Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 315



114 V 315

58. Auszug aus dem Urteil vom 22. August 1988 i.S. S. gegen "Zürich"
Versicherungs-Gesellschaft und Versicherungsgericht des Kantons Zürich
Regeste

    Art. 37 Abs. 2 UVG: Leistungskürzungen bei Verkehrsunfällen.

    - Kriterien für die Überprüfung von Ermessensentscheiden (Erw. 5a).

    - Überblick über die Rechtsprechung betreffend Kürzungen im Bereich
der Verkehrsregelverletzungen (Erw. 5b).

    - Bedeutung der Empfehlungen einer Ad-hoc-Kommission der
UVG-Versicherer bezüglich Kürzungsquoten bei Verkehrsunfällen (Erw. 5c).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- a) Die Kürzung von Versicherungsleistungen nach Art. 37 Abs. 2
UVG erfolgt nach Massgabe des Verschuldens. Naturgemäss handelt es sich
dabei um einen Ermessensentscheid. Die Beschwerdeführerin lässt zu Recht
weder Missbrauch noch Überschreitung des Ermessens geltend machen; es ist
daher nur zu prüfen, ob die ermessensweise Festsetzung der Kürzungsquote
auf 20% wegen Unangemessenheit abzuändern ist.

    Bei der Unangemessenheit geht es um die Frage, ob der zu überprüfende
Entscheid, den die Behörde nach dem ihr zustehenden Ermessen im
Einklang mit den allgemeinen Rechtsprinzipien in einem konkreten
Fall getroffen hat, nicht zweckmässigerweise anders hätte ausfallen
sollen (BGE 98 V 131 Erw. 2; vgl. auch BGE 108 Ib 31 Erw. 1 und GYGI,
Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 316). Allerdings darf der
Sozialversicherungsrichter sein Ermessen nicht ohne triftigen Grund
anstelle desjenigen der Verwaltung setzen (nicht veröffentlichtes
Urteil F. vom 16. November 1981); das Gericht muss sich somit auf
Gegebenheiten abstützen können, welche seine abweichende Ermessensausübung
als naheliegender erscheinen lassen (nicht veröffentlichte Urteile
B. vom 13. November 1987, D. vom 21. Juli 1987, H. vom 2. Dezember
1986, F. vom 11. Januar 1985 und B. vom 11. Mai 1984). Auch ist den
Bestrebungen der Verwaltung bzw. der Versicherer Rechnung zu tragen,
die darauf abzielen, durch interne Weisungen, Richtlinien, Tabellen,
Skalen usw. eine rechtsgleiche Behandlung der Versicherten zu gewährleisten
(unveröffentlichte Urteile H. vom 2. Dezember 1986 und M. vom 18. Oktober
1983).

    b) Die Kürzungspraxis des Eidg. Versicherungsgerichts im Bereich der
Verkehrsregelverletzungen schwankt schwergewichtig zwischen 10 und 20%:

    wegen Überfahrens der Haltelinie an einer unübersichtlichen Kreuzung
   erfolgte eine 10%ige Kürzung (nicht publiziertes Urteil M. vom
   23. August

    1967);

    bei einem Automobilisten, der infolge übersetzter Geschwindigkeit auf -
   verschneiter und kurvenreicher Strasse die Herrschaft über das Fahrzeug
   verlor, wurden die Leistungen um 20% gekürzt (BGE 97 V 210);

    wegen ungenügenden Rechtsfahrens mit unangemessener Geschwindigkeit
   in einer scharfen, unübersichtlichen Rechtskurve wurde eine 10%ige

    Kürzung ausgesprochen (RSKV 1972 Nr. 116 S. 15);

    wegen Überholens auf einer neun Meter breiten Strasse mit einer

    Geschwindigkeit von ca. 80 km/h trotz Gegenverkehr erfolgte eine
Kürzung
   von 10% (nicht publiziertes Urteil S. vom 13. März 1972);

    wegen Verlusts der Herrschaft über das Fahrzeug in einer gefährlichen

    Kurve bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h erfolgte eine 20%ige

    Kürzung (nicht publiziertes Urteil C. vom 27. Dezember 1973);

    wegen Verletzung mehrerer Verkehrsregeln (Überholen eines
offensichtlich
   unsicheren Autofahrers, der nach links abbiegen wollte, mit einer

    Geschwindigkeit von 80 km/h) erging eine Kürzung von 10% (nicht
   publiziertes Urteil S. vom 7. Oktober 1976);

    bei einem Automobilisten, der mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h
   auf dem Glatteis ins Schleudern geraten war, wurden die Leistungen um

    10% gekürzt (nicht publiziertes Urteil R. vom 27. Dezember 1976);

    ein notorischer Schnellfahrer erlitt
   eine Kürzung von 20% (nicht publiziertes Urteil U. vom 16. Mai 1977);

    wegen eines durch kurze Unaufmerksamkeit verursachten Unfalles erfolgte
   eine 10%ige Kürzung (nicht publiziertes Urteil R. vom 5. Oktober 1978);

    eine Kürzung von 10% erging wegen einmaliger Unaufmerksamkeit
   bzw. momentaner Fehlbeurteilung der Verkehrssituation (nicht
   publiziertes Urteil Z. vom 24. Juni 1981);

    wegen ungenügenden Rechtsfahrens beim Linksabbiegen und mangelnder

    Aufmerksamkeit wurde ebenfalls eine Kürzung von 10% ausgesprochen
   (Urteil M. vom 19. Juli 1982, zitiert in Rechtsprechungsbeilage zum

