Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 III 1



115 III 1

1. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 20. April 1989
i.S. Konkursmasse B. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 44 SchKG; Vermögensbeschlagnahme zur Deckung von Untersuchungs-,
Prozess- und Strafvollzugskosten (§ 83 StPO des Kantons Zürich).

    Aufgrund von Art. 44 SchKG können die Kantone die Beschlagnahme von
Vermögen des Angeschuldigten zur Deckung von Untersuchungs-, Prozess-
und Strafvollzugskosten vorsehen. Diese Beschlagnahmemöglichkeit erstreckt
sich nicht nur auf Gegenstände oder Vermögenswerte, die einen bestimmten
Zusammenhang mit den verfolgten Straftaten aufweisen (E. 3 und 4;
Präzisierung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Die Kantonale Abteilung für Wirtschaftsdelikte bei der
Bezirksanwaltschaft Zürich führt wegen Betruges und weiterer Delikte ein
umfangreiches Strafverfahren gegen B. Am 25. August 1987 ist über B. der
Konkurs eröffnet worden; dessen Durchführung obliegt dem Konkursamt
Zürich-Hottingen.

    Am 15. September 1988 erliess der für die Strafuntersuchung
verantwortliche Bezirksanwalt gestützt auf § 83 der Zürcher
Strafprozessordnung (StPO) eine Verfügung, mit der zur Deckung der
Untersuchungs- und Gerichtskosten vom Vermögen des Angeschuldigten
ein Betrag von Fr. 150'000.-- beschlagnahmt wurde. Das Konkursamt
Zürich-Hottingen wurde angewiesen, diesen Betrag zu Lasten der Konkursmasse
an die Untersuchungsbehörde abzuliefern.

    B.- Gegen diese Verfügung erhob das Konkursamt im Namen der
Konkursmasse Rekurs an die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.

    Diese wies den Rekurs am 21. Oktober 1988 ab.

    C.- Gegen den Entscheid der Staatsanwaltschaft hat die Konkursmasse
staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht eingereicht. Sie
beantragt, die Beschlagnahmeverfügung der Kantonalen Abteilung für
Wirtschaftsdelikte vom 15. September 1988 sei aufzuheben.

    Die Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- § 83 StPO hat folgenden Wortlaut:

    "Entzieht sich ein Angeschuldigter, der keine Sicherheit geleistet hat,
   der Untersuchung durch die Flucht oder erscheint es zur Sicherung
   der künftigen Vollstreckung eines Strafurteils aus andern Gründen als
   geboten, so kann durch die Untersuchungsbehörde vom Vermögen des

    Angeschuldigten so viel mit Beschlag belegt werden, als zur Deckung der

    Prozesskosten, einer allfälligen Busse, des verursachten Schadens
und der

    Strafvollzugskosten voraussichtlich erforderlich ist (...)."

Erwägung 3

    3.- Die im SchKG geregelte Zwangsvollstreckung gilt grundsätzlich
nicht nur für privatrechtliche, sondern auch für öffentlichrechtliche
Geldforderungen. Art. 43 SchKG schreibt ausdrücklich vor, dass die
Betreibung für Steuern, Abgaben, Gebühren, Sporteln, Bussen und andere,
im öffentlichen Recht begründete Leistungen an öffentliche Kassen oder
Beamte auf dem Wege der Pfändung oder der Pfandverwertung zu erfolgen hat,
und zwar auch dann, wenn der Schuldner der Konkursbetreibung unterliegt.

    a) Art. 44 SchKG sieht indessen eine Einschränkung dieses Grundsatzes
vor: Die Verwertung von Gegenständen, welche aufgrund strafrechtlicher
oder fiskalischer Gesetze mit Beschlag belegt sind, erfolgt nach den
zutreffenden eidgenössischen oder kantonalen Gesetzesbestimmungen.

    Obwohl das Gesetz nur von der Verwertung spricht, sind sich
Rechtsprechung und Lehre darüber einig, dass der Vorbehalt abweichender
vollstreckungsrechtlicher Regelungen in Art. 44 SchKG auch für die
Beschlagnahme als solche gilt (BGE 107 III 115 E. 1, 78 I 220, 76 I 33
E. 3; FRITZSCHE/WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem
Recht, Bd. I, S. 101 Rz 34; GILLIERON, Poursuite pour dettes,
faillite et concordat, 2. Auflage, S. 360; JAEGER, Schuldbetreibung
und Konkurs, N. 4 zu Art. 44 SchKG; BLUMENSTEIN, Die Zwangsvollstreckung
für öffentlich-rechtliche Geldforderungen nach schweizerischem Recht, in:
Festgabe der Berner juristischen Fakultät zum fünfzigjährigen Bestehen des
Schweizerischen Bundesgerichts, S. 183). Eine derartige Beschlagnahme ist
nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung selbst dann noch möglich, wenn
die betreffenden Gegenstände schon vorher in eine Pfändung einbezogen oder
mit Konkursbeschlag belegt worden sind (BGE 107 III 115 unten, 78 I 221).

