Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IV 103



114 IV 103

31. Urteil des Kassationshofes vom 14. Dezember 1988
i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Obwalden gegen
X. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 129 StGB. Gefährdung des Lebens mit Todesfolge.
Gewissenlosigkeit.

    Eine Handlung ist dann im Sinne von Art. 129 StGB gewissenlos, wenn
sie angesichts des Tatmittels und des Tatmotivs unter Berücksichtigung der
Tatsituation, zu der auch der Zustand des Täters gehört, den allgemein
anerkannten Grundsätzen von Sitte und Moral zuwiderläuft. Es ist
unerheblich, ob der Täter die ethische Verwerflichkeit seines Verhaltens
erkennen bzw. einer solchen Erkenntnis gemäss handeln konnte; es genügt,
dass er die Umstände kannte, derentwegen sein Verhalten gemessen an den
allgemeinen Grundsätzen von Sitte und Moral als gewissenlos erscheint.

Sachverhalt

    A.- Am 1. April 1985 übernahmen X. und seine Ehefrau die Führung des
Hotels A. in B. In der Folge wurde vereinbart, dass die Ehefrau das Hotel
alleine weiterführen und X. in Biel am 4. November 1985 eine neue Stelle
antreten sollte. In der zweiten Oktoberhälfte fuhr X. daher fast täglich
von B. nach Biel, um verschiedene Vorbereitungen am neuen Arbeitsort
zu treffen. Am 30. Oktober 1985 musste er in Bern einen Arzt aufsuchen,
der einen physischen Erschöpfungszustand feststellte. Am 1. November
1985 kehrte X. um ca. 19.30 Uhr von Biel nach B. zurück, wo er zusammen
mit seiner Frau das Nachtessen einnahm. Dabei trank er Bier und Rosé,
seine Frau Rosé. Während des Essens kam es zwischen den Eheleuten zu
Meinungsverschiedenheiten wegen des Autos, das jeder am nächsten Tag
für sich verwenden wollte. Zu einem eigentlichen Streit soll es aber
nicht gekommen sein. Zwischen 21.30 Uhr und 22.00 Uhr ging X. allein
in die Direktionswohnung, um zu schlafen. Seine Frau unterhielt sich
noch an der Bar mit Angestellten und begab sich um ca. 23.30 Uhr in die
Wohnung. Ungefähr zehn Minuten später hörten verschiedene Angestellte
des Hotels aus der Wohnung Lärm sowie einen Wortwechsel zwischen den
Eheleuten. Kurz darauf ertönte ein Schuss.

    X. sagte aus, er sei von seiner Frau unmittelbar vor dem Tatgeschehen
mit lauten Vorwürfen betreffend anonyme, angeblich von einer gewissen
Z. stammende Telefonanrufe aus dem Schlaf gerissen worden. Da seine Frau
mit diesen Vorwürfen trotz mehrmaliger Aufforderung nicht habe aufhören
wollen, habe er - um sie zu beeindrucken und zur Ruhe zu bringen -
nach dem Revolver im Nachttisch gegriffen, der dort aufbewahrt worden
sei, damit sich seine Ehefrau in seiner Abwesenheit nötigenfalls hätte
schützen können; im Hotel A. sei nämlich zwischen 1978 und 1984 rund 12mal
eingebrochen worden. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung habe er
sich mit dem Revolver in der gesenkten rechten Hand seiner Frau genähert
und sie in den Polsterstuhl gestossen. Im anschliessenden Handgemenge
habe er von seiner Gattin mit dem rechten Fuss einen Stoss in die Höhe
des Beckens erhalten und sei deshalb nach vorne gestrauchelt. Dabei
müsse er mit dem Finger an den Abzug des Revolvers geraten sein, der,
was er in seinem halbschlafähnlichen Zustand nicht realisiert habe,
bereits gespannt gewesen sei. Durch den dadurch ausgelösten Schuss wurde
seine Frau am Kopf tödlich getroffen.

    B.- Die Staatsanwaltschaft stellte vor dem Kantonsgericht
den Antrag, X. sei wegen Totschlags mit zwei Jahren Gefängnis zu
bestrafen. X. beantragte seine Verurteilung zu einer bedingten
dreimonatigen Haftstrafe wegen fahrlässiger Tötung. Mit Entscheid
vom 15. Juli/20. August 1987 sprach das Kantonsgericht Obwalden X. der
Gefährdung des Lebens mit Todesfolge (Art. 129 Abs. 3 StGB) schuldig und
verurteilte ihn zu einer Zuchthausstrafe von fünf Jahren. Am 26. November
1987 verurteilte das Obergericht des Kantons Obwalden X. in teilweiser
Gutheissung seiner Appellation und Abweisung der Anschlussappellation
der Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung zu 18 Monaten Gefängnis,
bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von fünf Jahren.

