Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 83



114 V 83

18. Urteil vom 12. Juli 1988 i.S. Ausgleichskasse des schweizerischen
Gewerbes gegen B. und Versicherungsgericht des Kantons Aargau Regeste

    Art. 85 Abs. 2 AHVG, Art. 81 Abs. 3 AHVV: Anforderungen an das
Klageverfahren. Die Anforderungen, welche der Bundesgesetzgeber für
das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren aufgestellt hat, gelten im
erstinstanzlichen Klageverfahren sinngemäss (Erw. 3).

    Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG: Bemessung der Parteientschädigung. Für
die Bemessung der Parteientschädigung ist der Streitwert nicht
ausschlaggebend. Er darf bloss bei der Beurteilung der Wichtigkeit der
Streitsache mit berücksichtigt werden. Das entspricht einem allgemeinen
Verfahrensgrundsatz des Sozialversicherungsrechts (Erw. 4)

Sachverhalt

    A.- Peter B. und Jules B. waren Mitglieder des Verwaltungsrates
der P. AG, in deren Konkurs die Ausgleichskasse des schweizerischen
Gewerbes mit bundes- und kantonalrechtlichen paritätischen
Sozialversicherungsbeiträgen, Verwaltungskosten, Spesen und Verzugszinsen
im Gesamtbetrag von Fr. 304'770.-- zu Verlust gekommen ist. Die
Ausgleichskasse verpflichtete die beiden ehemaligen Verwaltungsräte am
29. Mai 1984 verfügungsweise zur solidarischen Leistung von Schadenersatz
in der Höhe des genannten Betrages. Nachdem Peter B. Einspruch erhoben
hatte, machte die Ausgleichskasse ihre Forderung beim Versicherungsgericht
des Kantons Aargau klageweise geltend.

    Mit Entscheid vom 31. März 1987 wies das Versicherungsgericht die
Klage gegen Peter B. ab und verpflichtete die Ausgleichskasse, ihm "die
richterlich festzusetzenden Parteikosten zu ersetzen".

    Nachdem der Entscheid in Rechtskraft erwachsen war, reichte
Rechtsanwalt Dr. R. als Vertreter des Peter B. dem Versicherungsgericht
eine Kostennote über den Betrag von Fr. 9'300.-- ein. Diese stützte
sich auf den aargauischen Anwaltstarif und umfasste u.a. einen
"Streitwertzuschlag" von Fr. 7'750.--. Das Versicherungsgericht setzte
die Parteientschädigung zu Lasten der Ausgleichskasse auf Fr. 9'300.--
fest (Beschluss vom 8. Juli 1987).

    B.- Gegen diesen Beschluss richtet sich die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Ausgleichskasse, welche die angemessene
Herabsetzung der Parteientschädigung, eventuell die Rückweisung der Sache
an die Vorinstanz zur Neufestsetzung beantragt. Sie beanstandet, dass das
Versicherungsgericht sie vor der Festsetzung der Parteientschädigung nicht
angehört und den tatsächlichen Arbeitsaufwand des Rechtsvertreters nicht
berücksichtigt und diesbezüglich auch keine Abklärungen getroffen habe. Bei
der Anwendung des Anwaltstarifs hätte den vom Eidg. Versicherungsgericht
entwickelten Grundsätzen zur Bemessung der Parteientschädigung Rechnung
getragen werden müssen. Es hätte nicht einfach der tarifliche Höchstansatz
bei den in Frage kommenden Positionen des aargauischen Anwaltstarifs
angewandt und schon gar nicht ein Streitwertzuschlag zugesprochen
werden dürfen. Der Prozess habe keine ausserordentlichen Schwierigkeiten
tatbeständlicher oder rechtlicher Natur geboten.

    Rechtsanwalt Dr. R. trägt für Peter B. auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung stellt den Antrag auf Gutheissung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde...

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gegen einen Entscheid, mit welchem der erstinstanzliche Richter
auf dem Gebiet der AHV/IV eine Parteientschädigung festgesetzt hat,
ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidg. Versicherungsgericht
zulässig (BGE 109 V 61 Erw. 1 und dort zitierte Urteile; in ZAK 1985
S. 482 veröffentlichte Erw. 1 von BGE 111 V 48; ZAK 1985 S. 533 Erw. 1).

