Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IB 97



115 Ib 97

12. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 6. Juli 1989 i.S. K. gegen Regierungsrat des Kantons Zürich
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Niederlassungs- und Aufenthaltsbewilligung; Zulässigkeit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde (Art. 100 lit. b Ziff. 3 OG; Art. 17 Abs. 2
ANAG; Art. 8 Ziff. 1 EMRK).

    1. Die Kinder einer in der Schweiz niedergelassenen Ausländerin
können gestützt auf Art. 17 Abs. 2 ANAG Anspruch auf Einbezug in die
Niederlassungsbewilligung erheben; die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist
insoweit zulässig (E. 2b).

    2. Gegen die Verweigerung einer Aufenthaltsbewilligung an ein Kind
oder einen Elternteil ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gestützt auf
Art. 8 Ziff. 1 EMRK auch dann zulässig, wenn dem Elternteil die elterliche
Gewalt oder Obhut nicht zusteht (Änderung der Rechtsprechung; E. 2e).

    3. Verweigerung von Niederlassungs- und Aufenthaltsbewilligung im
konkreten Fall (E. 3, 4).

Sachverhalt

    A.- Dragica K., geboren 1938, reiste 1975 in die Schweiz ein und
erhielt eine Aufenthaltsbewilligung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit
im Kanton Zürich. Sie erlitt 1982 einen Verkehrsunfall, ist seither nicht
mehr arbeitsfähig und bezieht eine Invalidenrente. Am 2. November 1987
erhielt sie die Niederlassungsbewilligung.

    Bis 1973 war Dragica K. in Jugoslawien verheiratet. Aus dieser Ehe
ging u.a. der am 2. Oktober 1971 geborene Sohn Mirko hervor. Dieser
lebte bisher in Jugoslawien. Die elterliche Gewalt übt der Vater aus.

    Am 15. April 1988 stellte Dragica K. ein Gesuch um
Aufenthaltsbewilligung für Mirko, das von der Fremdenpolizei des Kantons
Zürich am 31. August 1988 abgewiesen wurde. Ein Rekurs an den Regierungsrat
des Kantons Zürich blieb erfolglos.

    Eine von Dragica K. gegen den Beschluss des Regierungsrates vom
30. November 1988 erhobene staatsrechtliche Beschwerde behandelt das
Bundesgericht als Verwaltungsgerichtsbeschwerde und weist diese ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Art. 100 lit. b Ziff. 3 OG schliesst die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde aus gegen die Erteilung oder Verweigerung
von fremdenpolizeilichen Bewilligungen, auf die das Bundesrecht keinen
Anspruch einräumt.

    Gemäss Art. 4 des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung
der Ausländer vom 26. März 1931 (ANAG; SR 142.20) entscheidet die
zuständige Behörde, im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der
Verträge mit dem Ausland, nach freiem Ermessen über die Bewilligung von
Aufenthalt und Niederlassung. Der Ausländer hat damit grundsätzlich
keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung, und die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist ausgeschlossen, soweit er sich nicht
auf eine Norm des Bundesrechts oder eines Staatsvertrags berufen kann,
die ihm einen Anspruch auf eine solche Bewilligung einräumt.

    b) Art. 17 Abs. 2 ANAG gibt der Ehefrau und den noch nicht
achtzehnjährigen Kindern eines niedergelassenen Ausländers Anspruch
darauf, in dessen Bewilligung einbezogen zu werden, sofern sie mit ihm
in gemeinsamem Haushalte leben werden.

    In BGE 111 Ib 3 hat das Bundesgericht entschieden, aufgrund des klaren
Wortlauts und der Bindung des Bundesgerichts an die Bundesgesetzgebung
(Art. 114bis Abs. 3 BV) bestehe aus Art. 17 Abs. 2 ANAG kein Anspruch
des Ehemannes, in die Niederlassungsbewilligung der Ehefrau einbezogen zu
werden, auch wenn dies gegen Art. 4 Abs. 2 BV (Gleichstellung von Mann und
Frau) verstosse. Hinsichtlich der Kinder einer Ausländerin kann gestützt
auf den Gesetzeswortlaut solches nicht gesagt werden. Die männliche Form
"Ausländer" wird vom Gesetzgeber regelmässig auch für weibliche Personen
verwendet, also erlaubt der Gesetzeswortlaut durchaus, dass auch die Kinder
einer niedergelassenen Ausländerin eine Niederlassungsbewilligung erhalten.

