Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IV 8



114 IV 8

3. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 8. Januar 1988 i.S. S. und
J. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 139 Ziff. 3 StGB; Lebensgefahr des Opfers.

    Wird das Opfer in einer Art und Weise mit einer Waffe bedroht, die
geeignet ist, lebensgefährliche Verletzungen zu bewirken, und steht einer
unmittelbaren Verwirklichung der Drohung objektiv nichts im Wege, so ist
eine konkrete Lebensgefahr im Sinne von Art. 139 Ziff. 3 StGB zu bejahen.

    In casu Raub unter Einsatz einer Stichwaffe, die während kurzer Zeit
mit der scharfen Spitze in einem Abstand von 10-20 cm gegen den Hals
gerichtet war.

Sachverhalt

    A.- Die Kriminalkammer des Obergerichts des Kantons Bern sprach S. und
J. am 11. Dezember 1986 unter anderem des Raubes gemäss Art. 139 Ziff. 3
StGB schuldig und verurteilte S. zu neun Jahren und J. zu sieben Jahren
Zuchthaus, jeweils abzüglich Untersuchungshaft. Sie hatten gemeinsam eine
Geldbotin überfallen; S. hatte diese von hinten umklammert, indem er sie
mit seiner linken Hand im Kinnbereich an sich drückte. In der rechten
hielt er einen Dolch mit scharfer Spitze, der in einem Abstand von 10-20
cm während kurzer Zeit gegen den Hals des Opfers zeigte und alsdann quer
dazu gehalten wurde. Unterdessen entriss J. dem Opfer den Plastiksack,
in welchem die Täter das Geld vermuteten.

    S. und J. führen Nichtigkeitsbeschwerde und beantragen Aufhebung des
angefochtenen Urteils. Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführer machen geltend, das Opfer sei nach den
Umständen nicht einer Lebensgefahr ausgesetzt gewesen.

    Der qualifizierte Raubtatbestand des Art. 139 Ziff. 3 StGB, bei
dem das Opfer in Lebensgefahr gebracht werden muss, und der gemäss der
bisherigen Rechtsprechung zur Todesdrohung (alter Art. 139 Ziff. 2 Abs. 2
StGB) auszulegen ist (BGE 111 IV 128 E. 2 mit Hinweisen), erfordert eine
echte, konkrete, eine unmittelbare, akute, eine hochgradige Lebensgefahr
(BGE 111 IV 128 E. 2 und 109 IV 109 E. a mit Hinweisen). Eine derartige
Lebensgefahr war vorliegend unter einem zweifachen Gesichtspunkt gegeben.

    Wird das Opfer auf kurze Distanz mit einer geladenen Schusswaffe
bedroht, so ist Lebensgefahr im Sinne von Art. 139 Ziff. 3 StGB unabhängig
davon zu bejahen, ob die Waffe gesichert und nicht durchgeladen ist
oder der Abzughebel bis zur Schussabgabe mehrmals betätigt werden muss
(BGE 112 IV 14 E. 4 und 17 E. 2 mit Hinweisen); entscheidend bleibt,
ob sie objektiv innert kürzester Zeit schussbereit gemacht werden kann,
wobei es keine Rolle spielt, ob die allenfalls nachfolgende Schussabgabe
auf einem Willensentschluss oder einer Fehlreaktion beruht (BGE 112 IV
18 E. b; 111 IV 129 E. b mit Hinweisen). Inwiefern diese Rechtsprechung
bezüglich Schusswaffen nicht auch für andere Waffen, beispielsweise
Stichwaffen gelten sollte, mit denen in ähnlicher Weise lebensgefährliche
Verletzungen zugefügt werden können, ist nicht einzusehen. Wenn das
Gefährdungspotential einer solchen anderen, zur Bedrohung eingesetzten
Waffe sogleich und ohne weiteres aktiviert werden kann, so ist auch
hier eine konkrete, unmittelbare Lebensgefahr zu bejahen. Das deckt sich
mit der früheren Rechtsprechung zum alten Art. 139 Ziff. 2 Abs. 2 StGB,
wonach es genügte, wenn der Täter die Todesdrohung objektiv unmittelbar
verwirklichen konnte, das Opfer nach den Umständen, insbesondere nach
der Art der Drohung tatsächlich einer grossen Todesgefahr ausgesetzt
war, und es auf die subjektive Bereitschaft oder Absicht des Täters, die
Todesdrohung zu verwirklichen, nicht ankam (BGE 109 IV 108 E. a und 107 IV
111 E. 2b mit Hinweisen). Vorliegend ist das Opfer mit einem Dolch bedroht
worden, der während kurzer Zeit mit der Spitze in einem Abstand von 10-20
cm gegen den Hals gerichtet war und alsdann im gleichen Abstand quer dazu
gehalten wurde. Der Dolch war wegen seiner scharfen Spitze ohne weiteres
geeignet, lebensgefährliche Verletzungen zu bewirken, falls das Opfer im
Halsbereich getroffen worden wäre. Einer unmittelbaren Verwirklichung
der Drohung stand objektiv nichts im Wege. Ob der Wille dazu fehlte,
ist unerheblich, zumal die Frage nach dem Vorhandensein der konkreten
Lebensgefahr sich ausschliesslich nach objektiven Kriterien beurteilt (BGE
112 IV 18 E. b; 111 IV 129 E. b; 109 IV 109 E. a; 107 IV 111 E. 2b). Sie
muss demnach vorliegend bejaht werden.