    b) In BGE 107 III 115 ff. E. 2 hat die Schuldbetreibungs- und
Konkurskammer allerdings die Frage aufgeworfen, ob an dieser Rechtsprechung
in allen Teilen festgehalten werden könne. Diese hätte, konsequent zu Ende
gedacht, zur Folge, dass die Kantone in ihren Steuergesetzen ein Verfahren
vorsehen könnten, mit welchem sie in jedem Stadium eines Betreibungs-
oder Konkursverfahrens mit einer Beschlagnahmeverfügung eingreifen und
gepfändete oder zur Konkursmasse gehörende Vermögenswerte für die Deckung
von Steuerforderungen beanspruchen könnten. Dies würde dem Grundsatz,
dass öffentlichrechtliche Forderungen unter Vorbehalt bundesrechtlicher
Sondervorschriften kein Privileg geniessen dürften, stracks zuwiderlaufen.

    In der Folge hat die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer in BGE
108 III 106 f. E. 2 entschieden, die Durchsetzung von Steuerforderungen
werde durch Art. 44 SchKG nicht erfasst. Art. 44 SchKG beziehe sich nur
auf die Verwertung von ganz bestimmten Gegenständen, die unmittelbar im
Zusammenhang mit einem Straf- oder Steuerverfahren nach den betreffenden
eidgenössischen oder kantonalen Gesetzen beschlagnahmt worden seien.

    GILLIERON (aaO S. 359 f.) hat mit Recht darauf hingewiesen, dass mit
diesem Entscheid die frühere Rechtsprechung des Bundesgerichts zumindest
auf dem Gebiet des Steuerrechts in Frage gestellt werde. Den Kantonen
ist es nach diesem Urteil in der Tat verwehrt, zur Sicherstellung von
Steuerforderungen allgemein ein Recht der Beschlagnahme schuldnerischen
Vermögens vorzusehen.

Erwägung 4

    4.- In BGE 107 III 116 ist anderseits ausdrücklich daran festgehalten
worden, dass die strafprozessuale Beschlagnahme zur Durchsetzung des
staatlichen Strafanspruchs (wie etwa Beweissicherung, Beschlagnahme im
Sinne von Art. 58 ff. StGB) ohne Rücksicht auf die zeitliche Priorität
gegenüber den Beschlagsrechten der Zwangsvollstreckung den Vorrang
haben müsse. Für die kantonalen Kostenforderungen ist allerdings genau
gleich wie für die Fiskalforderungen die Frage aufgeworfen worden, ob
ein entsprechendes Beschlagsrecht des kantonalen öffentlichen Rechts
nicht die Durchsetzung des Bundeszivilrechts (zu welchem im formellen
Sinn des Art. 64 BV auch das Schuldbetreibungs- und Konkursrecht gehöre)
vereitle oder in unzulässiger Weise erschwere.

    In einem weiteren Sinne dient nun aber auch die Sicherstellung
der Untersuchungs-, Prozess- und Strafvollzugskosten der Durchsetzung
des staatlichen Strafanspruchs. Diese Kosten sind daher nicht zum
vornherein vom Staat zu tragen. Die Wichtigkeit der staatlichen Aufgabe,
alles zu unternehmen, was zur Abklärung von Straftaten erforderlich
ist, rechtfertigt es vielmehr, dem Staat bei der Sicherstellung der
damit verbundenen Kosten ein Vorrecht gegenüber den andern Gläubigern
einzuräumen. In diesem Sinne hat das Bundesgericht schon früher zutreffend
ausgeführt, die mit § 83 StPO verbundene Benachteiligung der übrigen
Gläubiger sei die Folge davon, dass der Schuldner strafbare Handlungen
begangen habe, die im öffentlichen Interesse die Durchführung einer
Strafuntersuchung und eines Gerichtsverfahrens notwendig machten (BGE 78
I 222). Wohl kann die Strafverfolgung anderseits mit Recht als Aufgabe
des Staates bezeichnet werden, die ohne Rücksicht auf eine allfällige
Schadloshaltung der öffentlichen Hand wahrgenommen werden muss. Dies
bedeutet jedoch nicht, dass der Staat auch dann zurückzustehen hat, wenn
es die finanziellen Mittel des Angeschuldigten bzw. Verurteilten erlauben,
für die Kosten dieses Verfahrens aufzukommen. Die mit dem Beschlagsrecht
verbundene Privilegierung der staatlichen Kostenforderungen gegenüber
den privatrechtlichen Forderungen findet ihre Berechtigung zudem nicht
zuletzt darin, dass die privaten Gläubiger häufig ihrerseits auf die
Ergebnisse der staatlichen Strafuntersuchung angewiesen sind, um ihre
Forderung durchsetzen zu können. Da jedenfalls weder das formelle noch
das materielle Bundesrecht Vorschriften darüber aufstellen, wie sich die
Kantone aus den in einem Strafverfahren beschlagnahmten Vermögenswerten
des Angeschuldigten für ihre aus der Durchführung des Strafverfahrens
erwachsene Untersuchungs-, Gerichts- und Gefangenschaftskosten bezahlt
machen sollen, steht es den Kantonen nach Art. 44 SchKG frei, darüber
selbst zu legiferieren (BGE 101 IV 377 f.; vgl. auch BLUMENSTEIN, aaO
S. 183 f.).