    C.- Die Staatsanwaltschaft Obwalden führt eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der Entscheid des Obergerichts
sei aufzuheben und die Sache sei zur neuen Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Sie macht geltend, das Obergericht habe die
Gewissenlosigkeit im Sinne von Art. 129 StGB zu Unrecht verneint.

    X. beantragt in seiner Vernehmlassung die Abweisung der
Nichtigkeitsbeschwerde.

    D.- Die Obergerichtskommission des Kantons Obwalden wies am 1. Juli
1988 die von der Staatsanwaltschaft gegen den Entscheid des Obergerichts
erhobene kantonale Nichtigkeitsbeschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 129 Abs. 1 StGB wird wegen Gefährdung des Lebens mit
Zuchthaus bis zu drei Jahren oder mit Gefängnis nicht unter einem Monat
bestraft, wer einen Menschen wissentlich und gewissenlos in unmittelbare
Lebensgefahr bringt. Hat die Tat den Tod zur Folge gehabt, so wird der
Täter mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft (Abs. 3).

    a) Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht vor, es habe bei
der Beantwortung der Frage nach der Gewissenlosigkeit des Verhaltens
des Beschwerdegegners der diesem zugebilligten - unbestrittenen -
Verminderung der Zurechnungsfähigkeit eine Bedeutung beigemessen, die ihr
nicht zukommen könne. Ob ein Täter gewissenlos im Sinne von Art. 129 StGB
handelt oder nicht, ist nach den Ausführungen in der Nichtigkeitsbeschwerde
"wohl bezogen auf den konkreten Einzelfall zu beurteilen, bemisst sich
dabei jedoch nach einem objektiven Massstab"; zu entscheiden ist nach
der Meinung der Beschwerdeführerin die Frage, ob "ein gewissenhafter
Mensch in gleicher Situation ebenso handeln (würde) oder nicht". Die
Staatsanwaltschaft sieht eine Verletzung von Bundesrecht darin, dass das
Obergericht aus der Verminderung der Zurechnungsfähigkeit auf das Fehlen
von Gewissenlosigkeit geschlossen habe. Sie geht zwar selber davon aus,
"dass Gewissenlosigkeit desto weniger angenommen werden kann, je stärker
die Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit ist"; sie ist aber der
Meinung, dass "einem gewissenhaften Menschen selbst bei in mittlerem
Grade verminderter Zurechnungsfähigkeit die krasse Ungehörigkeit seines
Verhaltens bewusst sein" kann und es in der Regel auch sein wird, "wenn die
von ihm geschaffene Gefahr derart offenbar ist wie im vorliegenden Fall".
Nach Meinung der Staatsanwaltschaft war sich der Beschwerdegegner, zumal
er ein "im Umgang mit Waffen geübter Schütze" ist, trotz Verminderung
der Zurechnungsfähigkeit in mittlerem Grade der "Verwerflichkeit seines
Verhaltens bzw. des dadurch bewirkten Gefahrenzustandes bewusst", und
muss es daher "als gewissenlos bezeichnet werden, dass er davor nicht
zurückgeschreckt ist".

    b) Der Beschwerdegegner befand sich im Zeitpunkt der Tat schon seit
einigen Tagen in einer Stresssituation; am 30. Oktober 1985 hatte ein
Arzt in Bern einen physischen Erschöpfungszustand festgestellt. Der
Beschwerdegegner war kurz vor der Tat von seiner Ehefrau mit Vorwürfen
betreffend anonyme Anrufe aus dem Schlaf gerissen worden und befand
sich im Moment der Auseinandersetzung in einem "halbschlafähnlichen
Zustand". Er stand zudem unter dem Einfluss von Alkohol (1,23 Gew.-%o)
und von Medikamenten (Halcion und Lexotanil). Das Obergericht billigte
dem Beschwerdegegner unter Berücksichtigung dieser Umstände entgegen den
Annahmen in der Nichtigkeitsbeschwerde nicht nur eine Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit "in mittlerem Grade", sondern eine "erhebliche"
Verminderung der Zurechnungsfähigkeit zu. Es vertrat entgegen den
Andeutungen in der Beschwerde nicht die Auffassung, dass jede rechtlich
erhebliche Verminderung der Zurechnungsfähigkeit zwangsläufig die
Gewissenlosigkeit im Sinne von Art. 129 StGB ausschliesse; es hielt
vielmehr fest, "je grösser" die Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit
sei, "desto weniger" könne Gewissenlosigkeit angenommen werden, und es
vertrat damit die gleiche Meinung wie die Beschwerdeführerin.