Erwägung 2

    2.- Da es sich beim angefochtenen Beschluss, mit dem das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Parteientschädigung an
Peter B. festgesetzt hat, nicht um die Bewilligung oder Verweigerung
von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidg. Versicherungsgericht
nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche Richter Bundesrecht verletzt hat,
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der
rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder
unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden
ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105
Abs. 2 OG; BGE 110 V 56 Erw. 2).

Erwägung 3

    3.- Art. 85 Abs. 2 Ingress AHVG bestimmt, dass die Kantone das
Verfahren vor den Rekursbehörden zu regeln haben, an welche gemäss
Art. 84 Abs. 1 AHVG die aufgrund des AHVG erlassenen Verfügungen der
Ausgleichskassen weitergezogen werden können. Ferner schreibt Art. 85
Abs. 2 AHVG die Anforderungen vor, denen das kantonale Beschwerdeverfahren
von Bundesrechts wegen zu genügen hat.

    Für die Deckung von Schäden, die von einem Arbeitgeber im Sinne
von Art. 52 AHVG vorsätzlich oder grobfahrlässig verursacht worden
sind, bestimmt Art. 81 Abs. 3 AHVV, dass die Ausgleichskasse bei der
Rekursbehörde des Kantons, in welchem der Arbeitgeber seinen Wohnsitz hat,
schriftlich Klage einreichen muss, wenn sie nach Erhebung des Einspruchs
des Arbeitgebers (Art. 81 Abs. 2 AHVV) auf ihrer Schadenersatzforderung
beharrt. Absatz 3 verpflichtet ferner die Kantone, das Klageverfahren
vor der Rekursbehörde im Rahmen der Bestimmungen zu regeln, "die sie
gemäss Artikel 85 AHVG zu erlassen haben". Das bedeutet, dass die
Anforderungen, welche der Bundesgesetzgeber in Art. 85 Abs. 2 AHVG für
das Beschwerdeverfahren aufgestellt hat, im kantonalen Klageverfahren
sinngemäss gelten.

Erwägung 4

    4.- a) Gemäss Art. 85 Abs. 2 lit. f AHVG hat der obsiegende
Beschwerdeführer Anspruch auf Ersatz der Kosten der Prozessführung
und Vertretung vor der kantonalen Rekursbehörde nach gerichtlicher
Festsetzung. Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch auf
Parteientschädigung besteht, beurteilt sich somit nach Bundesrecht. Dieses
enthält jedoch im AHV-Bereich - so wie in den meisten andern
Sozialversicherungszweigen - keine Bestimmung über die Bemessung der
Parteientschädigung und insbesondere keinen Tarif. Die Regelung dieser
Frage ist dem kantonalen Recht überlassen. Mit diesem hat sich das
Eidg. Versicherungsgericht grundsätzlich nicht zu befassen (Art. 128
OG in Verbindung mit Art. 97 Abs. 1 OG und Art. 5 Abs. 1 VwVG). Dieses
darf die Höhe einer Parteientschädigung nur daraufhin überprüfen, ob die
Anwendung der für ihre Bemessung einschlägigen kantonalen Bestimmungen
zu einer Verletzung von Bundesrecht geführt hat (Art. 104 lit. a OG). Das
Eidg. Versicherungsgericht hat befunden, dass in diesem Bereich "praktisch"
nur das Willkürverbot des Art. 4 Abs. 1 BV in Betracht fällt (BGE 112 V
112, 111 V 49 Erw. 3, 110 V 58 Erw. 3a, 133 Erw. 3 und 363 Erw. 1b; ZAK
1985 S. 533 Erw. 3; vgl. auch BGE 104 Ia 13). Nach der Rechtsprechung ist
eine Entschädigung dann willkürlich, wenn sie eine Norm oder einen klaren
und unumstrittenen Rechtsgrundsatz offensichtlich schwer verletzt, sich
mit sachlichen Gründen schlechthin nicht vertreten lässt oder in stossender
Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 110 V 364). Indessen hat
das Eidg. Versicherungsgericht andere Formen von Bundesrechtsverletzungen
im Bereich der Bemessung von Parteientschädigungen nicht ausgeschlossen.

