Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 V 150



114 V 150

32. Auszug aus dem Urteil vom 19. Oktober 1988 i.S. A. gegen
Ausgleichskasse des Kantons Bern und Versicherungsgericht des Kantons
Bern Regeste

    Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG. Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG in der seit
1. Januar 1987 gültigen Fassung ist im Sinne der unechten Rückwirkung auch
auf Fülle anzuwenden, in welchen die Verzichtshandlung vor Inkrafttreten
dieser Bestimmung erfolgte, sich aber auch nach dem 1. Januar 1987 noch
auswirkt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 2 Abs. 1 ELG haben in der Schweiz wohnhafte
Schweizer Bürger, denen eine Rente der AHV zusteht, Anspruch auf
Ergänzungsleistungen, soweit ihr anrechenbares Jahreseinkommen
einen bestimmten Grenzbetrag nicht erreicht. Dabei entspricht die
jährliche Ergänzungsleistung dem Unterschied zwischen der massgebenden
Einkommensgrenze und dem anrechenbaren Jahreseinkommen (Art. 5 Abs. 1 ELG).

    Bei Alleinstehenden, die dauernd oder für längere Zeit in einem Heim
oder einer Heilanstalt leben, entspricht die Ergänzungsleistung der
Differenz zwischen den Ausgaben (Tagestaxe, Betrag für persönliche
Auslagen, Abzüge gemäss ELG) und den gemäss ELG anrechenbaren
Einkommenstellen (Art. 1a Abs. 1 Satz 1 ELV).

    Das anrechenbare Einkommen wird nach den Bestimmungen der Art. 3
ff. ELG berechnet. Als Einkommen anzurechnen sind danach u.a. Einkünfte
und Vermögenswerte, auf die zur Erwirkung von Ergänzungsleistungen
verzichtet worden ist (Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG in der ursprünglichen,
bis 31. Dezember 1986 gültig gewesenen Fassung). Weil der Nachweis einer
Umgehungsabsicht in der Praxis häufig Schwierigkeiten bereitet, wurde
der Text von Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG im Rahmen der zweiten ELG-Revision
geändert und lautet in der ab 1. Januar 1987 gültigen Fassung: "Einkünfte
und Vermögenswerte, auf die verzichtet worden ist." Mit dieser neuen
Regelung, welche die Verhinderung von Missbräuchen bezweckt, wird eine
einheitliche und gerechte Lösung ermöglicht, indem sich die schwierige
Lösung der Frage fortan erübrigt, ob beim Verzicht auf Einkommen oder
Vermögen der Gedanke an eine Ergänzungsleistung tatsächlich eine Rolle
gespielt hat oder nicht (Botschaft des Bundesrates vom 21. November 1984;
BBl 1985 I 106; vgl. auch ZAK 1988 S. 258, 1987 S. 377 Erw. 2).

Erwägung 2

    2.- a) Im vorliegenden Fall erfolgte der Verzicht des Beschwerdeführers
auf die Weitergewährung der Leibrente am 18. November 1983 und somit zu
einem Zeitpunkt, als noch die ursprüngliche Fassung des Art. 3 Abs. 1
lit. f ELG in Kraft stand. Die Verzichtshandlung wirkte sich aber auch
nach dem 1. Januar 1987 aus und wird sich auch weiterhin auf die gesamte
Lebensdauer des Beschwerdeführers auswirken. Es stellt sich die Frage,
ob die altrechtliche Fassung von Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG massgebend ist
oder ob - im Sinne der unechten Rückwirkung - das neue Recht anwendbar
ist. Unechte Rückwirkung liegt vor, wenn das neue Recht gestützt auf
Sachverhalte, die früher eingetreten sind, nur für die Zeit seit seinem
Inkrafttreten Anwendung findet bzw. wenn bei der Anwendung des neuen
Rechts auf Verhältnisse abgestellt wird, die schon unter der Herrschaft
des alten Rechts entstanden sind und beim Inkrafttreten des neuen Rechts
noch andauern (BGE 113 V 299 mit Hinweisen, 113 Ia 425).

    b) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kann die Frage, ob
Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG die unechte Rückwirkung zukommt, nicht mit
der Feststellung, eine solche sei grundsätzlich zulässig, sofern ihr
nicht wohlerworbene Rechte entgegenstehen (BGE 113 V 299 mit Hinweisen),
beantwortet werden. Denn diese Aussage bezieht sich auf kantonale Erlasse
und bundesrechtliche Verordnungen. Sieht hingegen ein Bundesgesetz
ausdrücklich oder sinngemäss die unechte Rückwirkung vor oder untersagt es
eine solche, ist diese Anordnung gemäss Art. 113 Abs. 3 und 114bis Abs. 3
BV für den Richter zum vornherein verbindlich und kann nicht überprüft
werden (BGE 108 V 118 Erw. 4). Ob einer neuen bundesgesetzlichen Bestimmung
die Bedeutung unechter Rückwirkung zukommt, muss sich aus dem Wortlaut
(insbesondere der Übergangsbestimmungen), der sinngemässen Auslegung
oder durch Lückenfüllung ergeben (BGE 99 V 200; MAURER, Schweizerisches
Sozialversicherungsrecht, Bd. I, S. 178 ff.; IMBODEN/RHINOW, Schweizerische
Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Bd. I, Nr. 16, S. 104).

    c) Laut Abs. 2 der Übergangsbestimmungen der auf den 1. Januar 1987 in
Kraft getretenen Änderung des ELG vom 4. Oktober 1985 darf während eines
Jahres nach Inkrafttreten dieses Gesetzes eine laufende Ergänzungsleistung
wegen der Änderung von Art. 3 Abs. 1, 2 und 4 und Art. 4 Abs. 1
Buchstaben a und b nicht herabgesetzt werden. Diese übergangsrechtliche
Regelung bezieht sich zwar nur auf laufende Ergänzungsleistungen und
ist daher im vorliegenden Fall, wo es um die erstmalige Zusprechung
von Ergänzungsleistungen für das Jahr 1987 geht, nicht anwendbar; aus
ihrem Wortlaut ist jedoch zu schliessen, dass die darin aufgezählten
Vorschriften, worunter auch der hier in Frage stehende Art. 3 Abs.
1 lit. f ELG, grundsätzlich im Sinne der unechten Rückwirkung (ex nunc et
pro futuro) anzuwenden sind, wobei für das erste Jahr noch der Besitzstand
gewährleistet wurde, um den betroffenen Ergänzungsleistungsbezügern die
Anpassung an die neuen Verhältnisse zu ermöglichen.

    Dass Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG in der ab 1. Januar 1987 geltenden
Fassung seit seinem Inkrafttreten auch auf Sachverhalte anzuwenden ist,
die sich vor dem 1. Januar 1987 verwirklicht haben, sich aber über
diesen Zeitpunkt hinaus auswirken, ergibt sich auch aus Sinn und Zweck
der neuen Bestimmung, Missbräuche zu verhindern, ohne dass künftig noch
geprüft werden muss, ob bei der Verzichtshandlung der Gedanke an eine
Ergänzungsleistung eine Rolle gespielt hat (Erw. 1 am Ende hievor). Wäre
die unechte Rückwirkung ausgeschlossen, hätte dies zur Folge, dass
die Motive der Verzichtshandlungen, die in vielen Fällen längere Zeit
zurückliegen können, von den Durchführungsstellen noch nach Jahren zu
untersuchen wären, was offensichtlich nicht der Absicht des Gesetzgebers
entspräche.