    Lebensgefahr im Sinne von Art. 139 Ziff. 3 StGB ist auch unabhängig
von der objektiven Möglichkeit unmittelbarer Verwirklichung der Drohung
als gegeben anzunehmen; denn bereits eine unbedachte Bewegung des Opfers
hätte jedenfalls während der Zeitspanne, als die Spitze des Dolches gegen
dessen Hals gerichtet war, eine lebensgefährliche Verletzung hervorrufen
können. Zwar setzte S. im Unterschied zu dem in BGE 102 IV 20 beurteilten
Fall die Spitze der Waffe nicht direkt am Hals der Geldbotin auf, hielt
sie aber 10-20 cm entfernt gegen diesen. Wohl hätte nicht jede kleinste,
immerhin aber bereits eine relativ geringfügige Bewegung des Opfers genügt,
um den Dolch in den Hals eindringen zu lassen und lebensgefährliche
Verletzungen zu verursachen. Es lag unter den herrschenden Umständen
nicht ausserhalb normalen Geschehens, dass die überfallene Geldbotin eine
derartige Bewegung nach der Seite hin gemacht hätte, wo der Dolch gehalten
wurde. S. hatte das Opfer von hinten mit dem linken Arm umfasst und an
sich gedrückt; es konnte daher nur nach rechts ausweichen. Zufolge des
von der Kriminalkammer festgestellten engen Körperkontakts zwischen S. und
dem Opfer sowie der Tatsache, dass er nicht nur auf dieses, sondern auch
auf seinen Komplizen, J., achtete, war die Kontrollmöglichkeit über Lage
und Stellung des Dolches herabgesetzt und namentlich dessen unveränderter
Abstand vom Hals in keiner Weise gewährleistet. Das Opfer befand sich
gemäss Feststellung der Kriminalkammer in einem Ausnahmezustand;
insbesondere Schreckbewegungen waren nicht auszuschliessen. Diese
konnten, weil die Geldbotin den Dolch in der Stellung mit der Spitze
gegen den Hals nicht wahrnahm, sondern die Waffe erst in einem späteren
Zeitpunkt quer zum Hals erblickte, durchaus in Richtung Dolch erfolgen,
um so mehr als wegen der linksseitigen Umfassung ein Ausweichen dorthin
zumindest erschwert wurde. Demnach war in jener Phase, als die Spitze
des Dolches gegen den Hals der Geldbotin zeigte, eine akute Lebensgefahr
geschaffen. Dass sie höchstgradig hätte sein müssen wie im Falle, wo die
Spitze eines Küchenmessers dem Opfer direkt an die Kehle gesetzt wurde
(BGE 102 IV 20), hat die Rechtsprechung auch im Anwendungsbereich von
Art. 139 Ziff. 3 StGB nie gefordert; eine hochgradige Lebensgefahr,
wie sie hier vorlag, genügt.