestützt
auf Art. 277 Abs. 2 ZGB genügt es nicht vorzubringen, der Entscheid über
die Zweitausbildung könne erst nach Beendigung der Realschule gefüllt
werden. Ein allfälliger Anspruch auf Weiterausbildung nach der Mündigkeit
besteht vielmehr - wie sich bereits ergeben hat - nur im Rahmen eines
bestimmten Ausbildungsplanes. Das Berufsziel muss daher feststehen. Dies
ergibt sich im übrigen auch aus dem Wortlaut von Art. 277 Abs. 2 ZGB
selber. Das Gesetz gewährt den ausserordentlichen Unterhaltsanspruch
nach der Mündigkeit ausdrücklich nur für solange, bis die Ausbildung
ordentlicherweise abgeschlossen werden kann. Eine Unterhaltsklage setzt
daher eine Voraussage über den ordentlichen Abschluss der Ausbildung
voraus, die ihrerseits nur möglich ist, wenn das Berufsziel bekannt ist.

    Bei dieser Sachlage fehlt es somit an einer notwendigen Voraussetzung
für die Gutheissung der Klage. Die grundsätzliche Frage, ob und allenfalls
unter welchen Voraussetzungen gestützt auf Art. 277 Abs. 2 ZGB ein
Unterhaltsanspruch für die Verwirklichung einer Zweitausbildung nach der
Mündigkeit bestehe, wenn der zuerst erlernte Beruf aus gesundheitlichen
Gründen nicht mehr ausgeübt werden kann, kann daher offengelassen werden.