Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 115 IA 89



115 Ia 89

16. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 24.
Januar 1989 i.S. W. und Mitbeteiligte gegen Einwohnergemeinde Seftigen
und Regierungsrat des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Art. 4 RPG, Art. 58 BauG BE; Information und Mitwirkung
der Bevölkerung bei der Raumplanung.

    Die durch Art. 4 RPG vorgesehene Mitwirkung der Bevölkerung bei
der Raumplanung wird im Kanton Bern in Art. 58 BauG geregelt. Können
aus Art. 4 BV weiterreichende Mitwirkungs- oder Informationsansprüche
abgeleitet werden? (E. 2).

Sachverhalt

    A.- W. und H. sind Eigentümer der rund 15 900 m2 umfassenden Parzelle
Nr. 340 in Seftigen und gleichzeitig Stimmbürger dieser Gemeinde. In
einem Konsortium zusammengeschlossen sind die Eigentümer der angrenzenden
Parzelle Nr. 582 mit rund 9900 m2. G. schliesslich ist Eigentümer der
etwa 21 800 m2 grossen Parzelle Nr. 583, welche von der Parzelle des
Konsortiums durch die Bahnlinie Belp-Thun abgetrennt ist.

    Nach dem Zonenplan der Gemeinde Seftigen von 1964 waren diese drei
Parzellen der Bauzone zugeteilt, nämlich die Grundstücke Nrn. 340 und 582
der Wohn- und Gewerbezone sowie Nr. 583 der Industriezone, und gemäss dem
Zonenplan vom 23. Januar 1978 gehörten alle drei Parzellen zur Gewerbe-
und Industriezone. Die gegen die Umzonung gerichteten Einsprachen und
Beschwerden der betroffenen Grundeigentümer, welche eine Zuteilung zur
Wohnzone beantragten, wiesen die Baudirektion und der Regierungsrat
ab. Damit wurde die Genehmigung des Zonenplanes bestätigt.

    Am 17. Februar 1986 reichte G. ein Baugesuch für eine Fabrikations-
und Lagerhalle auf der Parzelle Nr. 583 ein. Der Regierungsstatthalter
von Seftigen erteilte ihm dafür eine Baubewilligung, u.a. mit der Auflage,
vor Baubeginn die geplante Bahnunterführung zu erstellen. Am 26. Mai 1986
reichten W. und H. sowie das Konsortium ein generelles Baugesuch für die
Erstellung von elf Industrie- und Gewerbebauten auf den Parzellen Nrn. 340,
582 und 653 ein. Dieses Verfahren wurde sistiert.

    Im Juni 1986 kam die formulierte Gemeindeinitiative "Seftigen
wohin?" mit folgendem Wortlaut zustande:

    "Der Zonenplan soll so abgeändert werden, dass die bezeichneten Flächen
   auf dem vorliegenden Plan von der Gewerbe- und Industriezone in die
   Landwirtschaftszone zurückgezont werden."

    Der Text war vom entsprechenden Plan begleitet.

    Der Wortlaut dieser Initiative wurde im Amtsblatt und im Amtsanzeiger
Seftigen publiziert. Vom 11. Juli bis zum 11. August 1986 wurde sie
öffentlich aufgelegt. Innert dieser Frist gingen zwei Einsprachen u.a. von
den heutigen Beschwerdeführern ein. Darüber fanden am 15. August 1986
Einspracheverhandlungen statt, die zu keiner Einigung führten.

    In der Folge wandte sich der Gemeinderat mit einer schriftlichen
Botschaft an die stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger, da es aus
zeitlichen Gründen nicht mehr möglich sei, eine Orientierungsversammlung
durchzuführen. Er teilte das Initiativbegehren mit und fasste die
Begründung der Initianten dahin zusammen, die Rückzonung solle aus
ortsbildschützerischer und landschaftsplanerischer Sicht erfolgen,
und die Dörfer Burgistein und Seftigen dürften nicht vollständig
zusammenwachsen. Zudem seien die betreffenden Flächen zum Überleben von
drei Landwirtschaftsbetrieben nötig; in der Eymatt und im Gurzelenmoos
befinde sich nämlich sehr fruchtbares Ackerland. Eine überdimensionierte
Industrie- und Gewerbezone locke ortsfremde Betriebe an, welche aber in
einer steuergünstigeren Gemeinde ihren Geschäftssitz hätten und somit
auch dort Steuern bezahlten. Da das Gebiet noch nicht erschlossen sei,
biete sich wohl jetzt die letzte vernünftige Gelegenheit zur Rückzonung an.

