Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 II 183



114 II 183

31. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 7. Juni 1988 i.S. Banco
Nacional de Cuba gegen Banco Central de Chile (Berufung) Regeste

    Art. 43 Abs. 1 OG. Einrede der Rechtshängigkeit.
Berufungsfähigkeit. Kognition des Bundesgerichts. Arrestprosequierung.

    Berufungsfähigkeit eines kantonalen Entscheides über die Einrede
der Rechtshängigkeit der gleichen Sache vor einem ausländischen Gericht
unabhängig davon, ob die Einrede gutgeheissen oder abgewiesen worden
ist (Änderung der Rechtsprechung) (E. 2a). Freie Überprüfung der
Anspruchsidentität (E. 2a und c). Ist ungewiss, ob das ausländische
Verfahren zu einem in der Schweiz vollstreckbaren Sachurteil
führen wird, so hat der schweizerische Richter zwischen der Gefahr
widersprüchlicher Urteile und der Gefährdung des Rechtsschutzanspruches
abzuwägen. Freie Überprüfung dieser Abwägung. Anwendung auf den Fall
einer Arrestprosequierung (E. 2b und c).

Sachverhalt

    A.- In Prosequierung eines in Zürich erwirkten Arrestes klagte
die Zentralbank von Chile am 20. Juli 1981 beim Handelsgericht des
Kantons Zürich gegen die Nationalbank von Kuba auf Zahlung einer von der
kubanischen Regierung aus politischen Gründen gesperrten Summe von Fr.
30'752'000.-- nebst Zins. Da die Klägerin bereits am 3. Juli 1979 beim
London High Court of Justice, Queen's Bench Division, auf Herausgabe des
Geldes geklagt hatte, erhob die Beklagte in ihrer Klageantwort im Zürcher
Prozess die Einrede der Rechtshängigkeit und verlangte die Sistierung des
Verfahrens. Das Handelsgericht schränkte das Verfahren auf diese beiden
Fragen ein und sah einstweilen von einem weiteren Schriftenwechsel ab. Mit
Beschluss vom 2. Dezember 1985 verwarf es die Einrede der Rechtshängigkeit
und stellte die Fortsetzung des Verfahrens in Aussicht. Die Beklagte hat
gegen diesen Beschluss Berufung eingereicht, die das Bundesgericht abweist.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Zu untersuchen ist sodann, ob und inwieweit die Verwerfung der
Einrede der Rechtshängigkeit Bundesrecht verletzt (Art. 43 Abs. 1 OG).

    Ist im Ausland beim zuständigen Gericht ein Prozess über einen
identischen Anspruch hängig, so schützt der Zürcher Richter die vom
Beklagten erhobene Einrede der Rechtshängigkeit, wenn das ausländische
Urteil in der Schweiz anerkannt und vollstreckt wird; das setzt
vorbehältlich anderslautender Staatsverträge, an denen es zwischen
der Schweiz und England fehlt, voraus, dass das ausländische Urteil im
Urteilsstaat vollstreckbar ist, nicht gegen den schweizerischen ordre
public verstösst und - was im Verhältnis zu England zutrifft - Gegenrecht
gehalten wird (§§ 107, 302 i.V.m. 191 Abs. 3 ZPO/ZH; STRÄULI/MESSMER,
Kommentar, 2. A. 1982, N. 10 zu § 107 ZPO/ZH).

    Nach dem angefochtenen Beschluss sind sich die Parteien über die
Identität der vor dem englischen und dem schweizerischen Gericht streitigen
Ansprüche einig; ungewiss sei hingegen die Vereinbarkeit mit dem ordre
public und die Vollstreckbarkeit in England. Würde dort die Klage gestützt
auf das kubanische Gesetz Nr. 1256, das die Befriedigung chilenischer
Ansprüche verbiete, abgewiesen, so läge ein eklatant gegen schweizerische
Rechtsauffassungen verstossendes Urteil ohne Aussicht auf Anerkennung
in der Schweiz vor. Hinsichtlich der Vollstreckbarkeit eines die Klage
schützenden Urteils in England müsse auf Grund des vom Gericht eingeholten
Gutachtens Sinclair aller Voraussicht nach damit gerechnet werden, dass
diese Voraussetzung nach dem anwendbaren Common Law an Kubas staatlicher
Immunität scheitern würde. Im übrigen lasse sich nach dem Gutachten nicht
voraussagen, ob das Gericht trotz Einlassung der Beklagten das Verfahren
auf Grund des englischen Prozessrechts doch noch einstellen werde.

    Obwohl die Beklagte kubanisches Recht für anwendbar hält, rechnet sie
mit der Möglichkeit, dass der eingeklagte Anspruch nach Bundeszivilrecht
beurteilt wird, das diesfalls durch die Verwerfung der Einrede verletzt
sei, weil die unbesehene Übernahme der Gutachtermeinung Sinclair,
der die Vollstreckbarkeit des zu erwartenden englischen Urteils zu
Unrecht verneine, gegen den aus Art. 63 OG fliessenden Grundsatz der
richterlichen Rechtsanwendung von Amtes wegen verstosse. Dieser Grundsatz
gelte auch für ausländisches Recht jedenfalls dann, wenn dieses als
Vorfrage zur Beurteilung eines bundesrechtlichen Anspruchs herangezogen
werden müsse. Indem sich das Handelsgericht weder mit den Einwendungen
der Beklagten gegen das Gutachten auseinandergesetzt noch - mangels
Parteiantrags - von Amtes wegen ein Obergutachten eingeholt habe, sei
sodann der aus Art. 8 ZGB hergeleitete Beweisführungsanspruch verletzt.
Bundesrechtswidrig sei schliesslich die verfrühte und unzutreffende
Berufung auf den ordre public.