    Bei verfassungskonformer Auslegung von Art. 17 Abs. 2 ANAG
können auch die Kinder einer niedergelassenen Ausländerin Anspruch
auf Erteilung der Niederlassungsbewilligung erheben. Insoweit ist auf
die Verwaltungsgerichtsbeschwerde einzutreten; ob die Voraussetzungen
vorliegend erfüllt sind, wird Gegenstand der materiellen Prüfung sein.

    e) Schliesslich stellt sich die Frage, ob ein Anspruch auf eine
fremdenpolizeiliche Bewilligung aus Art. 8 Ziff. 1 der Konvention zum
Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK;
SR 0.101) abzuleiten ist.

    Art. 8 Ziff. 1 EMRK garantiert den Schutz des Familienlebens. Darauf
kann sich der Ausländer berufen, der nahe Verwandte mit Anwesenheitsrecht
(Schweizer Bürgerrecht oder Niederlassungsbewilligung) in der Schweiz
hat; wird ihm selber die Anwesenheit in der Schweiz untersagt,
kann dies Art. 8 EMRK verletzen. Soweit deshalb eine familiäre
Beziehung im beschriebenen Sinn tatsächlich gelebt wird und intakt
ist, ist das der zuständigen Behörde durch Art. 4 ANAG grundsätzlich
eingeräumte freie Ermessen eingeschränkt. In solchen Fällen ist daher
die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des um die fremdenpolizeiliche
Bewilligung ersuchenden Ausländers zulässig. Das gleiche gilt, wenn
dieses Rechtsmittel vom betroffenen Familienglied mit Anwesenheitsrecht
in der Schweiz eingereicht wird (BGE 109 Ib 185 ff. E. 2). Nichts kommt
darauf an, ob eine Erneuerung oder (wie hier) die erstmalige Erteilung
der Aufenthaltsbewilligung in Frage steht (BGE 111 Ib 4).

    Das Bundesgericht hat es in seiner bisherigen Rechtsprechung
aber abgelehnt, auf Verwaltungsgerichtsbeschwerden einzutreten,
wenn die Beziehung eines Elternteils zu seinem Kind in Frage steht,
das familienrechtlich nicht unter seine elterliche Gewalt oder Obhut
gestellt ist. Massgebend war dabei die Überlegung, dass die Einreise
zur Ausübung eines Besuchsrechts zwar jeweils bewilligt werden muss,
ein Aufenthaltsrecht im gleichen Land aber - unter Vorbehalt besonderer
Umstände - nicht notwendig ist (unveröffentlichte Urteile vom 22. November
1985 i.S. M. H. und vom 25. Januar 1988 i.S. D. S.).

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nun in einem neuen
Urteil vom 21. Juni 1988 i.S. Berrehab (Publications de la Cour Européenne
des Droits de l'Homme, Série A Vol. 138) Art. 8 EMRK auch als anwendbar
erklärt, wenn Elternteil und Kind einen intensiven Kontakt pflegen,
nicht aber zusammen wohnen. Der Gerichtshof hat im konkreten Fall diese
Bestimmung zudem als verletzt erachtet, weil er die Verweigerung einer
Aufenthaltsbewilligung für den Vater des Kindes unter den besonderen
Umständen des Falles und im Lichte der von den niederländischen Behörden
verfolgten Ausländerpolitik als unverhältnismässig erachtete.

    Das Bundesgericht sieht sich aufgrund dieses Urteils
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte veranlasst,
auf Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen die Verweigerung einer
Aufenthaltsbewilligung an ein Kind oder einen Elternteil selbst dann
einzutreten, wenn das Kind familienrechtlich nicht unter der elterlichen
Gewalt oder Obhut des entsprechenden Elternteils steht. Voraussetzung
bleibt allerdings, dass ein betroffenes Familienglied ein Anwesenheitsrecht
in der Schweiz (Schweizer Bürgerrecht oder Niederlassungsbewilligung) hat,
und dass die familiäre Beziehung tatsächlich gelebt wird und intakt ist.

    Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Zwar leben der 1971
geborene Mirko K, und seine Mutter seit dem zweiten Lebensjahr des
Kindes voneinander getrennt. Die elterliche Gewalt wurde dem Vater
zugesprochen. Das Kind wuchs in Jugoslawien bei den Grosseltern
väterlicherseits auf, während die Beschwerdeführerin seit 1975 in
der Schweiz lebt. Die Beschwerdeführerin pflegt mit ihrem Sohn aber
regelmässigen schriftlichen und telefonischen Kontakt und begibt sich
jeweils mindestens vier Wochen im Jahr nach Jugoslawien, während welcher
Zeit Mirko bei ihr weilt. Die familiäre Beziehung erscheint folglich
intakt und die Berufung auf Art. 8 Ziff. 1 EMRK ist zulässig.

    f) Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist im Hinblick auf die
anspruchsbegründenden Normen von Art. 17 Abs. 2 ANAG und Art. 8
Ziff. 1 EMRK zulässig. Die eingereichte staatsrechtliche Beschwerde
ist daher als Verwaltungsgerichtsbeschwerde entgegenzunehmen, und
es ist materiell zu prüfen, ob gestützt auf Art. 17 Abs. 2 ANAG eine
Niederlassungsbewilligung oder allenfalls gestützt auf Art. 8 Ziff. 1
EMRK eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen ist.