    Die Befürchtung, dass die bundesrechtlich geordnete Zwangsvollstreckung
für Geldforderungen durch zu weite Zulassung kantonalrechtlicher
Beschlagnahmungen vereitelt oder in unzulässiger Weise erschwert werden
könnte, ist für solche, die zur Sicherung staatlicher Kostenforderungen
aus Strafverfahren erfolgen, nicht begründet. Diese haben im Unterschied
zu rein fiskalrechtlichen Beschlagnahmungen Ausnahmecharakter und können
somit die Durchsetzung des SchKG im gesamten nicht ernsthaft gefährden.

    b) Nichts anderes ergibt sich aus einem neueren Entscheid der I.
öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts, der im Journal des
Tribunaux veröffentlicht ist (JdT 1988, II. S. 30 f.). Dieser Entscheid
betrifft nur die strafprozessuale Beschlagnahme von Gegenständen zugunsten
von Forderungen des Geschädigten. Nur diese Beschlagnahme ist dort unter
der Voraussetzung, dass die betroffenen Gegenstände keinerlei Zusammenhang
mit der verfolgten Straftat aufweisen, als unzulässig erklärt worden
(vgl. auch BGE 107 III 115 unten).

    Richtig ist hingegen, dass in der Literatur hinsichtlich der
Beschlagnahme von Gegenständen zur Sicherung staatlicher Kostenforderungen
vereinzelt Bedenken gegenüber der bundesgerichtlichen Auslegung von
Art. 44 SchKG geäussert worden sind (NIEDERER, Die Vermögensbeschlagnahme
im Schweizerischen Strafprozess, Diss. Zürich 1968, S. 38; BÖRLIN, Die
strafrechtliche Beschlagnahme und das Schuldbetreibungs- und Konkursrecht,
ZSR 35/1916, S. 311). Diese Bedenken beruhen jedoch auf einer zu engen
Interpretation des in Art. 44 SchKG enthaltenen Vorbehalts zugunsten
kantonaler Sonderregelungen. Zumindest für die Kostenforderungen eines
Strafverfahrens werden jedenfalls keine stichhaltigen Gründe nachgewiesen,
die eine Änderung der seit vielen Jahrzehnten vom Bundesgericht anerkannten
Gesetzgebungsbefugnis der Kantone nahelegen.

    c) Im Ergebnis ist somit an den Ausführungen in BGE 108 III 106
festzuhalten, wonach unter die Bestimmung von Art. 44 SchKG nicht nur
Gegenstände fallen, an oder mit denen strafbare Handlungen begangen worden
sind, sondern auch Gegenstände, welche die zuständige Behörde aufgrund
strafprozessualer Bestimmungen zur Deckung von Prozesskosten, Bussen
und Strafvollzugskosten mit Beschlag belegt hat. Jedenfalls für solche
staatliche Forderungen ist das Beschlagnahmerecht der Kantone im Rahmen
des Vorbehalts von Art. 44 SchKG nicht auf Gegenstände oder Vermögenswerte
zu beschränken, die einen bestimmten Zusammenhang mit den verfolgten
Straftaten aufweisen. Soweit in BGE 107 III 116 die Sicherung staatlicher
Strafverfolgungskosten derjenigen von Fiskalforderungen gleichgestellt
wird, kann an den betreffenden Erwägungen nicht festgehalten werden.