Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 18



114 V 18

6. Urteil vom 15. Januar 1988 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung
gegen H. und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 12 Abs. 1 IVG: Medizinische Massnahmen. Die nach einem
Schädel-Hirn-Trauma unmittelbar auf die Akutversorgung folgenden
Rehabilitationsmassnahmen, die der Optimierung der verbleibenden
Funktionsmöglichkeiten des Gehirns und der Kompensation der irreversiblen
Schädigungen dienen, stehen in engem sachlichen Zusammenhang mit der
primären Unfallbehandlung.

Sachverhalt

    A.- Die 1963 geborene Katharina H. erlitt am 29. Mai
1983 anlässlich eines Motorradunfalles eine schwere offene
Schädel-Hirn-Verletzung, welche eine dekompressive Kraniotomie und
eine Schädelkalotten-Replantation erforderte. Als Unfallfolgen blieben
eine mittelschwere Hirnfunktionsstörung mit motorischer Aphasie, eine
partielle Epilepsie sowie eine rechtsseitig armbetonte Hemiparese
zurück. Vom 15. November 1983 bis 7. Dezember 1984 befand sich die
Versicherte in der Rehabilitationsklinik in Bellikon, wo ihr vor allem
Physiotherapie, Ergotherapie und logopädischer Unterricht gewährt wurden
(Abschlussbericht vom 18. Dezember 1984). Die Kosten des Aufenthaltes
übernahm die Z.-Versicherungsgesellschaft als privater Unfallversicherer,
bei der Katharina H. über die Arbeitgeberin kollektivversichert war. Am
3. April 1985 ersuchte die Z. um Übernahme der Rehabilitationskosten
durch die Invalidenversicherung, worauf die Ausgleichskasse des Kantons
Bern Katharina H. am 31. Mai 1985 verfügungsweise mitteilte, es könne
keine Kostengutsprache gewährt werden.

    B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Bern hiess die hiegegen
erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 5. Mai 1986 gut und wies die
Ausgleichskasse an, die Kosten des Rehabilitationsaufenthaltes als
medizinische Massnahme zu übernehmen.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für
Sozialversicherung Aufhebung des kantonalen Entscheides und Bestätigung
der angefochtenen Verfügung.

    Katharina H. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliessen, ebenso die Ausgleichskasse. Die Z., welche als Mitinteressierte
zur Vernehmlassung eingeladen wurde, verzichtet auf eine Stellungnahme.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 12 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf
medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich,
sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet
sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor
wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren.

    b) Die Behandlung von Unfallfolgen gehört grundsätzlich ins Gebiet der
Unfallversicherung (Art. 2 Abs. 4 IVV). Hingegen können stabile Defekte,
die als Folge von Unfällen entstehen, Anlass zu Eingliederungsmassnahmen im
Sinne von Art. 12 IVG geben, sofern kein enger sachlicher und zeitlicher
Zusammenhang mit der primären Unfallbehandlung besteht (BGE 105 V 149
Erw. 2a mit Hinweisen).

    Der enge sachliche Zusammenhang ist gegeben, wenn die medizinische
Vorkehr mit der Unfallbehandlung einen einheitlichen Komplex bildet. Für
die Beurteilung ist dabei ausschliesslich der Zeitpunkt der Entstehung
des Defektes und nicht der Zeitpunkt der Diagnosestellung oder der
Durchführung der Massnahme ausschlaggebend. Eine Massnahme, die schon
während der Unfallbehandlung als voraussichtlich notwendig erkennbar war,
ist keine Eingliederungsmassnahme der Invalidenversicherung (BGE 105 V
149 Erw. 2a, 102 V 70 Erw. 1).

    Der zeitliche Zusammenhang mit der Unfallbehandlung ist als
unterbrochen zu betrachten, wenn der Defekt ohne Behandlung während
längerer Zeit - in der Regel während 360 Tagen - stabil war und der
Versicherte im Rahmen der noch vorhandenen Arbeitsfähigkeit tätig sein
konnte. Die für die Beurteilung des zeitlichen Zusammenhanges massgebende
Zeitspanne beginnt mit dem Eintritt des stabilen Defektzustandes nach
Abschluss der primären Unfallbehandlung und endet mit der erstmaligen
Indikation der neuen Behandlungsvorkehr (BGE 102 V 70 Erw. 1).

Erwägung 2

    2.- a) Unter Hinweis auf die eben angeführte Rechtsprechung gelangt
die Vorinstanz zur Auffassung, dass der Aufenthalt in Bellikon nicht in
einem engen sachlichen Zusammenhang mit der eigentlichen Behandlung der
Unfallverletzungen (Rekonstruktion der Schädeldecke) stehe. Eine Heilung
sei bei den vorliegenden irreversiblen Schädigungen der Hirnzellen
nicht möglich, weshalb die fraglichen Rehabilitationsmassnahmen nur
dazu dienten, der Beschwerdegegnerin Möglichkeiten aufzuzeigen, trotz
der Behinderung selbständig zurechtzukommen und die Funktionsausfälle
optimal zu kompensieren.

    b) Dieser Argumentation kann nicht beigepflichtet werden. Es
widerspricht der wiedergegebenen Rechtsprechung, den engen sachlichen
Zusammenhang mit der primären Unfallbehandlung schon dann zu
verneinen, sobald die Rehabilitationsmassnahmen über die medizinische
Heilbehandlung im engsten Sinne - hier dekompressive Kraniotomie
und Schädelkalotten-Replantation - hinausgehen. Der "enge sachliche
Zusammenhang" ist nicht als ein ausschliesslich medizinischer, sondern
als ein juristischer Begriff zu interpretieren, mit welchem der Rahmen
für den "einheitlichen Komplex" der "medizinischen Vorkehren" abgesteckt
werden will, der noch dem Gebiet der Unfallversicherung zuzurechnen
ist. In diesen Massnahmenkomplex gehören im vorliegenden Fall die schon
im Zeitpunkt der Unfallbehandlung im engeren Sinne voraussehbar gewesenen
Rehabilitationsmassnahmen (Physiotherapie, Ergotherapie, logopädischer
Unterricht), welche dazu dienen, die noch ganz oder teilweise verbleibenden
Funktionsmöglichkeiten des Gehirns zu optimieren und die irreversiblen
Schädigungen bestmöglich zu kompensieren. Die Unfallbehandlung im
Rechtssinne wäre unvollständig, wenn sich an die Unfallchirurgie als
Akutversorgung nicht eine ebenso intensive Rehabilitation anschliessen
würde. Es ist beim heutigen Stand der Wissenschaft klar, dass jeder
Schädel-Hirn-Traumatiker nicht nur auf der Intensivstation versorgt,
sondern auch rehabilitativ betreut werden muss, was ebenfalls Sache des
Unfallversicherers ist.

    c) Der enge zeitliche Zusammenhang ist offensichtlich gegeben, da
die Therapien in Bellikon unmittelbar auf die Spitalbehandlung erfolgten.

Erwägung 3

    3.- Nach dem Gesagten stellt die Rehabilitation in der Klinik Bellikon
keine Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art. 12 IVG dar. Es kann daher
offenbleiben, ob im Zeitpunkt der Aufnahme der Rehabilitationsbehandlung
bezüglich der Gehirnverletzung als solcher bereits ein stabiler
Defektzustand gegeben war.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 5. Mai 1986 aufgehoben.