Erwägung 3

    3.- a) Art. 17 Abs. 2 ANAG verlangt für den Einbezug in die
Niederlassungsbewilligung, dass die beteiligten Familienglieder in
gemeinsamem Haushalt leben werden. Es ist Ziel und Zweck der Bestimmung,
das familiäre Zusammenleben zu ermöglichen und rechtlich abzusichern.

    Dieses gesetzgeberische Ziel wird nicht erreicht, wenn der in der
Schweiz niedergelassene Ausländer jahrelang von seinem Kind getrennt
lebt und er dieses erst kurz vor dem Erreichen des 18. Altersjahrs in die
Schweiz holt. In solchen Fällen liegt der Verdacht nahe, es gehe nicht um
das familiäre Zusammenleben sondern vielmehr darum, auf möglichst einfache
Weise in den Genuss einer Niederlassungsbewilligung zu gelangen. Das
wäre missbräuchlich. Freilich kann es gute Gründe geben, aus denen
die Familiengemeinschaft in der Schweiz erst nach Jahren hergestellt
wird. Rechtsmissbrauch kann deshalb nur nach Prüfung der Umstände des
Einzelfalls angenommen werden, wenn sich erweist, dass tatsächlich nicht
das familiäre Zusammenleben bezweckt wird.

    b) Die Beschwerdeführerin und ihr Sohn leben seit dem zweiten
Lebensjahr des Kindes voneinander getrennt. Die elterliche Gewalt steht
dem Vater zu. Der Sohn ist nunmehr siebzehnjährig und wird noch dieses
Jahr (nach dem Recht Jugoslawiens) mündig. Die Beschwerdeführerin hat bei
Erteilung ihrer Niederlassungsbewilligung gegenüber der Fremdenpolizei
ihren minderjährigen Sohn nicht erwähnt.

    Nach Art. 8 Abs. 4 ANAV besteht kein Anspruch auf Erteilung der
Niederlassungsbewilligung, wenn der Ausländer das Vorhandensein eines
Familiengliedes im ihn betreffenden Bewilligungsverfahren verschwiegen hat.
Diese Bestimmung rechtfertigt sich deshalb, weil die Fremdenpolizei bei
Erteilung der Bewilligung an einen Ausländer die zu erwartenden Folgen für
die Überfremdung bzw. für den Arbeitsmarkt zu beachten hat (vgl. Art. 16
ANAG). Es ist denkbar, dass die Beschwerdeführerin einen Hinweis auf
ihren Sohn unterliess, weil dieser nicht unter ihrer elterlichen Gewalt
steht, und sie selbst einen Familiennachzug gar nicht in Betracht zog.
Der fehlende Hinweis zeigt dann aber, dass die Beschwerdeführerin den
Sohn nicht ihrer Familiengemeinschaft zugehörig erachtete. Aus dem
Einreisegesuch vom 15. April 1988 ergibt sich schliesslich mit aller
Deutlichkeit, dass nicht das familiäre Zusammenleben angestrebt wird,
es dem Sohn vielmehr darum geht, hier eine Arbeitsstelle zu finden.

    c) Bei dieser Sachlage erscheint das Begehren um Erteilung der
Niederlassungsbewilligung als rechtsmissbräuchlich.

Erwägung 4

    4.- Schliesslich kann Mirko K. auch nicht gestützt auf Art. 8 Ziff. 1
EMRK eine Aufenthaltsbewilligung erteilt werden. Wohl ist diese Bestimmung
grundsätzlich anwendbar. Geht es der Beschwerdeführerin und ihrem Sohn nach
dem Gesagten jedoch nicht um die Familiengemeinschaft, sondern lediglich
darum, ihm hier eine Arbeitsstelle zu verschaffen, so erweist sich das
Begehren um Familiennachzug auch im Lichte des von Art. 8 EMRK garantierten
Anspruchs auf Achtung des Familienlebens ohne weiteres als unbegründet.