    Des weiteren verwies der Gemeinderat auf den wesentlichen Inhalt
des Vorprüfungsberichtes der kantonalen Baudirektion und teilte mit,
er habe beschlossen, die Initiative nicht zu unterstützen.

    Seit Jahren gehörten die zur Auszonung vorgeschlagenen Parzellen
der Gewerbe- und Industriezone an. Bei der letzten Ortsplanungsrevision
sei die Gewerbe- und Industriezone verkleinert worden. Die Gemeinde habe
für die Erschliessung dieser Zone bereits grössere finanzielle Leistungen
erbracht, und die Ansiedlung von Gewerbe und Industrie werde Arbeitsplätze
schaffen. Die Gewerbe- und Industriezone "Allmend" sei von regionaler
Bedeutung, und es liege ein genehmigter Detailerschliessungsplan vor. An
zwei Gemeindeversammlungen seien Kredite für die Basiserschliessung bereits
bewilligt worden. Auch eine Betriebsstätte begründe einen anteilsmässigen
Anspruch auf Steuern. Zudem würden bei Annahme der Initiative hohe
Entschädigungsansprüche aus materieller Enteignung befürchtet.

    Die Gemeindeversammlung vom 22. August 1986 hiess die Initiative
in Kenntnis der dargelegten Argumente gut. Die Baudirektion genehmigte
diesen Beschluss. Der Regierungsrat wies die Beschwerden von W. und H.,
des Konsortiums sowie von G. gegen den Beschluss der Baudirektion ab und
bestätigte deren Genehmigungsentscheid.

    Das Bundesgericht weist die dagegen erhobene staatsrechtliche
Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Die Beschwerdeführer machen geltend, sie alle hätten als
Grundeigentümer nicht an der Gemeindeversammlung teilnehmen dürfen,
obwohl keine Orientierungsversammlung durchgeführt worden sei. Sie hätten
somit keine Gelegenheit gehabt, an die Bevölkerung zu gelangen, obwohl
ihnen grundsätzlich das Recht zustehe, sich an die Gemeindeversammlung
zu wenden. Die Möglichkeit der nachträglichen Einsprache behebe
den Mangel nicht, da die Einsprache nur ein Rechtsbehelf sei, nicht
aber ermögliche, am politischen Meinungsbildungsprozess teilzunehmen
und diesen zu beeinflussen. Gerade bei Gemeindeinitiativen, die in
der Regel unter emotionalen Umständen entstünden, sei es aber von
besonderer Wichtigkeit, dass sich die direkt Betroffenen in einem
geregelten Verfahren an die Stimmberechtigten wenden könnten. Zudem sei
zu bedenken, dass ein Initiativvorschlag durch die Initianten abgeändert
werden könne. Schliesslich habe jeder Stimmbürger das Recht, einen
Gegenvorschlag zu beantragen. Die Beschwerdeführer rügen insbesondere
eine Verletzung ihrer aus Art. 4 des Bundesgesetzes über die Raumplanung
vom 22. Juni 1979 (RPG) und Art. 58 Abs. 2 des Baugesetzes des Kantons
Bern vom 9. Juni 1985 (BauG) abgeleiteten Rechte und machen geltend, diese
fielen in den Schutzbereich des aus Art. 4 BV abgeleiteten Anspruchs auf
rechtliches Gehör.

    Gemäss Art. 4 Abs. 2 RPG sorgen die mit Planungsaufgaben betrauten
Behörden dafür, dass die Bevölkerung bei Planungen in geeigneter Weise
mitwirken kann. Das kantonale Recht führt dazu in Art. 58 BauG aus:

    1. Information und Mitwirkung der Bevölkerung

    "1 Die Behörden sorgen dafür, dass die Bevölkerung bei Planungen
   frühzeitig in geeigneter Weise mitwirken kann.

    2 Die Mitwirkung ist bezüglich der Richtpläne, der baurechtlichen

    Grundordnung und der Überbauungsordnungen sowie für die nicht
   geringfügige Änderung dieser Vorschriften und Pläne zu gewähren.

    Sie kann eingeräumt werden,

    a) indem vorgesehene Planungen an der Gemeindeversammlung oder an
   besonderen Orientierungsversammlungen zur Diskussion gestellt werden;

    b) indem die Unterlagen über vorgesehene Planungen
   während einer angemessenen Mitwirkungsfrist öffentlich aufgelegt werden;

    c) bei vorgesehenen Änderungen der Grundordnung oder
   einer Überbauungsordnung, die nicht von allgemeinem

    Interesse sind, auch im Rahmen des Einspracheverfahrens
   nach Artikel 60.