    Die Tatsachen, dass der Beschwerdegegner im Zeitpunkt der Tat unter
dem Einfluss von Alkohol und Medikamenten stand, kurz zuvor von seiner
Ehefrau mit Vorwürfen betreffend anonyme Anrufe aus dem Schlaf gerissen
worden war und sich schon seit einigen Tagen in einer Stresssituation
befand, gehören zur konkreten Tatsituation, welche nach der insoweit
übereinstimmenden und zutreffenden Auffassung der Beschwerdeführerin und
der Vorinstanz bei der Beantwortung der Frage, ob der Beschwerdegegner im
Sinne von Art. 129 StGB gewissenlos handelte, mitzuberücksichtigen ist. Die
Tatsachen, welche eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit bewirken,
können auch für die Beantwortung der Frage nach der Gewissenlosigkeit
von Bedeutung sein; insoweit kann, verkürzt dargestellt, die Zubilligung
einer erheblichen Verminderung der Zurechnungsfähigkeit "gleichsam"
zur Verneinung der Gewissenlosigkeit führen. Dabei besteht allerdings
entgegen einigen missverständlichen Erwägungen im angefochtenen Entscheid
zwischen der Zubilligung erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit und
der Verneinung der Gewissenlosigkeit nicht ein rechtlicher Zusammenhang,
da die einzig das Mass des Verschuldens berührende Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit als solche die Tatbestandsmässigkeit des Verhaltens
nicht auszuschliessen vermag; es kann aber ein "faktischer" Zusammenhang in
dem Sinne vorliegen, als dieselben zur Tatsituation gehörenden Tatsachen
sowohl zur Zubilligung verminderter Zurechnungsfähigkeit als auch zur
Verneinung der Gewissenlosigkeit führen können.

Erwägung 2

    2.- a) Das Merkmal der Gewissenlosigkeit soll den Anwendungsbereich
von Art. 129 StGB auf ein vernünftiges Mass beschränken. Nicht jede
vorsätzliche unmittelbare Lebensgefährdung soll strafbar sein, sondern nur
jene, welche das sittliche Empfinden schwer beleidigt (STOOSS, Thyrènes
Präventionstheorie und der schwedische Strafgesetzentwurf, ZStrR 31/1918,
S. 33; MAX WILLFRATT, Gefährdung des Lebens nach Art. 129 StGB, ZStrR
84/1968, S. 261; MAX FRÖHLICH, Das allgemeine Lebensgefährdungsdelikt
..., Diss. BE 1944, S. 65). Gewissenlos ist eine Handlung dann, wenn
sie allgemein vom Standpunkt der Ethik aus missbilligt werden muss
(THORMANN/VON OVERBECK, N 6 zu Art. 129), mit dem öffentlichen Gewissen
nicht zu vereinbaren ist (FRÖHLICH, op.cit., S. 89/90), den anerkannten
Grundsätzen von Sitte und Moral zuwiderläuft (WILLFRATT, op.cit., S. 261
unten). Massgebend sind somit nicht das individuelle Gewissen bzw. die
Sitten- und Moralvorstellungen des Täters im Zeitpunkt der Tat, sondern
die allgemein anerkannten Grundsätze von Sitte und Moral. Zu entscheiden
ist, ob das Verhalten des Täters, das eine unmittelbare Lebensgefährdung
zur Folge hatte, angesichts des Tatmittels (siehe BGE 107 IV 166) und
der Tatmotive (BGE 100 IV 218, 94 IV 65 E. 4) unter Berücksichtigung der
konkreten Tatsituation gemessen an den allgemein anerkannten Grundsätzen
von Sitte und Moral als gewissenlos erscheint.