    b) Praxisgemäss ist dem erstinstanzlichen Richter bei der Bemessung
der Parteientschädigung ein weiter Ermessensspielraum einzuräumen (BGE
111 V 49 Erw. 4a und 110 V 365 Erw. 3c). Ermessensmissbrauch liegt vor,
wenn die Behörde zwar im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens bleibt,
sich aber von unsachlichen, dem Zweck der massgebenden Vorschriften fremden
Erwägungen leiten lässt oder allgemeine Rechtsprinzipien, wie das Verbot
von Willkür oder von rechtsungleicher Behandlung, das Gebot von Treu und
Glauben sowie den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verletzt (BGE 110
V 365 Erw. 3b, 108 Ib 205 Erw. 4a und 98 V 131 Erw. 2; IMBODEN/RHINOW,
Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Bd. I, S. 417).

    Im Rahmen seines Ermessens hat der erstinstanzliche Richter für die
Bestimmung der Höhe des Anwaltshonorars die Wichtigkeit und Schwierigkeit
der Streitsache, den Umfang der Arbeitsleistung und den Zeitaufwand des
Anwalts zu berücksichtigen (vgl. Art. 2 des Tarifs über die Entschädigungen
an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Eidg. Versicherungsgericht
vom 26. Januar 1979 und GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. II,
S. 848 f.). Die Wichtigkeit der Streitsache entscheidet sich nicht nach
dem frankenmässigen Streitwert im zivilprozessualen Sinne (BGE 110 V 365
Erw. 3c). Indessen darf das wirtschaftliche Interesse an der Streitsache
mit berücksichtigt werden (BGE 98 V 126 Erw. 4c). Bei der Beurteilung
des Arbeits- und Zeitaufwandes darf der Sozialversicherungsrichter
auch beachten, dass der Sozialversicherungsprozess im Unterschied zum
Zivilprozess von der Untersuchungsmaxime beherrscht wird, wodurch in
zahlreichen Fällen die Tätigkeit des Anwalts erleichtert wird (BGE 111
V 49 Erw. 4a und 110 V 365 Erw. 3c). Dessen Tätigkeit soll nur insoweit
berücksichtigt werden, als sich der Anwalt bei der Erfüllung seiner
Aufgabe in einem vernünftigen Rahmen hält, unter Ausschluss nutzloser
oder sonstwie überflüssiger Schritte. Im weiteren fallen Bemühungen,
welche der Anwalt vor der Einleitung des Prozesses unternommen hat,
bei der gerichtlichen Festsetzung seines Honorars ausser Betracht (BGE
111 V 49 Erw. 4a und ZAK 1985 S. 534 Erw. 4a). Hat der erstinstanzliche
Richter den Eigenheiten des Sozialversicherungsprozesses bei der Bemessung
der Parteientschädigung nicht Rechnung getragen, so verstösst dies nicht
gegen Bundesrecht (BGE 110 V 58 Erw. 3a).