    SUVA-Jahresbericht 1982, Nr. 1);

    auch wegen Nichtgewährens des Vortritts beim Linksabbiegen erfolgte
   eine 10%ige Kürzung (nicht publiziertes Urteil B. vom 1. Februar 1983);

    20% gekürzt wurden die Leistungen bei einem Automobilisten, der bei
   ungünstigen Strassen- und Wetterverhältnissen auf eine ihm bekannte enge

    Rechtskurve zugesteuert war und sich nicht strikt rechts gehalten hatte
   (nicht publiziertes Urteil S. vom 26. Mai 1983);

    bei einem Motorradfahrer, der mit 100-110 km/h auf einer ihm bekannten

    Strecke gefahren war, in einer Linkskurve ohne fremden Einfluss das

    Gleichgewicht verloren hatte und von der Fahrbahn geraten war, erfolgte
   eine 10%ige Kürzung (Urteil A. vom 30. Januar 1984 in

    Rechtsprechungsbeilage zum SUVA-Jahresbericht 1984, Nr. 6);

    eine Kürzung von 20% wurde bei einem Motorradfahrer ausgesprochen,
   der bei unübersichtlicher Lage und trotz Gegenverkehr ein parkiertes

    Auto mit unangepasster Geschwindigkeit überholt hatte (nicht
   publiziertes Urteil S. vom 16. Mai 1984);

    wegen Nichtanpassens der Geschwindigkeit an die

    Verhältnisse (Sturm, Wolkenbruch, aufgeweichte Strasse, Kurve)
wurden die

    Leistungen um 20% gekürzt (nicht publiziertes Urteil W. vom 21. März

    1985);

    wegen Nichttragens der Sicherheitsgurte erfolgt nach konstanter

    Rechtsprechung eine Kürzung von 10% (BGE 109 V 150, 104 V 36;

    RKUV 1986 Nr. U 9 S. 343).

    c) Im Zusammenhang mit der Angemessenheitskontrolle fragt sich sodann,
welche Bedeutung den Empfehlungen zur Anwendung von UVG und UVV der
inoffiziellen Ad-hoc-Kommission der Schadenleiter der UVG-Versicherer
zukommt. Diese Richtlinien sind weder eine Verwaltungsverordnung noch
stellen sie Weisungen der Aufsichtsbehörde an die Durchführungsorgane
dar. Sie sind nicht einmal, wie sich schon aus ihrem Titel "Empfehlungen"
ergibt, für die einzelnen Versicherer, die an der Durchführung des
UVG mitwirken, verbindlich, geschweige denn für den Richter (BGE 113
V 21 Erw. b betreffend Verwaltungsweisungen). Dennoch kommt ihnen
unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgleichheit eine gewisse Bedeutung
zu. Dass die revidierte Fassung vom 5. November 1987 erst im Laufe des
Beschwerdeverfahrens ergangen ist, spricht, entgegen der Auffassung der
Beschwerdegegnerin, nicht zwingend gegen ihre Berücksichtigung. Denn eine
neue Rechtspraxis, wozu auch eine gesetzeskonforme Verwaltungspraxis
gehört, ist grundsätzlich auf die im Zeitpunkt der Änderung noch nicht
erledigten sowie auf künftige Fälle anwendbar (BGE 112 V 387 Erw. 8a
mit Hinweis). Indessen zeigt die in Erw. 5b dargelegte Rechtsprechung
deutlich, dass im Bereich von Verkehrsregelverletzungen der vorliegenden
Art Kürzungen von bis zu 20% durchaus angemessen sind. Für schwerwiegende
Verkehrsregelverletzungen sind auch höhere Kürzungssätze geschützt
worden, so z.B. 30% wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand (nicht
publiziertes Urteil T. vom 16. Februar 1976). Wenn Beschwerdegegnerin
und Vorinstanz in Würdigung der konkreten Verhältnisse eine Kürzung von
20% verfügten bzw. bestätigten, ist dies unter dem Gesichtspunkt der
Angemessenheitskontrolle nicht zu beanstanden. Denn das Überfahren eines
Rotlichtes ist, mehr noch als die Verletzung des Vortrittsrechts, ein
krasser Verkehrsregelverstoss, von dem es im übrigen sehr unwahrscheinlich
ist, dass er - bei der Beschwerdeführerin bekannten örtlichen Verhältnissen
- unbewusst begangen werden konnte. Es sind daher keine triftigen Gründe
vorhanden, welche eine abweichende Ermessensausübung als naheliegender
erscheinen liessen. Aus den dargelegten Gründen rechtfertigt sich
dies auch nicht aus dem Umstand, dass in den neuen Empfehlungen der
Schadenversicherer bei Missachten des Rotlichtes im Regelfall eine Kürzung
von 10% Platz greifen soll.