    b) Der Beschwerdegegner nahm die geladene Schusswaffe zur Hand,
um damit seine Gattin, die ihn mit Vorwürfen betreffend anonyme Anrufe
überhäufte, zu beeindrucken und auf diese Weise zur Ruhe zu bringen. Es
ist an sich einfühlbar, dass der Beschwerdegegner, der unter dem Einfluss
von Alkohol und Medikamenten stand, aus dem Schlaf gerissen worden war und
sich schon seit einigen Tagen in einer Stresssituation befand, sich diese
Vorwürfe seiner Ehefrau zu nächtlicher Stunde nicht anhören wollte; das
Tatmotiv ist insoweit nicht sittlich zu missbilligen, allerdings auch nicht
achtenswert. Das Tatmittel, die Behändigung einer geladenen Schusswaffe,
mit welcher sich der physisch und psychisch angeschlagene Beschwerdegegner
in ein Handgemenge mit seiner Gattin einliess, ist aber gemessen an den
allgemeinen Grundsätzen von Sitte und Moral derart krass sittenwidrig,
dass das Verhalten des Beschwerdegegners auch unter Berücksichtigung des
in der konkreten Tatsituation noch einfühlbaren Tatmotivs als gewissenlos
im Sinne von Art. 129 StGB erscheint.

    c) Die Vorinstanz geht ebenfalls davon aus, dass eine Handlung
dann im Sinne von Art. 129 StGB gewissenlos ist, wenn zwischen ihr
und den "ethischen Wertmassstäben" eine "Diskrepanz" besteht. Der
Begriff der Gewissenlosigkeit enthält ihres Erachtens, wie der
Begriff der Zurechnungsfähigkeit, sowohl ein kognitives als auch ein
voluntatives Element. Die Vorinstanz verneint im vorliegenden Fall die
Gewissenlosigkeit im wesentlichen mit der Begründung, der Beschwerdegegner
habe in seinem Zustand die Diskrepanz zwischen seiner Handlung und den
ethischen Wertmassstäben nicht erkennen bzw. nicht entsprechend einer
solchen Erkenntnis handeln können. Dieser Betrachtungsweise kann nicht
gefolgt werden. Eine Handlung ist nach dem Gesagten gewissenlos, wenn sie
angesichts des Tatmittels und des Tatmotivs unter Berücksichtigung der
Tatsituation den allgemein anerkannten Grundsätzen von Sitte und Moral
zuwiderläuft. Ob der Täter die Gewissenlosigkeit seiner Handlung erkennen
bzw. dieser Erkenntnis gemäss handeln konnte, ist unerheblich. Die
Situation des Täters ist lediglich insoweit von Bedeutung, als sie
vom Richter bei der ethischen Bewertung der inkriminierten Handlung
mitzuberücksichtigen ist. Erscheint dem Richter die Handlung unter
Berücksichtigung aller relevanten Umstände, zu denen auch die Situation des
Täters gehört, als ethisch verwerflich, dann ist die Gewissenlosigkeit
gegeben, auch wenn der Täter aus irgendwelchen Gründen nicht fähig
gewesen sein sollte, die ethische Verwerflichkeit seiner Handlung zu
erkennen bzw. gemäss einer solchen Erkenntnis von der Handlung Abstand
zu nehmen. Es genügt, dass der Täter die Umstände kannte, derentwegen die
inkriminierte Handlung gemessen an den allgemein anerkannten Grundsätzen
von Sitte und Moral als gewissenlos erscheint. Das war vorliegend der Fall;
der Beschwerdegegner wusste, dass und zu welchem Zweck er eine geladene
Schusswaffe zur Hand nahm, mit welcher er sich in eine Auseinandersetzung
mit seiner Ehefrau einliess.

    d) Die weitere Feststellung des Obergerichts, der Beschwerdegegner
sei in seinem Zustand "nicht in der Lage (gewesen), das Gefahrenpotential
seines Revolvers und damit die Folge des Umstandes, dass er sich mit
einer Waffe in ein Handgemenge einliess, zu erkennen", betrifft nicht
die Gewissenlosigkeit, sondern die Frage, ob der Beschwerdegegner die im
angefochtenen Entscheid bejahte unmittelbare Lebensgefahr im Sinne von
Art. 129 StGB "wissentlich" geschaffen habe.

    e) Da der Beschwerdegegner somit im Sinne von Art. 129 StGB
gewissenlos handelte, ist die Sache in Gutheissung der eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft zur neuen Entscheidung
an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird zu prüfen haben, ob auch
die übrigen Tatbestandsmerkmale von Art. 129 StGB erfüllt sind, und sich
insbesondere mit der im angefochtenen Urteil nicht im einzelnen erörterten
Frage befassen müssen, ob der Beschwerdegegner seine Ehefrau wissentlich
in unmittelbare Lebensgefahr gebracht habe.