    c) Diese Grundsätze hat das Eidg. Versicherungsgericht in den in ZAK
1986 S. 130 und S. 133 publizierten Urteilen erneut bestätigt. Daran
ist auch heute festzuhalten. Der vorliegende Fall veranlasst indessen
das Gericht, diese Praxis zu verdeutlichen: Eines der Kriterien für die
Bemessung des Anwaltshonorars ist - wie gesagt - nebst der Schwierigkeit
des Falles, des Umfanges der Arbeitsleistung und des Zeitaufwandes die
"Wichtigkeit der Streitsache". Wann eine Streitsache wichtig ist, lässt
sich nicht ein für allemal festlegen, sondern bestimmt sich nach den
Gegebenheiten des konkreten Falles. Zu diesen Gegebenheiten kann auch die
materielle Bedeutung des vom Rechtsuchenden angestrebten Prozessausganges
gehören. Das ist aber nur eines neben andern Kriterien, nach denen sich
die Wichtigkeit einer Streitsache beurteilt. Diese lässt sich daher nicht
massgebend durch den Streitwert bestimmen, wie er für die Festsetzung der
Parteientschädigung im Zivilprozess weitgehend entscheidend ist. Deshalb
darf der Streitwert im Sozialversicherungsprozess unter dem Gesichtspunkt
der Wichtigkeit der Sache für die Festsetzung der Parteientschädigung
lediglich mit berücksichtigt werden; ausschlaggebend ist er jedoch
nicht. Dabei handelt es sich um einen allgemeinen Verfahrensgrundsatz
des Sozialversicherungsrechts, der in allen erstinstanzlichen
Sozialversicherungsprozessen, für welche das Bundesrecht der obsiegenden
Partei einen Anspruch auf Parteientschädigung einräumt, zu gelten hat. Der
Anwendungsbereich dieses allgemeinen Grundsatzes findet dort eine Grenze,
wo der Bundesgesetzgeber - vom gleichen Grundgedanken ausgehend - eine
besondere, allenfalls weitergehende Vorschrift aufgestellt hat. Dies trifft
auf Art. 108 Abs. 1 lit. g zweiter Satz UVG zu, wonach die Parteikosten
"ohne Rücksicht auf den Streitwert" bemessen werden (vgl. BBl 1976
III 226).

Erwägung 5

    5.- Es steht fest und wird von der Ausgleichskasse nicht bestritten,
dass die Parteientschädigung von Fr. 9'300.-- gestützt auf § 9 des
aargauischen Anwaltstarifs vom 10. März 1949 zugesprochen worden
ist. Von der gesamten Entschädigung entfällt ein Betrag von Fr. 620.--
auf die in § 9 für Streitsachen mit einem Streitwert bis zu Fr. 2'000.--
vorgesehenen Positionen für Aktenstudium, Instruktion, Klageeinreichung,
Verhandlung vor dem Gerichtspräsidium, Korrespondenz usw.; dazu kommt ein
Zuschlag von Fr. 930.-- gemäss kantonaler Verordnung über die Anpassung
des Teuerungszuschlags zum Anwaltstarif.

    Für Streitsachen mit einem Streitwert von über Fr. 2'000.-- sieht § 11
des Anwaltstarifs einen variablen Zuschlag zu dem gemäss § 9 festgesetzten
Honorar vor, der unmittelbar von der Höhe des frankenmässigen Streitwertes
abhängig ist und bei einem die Summe von Fr. 150'000.-- übersteigenden
Streitwert 500% beträgt, was im vorliegenden Fall, in dem sich der
Streitwert auf Fr. 304'770.-- beläuft, einen Zuschlag von Fr. 7'750.--
ergibt. Auf diese Weise errechnete die Vorinstanz die Parteientschädigung
von total Fr. 9'300.--. Damit hat das Versicherungsgericht einerseits in
willkürfreier Weise von den massgeblichen kantonalen Rechtsgrundlagen
Gebrauch gemacht. Daraus erhellt aber anderseits, dass der kantonale
Richter bei der Bemessung der Parteientschädigung durch die Anwendung des
aargauischen Anwaltstarifs entscheidend auf die Höhe des Streitwertes
im zivilprozessualen Sinne abgestellt hat. Dieses Vorgehen steht mit
dem in Erwägung 4c dargelegten allgemeinen Verfahrensgrundsatz des
Bundessozialversicherungsrechts nicht im Einklang. Der angefochtene
Beschluss ist daher aufzuheben, und die Sache ist an die Vorinstanz
zurückzuweisen, damit sie die Parteientschädigung im Sinne der Erwägungen
neu festsetze. Sie darf dabei - im Rahmen des Kriteriums der Wichtigkeit
der Streitsache - und bei gebührender Würdigung auch der weiteren
massgeblichen Gesichtspunkte (Schwierigkeit, Arbeitsaufwand usw.)
berücksichtigen, dass der Ausgang eines Schadenersatzprozesses über
eine Forderung von rund 300'000 Franken für die Parteien von bedeutendem
wirtschaftlichem Interesse ist.