    3 Im Rahmen der Mitwirkung können Einwendungen erhoben und

    Anregungen unterbreitet werden. Sie sind den für Beschluss und für

    Genehmigung zuständigen Behörden in Form des Versammlungsprotokolls
oder
   eines zusammenfassenden Mitwirkungsberichtes zur Kenntnis zu bringen.

    Protokoll und Bericht sind öffentlich.

    4 Die Gemeinden und die Regionen können ein weitergehendes

    Mitwirkungsverfahren durchführen. Insbesondere
   können die Gemeindebehörden die Quartierbevölkerung zur Lösung von
   Fragen der Quartierplanung heranziehen."

    b) Der Regierungsrat führt dazu im wesentlichen aus, die
Mitwirkung beziehe sich auf Behördenplanungen; Gemeindeinitiativen
in Planungssachen in Form eines ausgearbeiteten Entwurfs seien nicht
Gegenstand des Mitwirkungsverfahrens. Hier gebe es ohnehin eine gewisse
Öffentlichkeitsarbeit durch die Unterschriftensammlung. Zudem sei der Text
unabänderlich. Ob der Initiative ein Gegenvorschlag gegenüberzustellen sei,
könne der Gemeinderat auch ohne die Resultate eines Mitwirkungsverfahrens
entscheiden. Zweck des Mitwirkungsverfahrens sei nicht der individuelle
Rechtsschutz. Ein über Art. 4 BV und Art. 33 und 34 RPG hinausgehender
individueller Gehörsanspruch lasse sich aus den Vorschriften über das
Mitwirkungsverfahren nicht ableiten. Der von den Beschwerdeführern
angeführte BGE 111 Ia 164 ff. betreffe keinen vergleichbaren
Fall. Während dort der Abänderungsantrag an der Gemeindeversammlung
selbst gestellt worden sei, sei hier ein ordentliches Auflageverfahren
mit Einsprachemöglichkeit durchgeführt worden. Der Gemeinderat habe der
Versammlung vorschriftsgemäss den wesentlichen Inhalt der Einsprachepunkte
bekanntgegeben.

    Die Gemeinde teilt diese Auffassung. Das Verfahren sei vollständig
und richtig durchgeführt worden. Die Beschwerdeführer hätten sich durch
Einsprache und an der darauffolgenden Einspracheverhandlung äussern
können. Über die Ergebnisse sei an der Gemeindeversammlung orientiert
worden. Ein allfälliger Mangel sei durch den Einspracheentscheid geheilt
worden. Vor allem aber könne eine Gemeindeinitiative in Form eines
ausgearbeiteten Entwurfs nicht Gegenstand des Mitwirkungsverfahrens
sein. Dieses diene vorab der Grundlagenbeschaffung; dazu sei bei der
ausformulierten Initiative kein Raum gewesen. Es bestehe kein über Art. 33
und 34 RPG hinausgehender Anspruch aus Art. 4 BV.

    c) Die Beschwerdeführer behaupten nicht, die ihnen zustehenden
Rechtsschutzansprüche (insbesondere aus Art. 33 RPG) seien verletzt worden.
Vielmehr machen sie geltend, aufgrund von Art. 4 BV stünden ihnen bestimmte
weiterreichende politische Mitwirkungsrechte zu. Diese erlaubten es
ihnen, die politische Meinungsbildung zu beeinflussen, d. h. sich nicht
nur indirekt - via Einsprache - an die Behörde, sondern direkt - via
Orientierungs- oder Gemeindeversammlung - an die Stimmbürger zu wenden.

    Da die Beschwerdeführer nicht vorbringen, die kantonalgesetzliche
Konkretisierung des bundesrechtlichen Mitwirkungsgebots sei
bundesrechtswidrig, bleibt lediglich zu prüfen, ob diese
kantonalrechtlichen Anforderungen eingehalten sind.

    d) Das kantonale Recht gestattet es, die Unterlagen über vorgesehene
Planungen während einer angemessenen Mitwirkungsfrist öffentlich aufzulegen
(Art. 58 Abs. 2 lit. b BauG). Es wird nicht gerügt, diese Vorschrift
sei nicht eingehalten worden. Ein Einspracheverfahren fand statt, ebenso
eine Einspracheverhandlung. Die entsprechenden Einwendungen sind in der
Gemeindeversammlung jedenfalls erwähnt worden. Die Beschwerdeführer rügen
ebensowenig, das Mitwirkungsverfahren sei inhaltlich mit Fehlern behaftet
gewesen, weshalb eine Verletzung des baugesetzlichen Mitwirkungsgebots
nicht ersichtlich ist.