    a) Gemäss bisheriger Rechtsprechung gehört die Einrede der
Rechtshängigkeit grundsätzlich dem kantonalen Prozessrecht an, das der
Überprüfung im Berufungsverfahren entzogen ist (Art. 55 Abs. 1 lit. c
OG); nach Bundesrecht beurteilt sich jedoch, ob zwei konkurrierende
Verfahren identische, materiell im Bundesrecht begründete Ansprüche der
gleichen Prozessparteien zum Gegenstand haben (BGE 105 II 231 E. 1a mit
Hinweisen; zur Identität vgl. auch BGE 112 II 272 E. 1b mit Hinweis;
STRÄULI/MESSMER, aaO N. 7 und 15 zu § 107 ZPO/ZH). Gleich wie die
Einrede der abgeurteilten Sache soll diejenige der Rechtshängigkeit das
Zustandekommen widersprüchlicher Urteile über den gleichen Streitgegenstand
verhindern (BGE 105 II 231 E. 1a mit Hinweis; GULDENER, Schweizerisches
Zivilprozessrecht, 3. A. 1979, S. 239; derselbe in ZSR 80/1961 II S. 30;
HABSCHEID, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht,
S. 176 N. 479 f.; STRÄULI/MESSMER, aaO N. 7 zu § 107 ZPO/ZH). Soweit es
einen bundesrechtlichen Anspruch vor einem widersprüchlichen Urteil
zu schützen gilt, muss Bundesrecht auch darüber befinden, ob und
inwieweit es die Einrede der Rechtshängigkeit zulassen will (vgl. KUMMER,
Grundriss, 4. A. 1984, S. 111 und HABSCHEID, aaO S. 176 N. 480 sowie für
Direktprozesse Art. 22 BZP). Dieses Bedürfnis besteht aber grundsätzlich
unbekümmert darum, ob ein erstes Urteil bereits vorliegt, oder ob auch das
erste Verfahren über identische Ansprüche noch hängig ist. Es rechtfertigt
sich deshalb, die Rechtsprechung zur Einrede der Rechtshängigkeit an die
mit BGE 95 II 639 Nr. 86 zur Einrede der abgeurteilten Sache eingeleitete
Rechtsprechung anzugleichen, nach der Bundesrecht sowohl bei Gutheissung
wie bei Verwerfung dieser Einrede verletzt sein kann (BGE 110 II 356 E. 1c,
105 II 231 E. 1a).

    Das hat ungeachtet des Vorliegens staatsvertraglicher Abmachungen zu
gelten. Ist die Anerkennung ausländischer Urteile vertraglich geregelt
oder verlangt ein Staatsvertrag gar ausdrücklich, hängige ausländische
Verfahren zu berücksichtigen, so ist die Rechtshängigkeit im Ausland
schon nach bisheriger Rechtsprechung eine Frage des Bundesrechts (BGE
105 II 231).

    b) Anlass zu Schutz vor widersprüchlichen Urteilen über denselben
Streitgegenstand besteht allerdings nur, wenn das ausländische
Verfahren geeignet ist, ein rechtskräftiges und vollstreckbares Urteil
herbeizuführen; die Rechtshängigkeit im Ausland wird im Hinblick auf die
Anerkennung des Urteils in der Schweiz berücksichtigt (BGE 105 II 232 E. 1a
a.E.; GULDENER, Das internationale und interkantonale Zivilprozessrecht
der Schweiz, S. 175; GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, S. 239;
HABSCHEID, aaO S. 179 N. 486; VOGEL, Grundriss des Zivilprozessrechts,
S. 151 N. 42; STRÄULI/MESSMER, aaO N. 10 zu § 107 ZPO/ZH, N. 1 und 11 zu §
302 ZPO/ZH).

    Ist bei einem im Ausland hängigen Verfahren ungewiss, ob es zu einem
in der Schweiz vollstreckbaren Sachentscheid führt, muss sorgfältig
zwischen der Gefahr widersprüchlicher Urteile und der Gefahr abgewogen
werden, dass dem Ansprecher der vom Bundesrecht gebotene Rechtsschutz
versagt bleibt, den das in der Schweiz angehobene zweite Verfahren zu
gewährleisten vermöchte. Das Ergebnis dieser Abwägung bestimmt, ob die in
der Schweiz angehobene Klage zuzulassen oder zurückzuweisen ist oder ob
das Verfahren sistiert wird (HABSCHEID, aaO S. 179 N. 486); gleichzeitige
Prozessführung im In- und Ausland ist nicht schlechthin ausgeschlossen
(GULDENER, Internationales Zivilprozessrecht, S. 176).

    Hat das in der Schweiz eingeleitete Verfahren einen raschen
Rechtsschutz zu gewährleisten, wird bei der Abwägung die Gefahr der
Schutzlosigkeit des Ansprechers besonders ins Gewicht fallen. So steht
bei der Arrestprosequierung die rasche Sicherung gefährdeter Ansprüche
im Vordergrund, was sich bereits aus der zehntägigen Frist des Art. 278
Abs. 2 SchKG ergibt, innert welcher der Gläubiger zur Erhaltung des
Arrestes handeln muss. Tritt der schweizerische Richter auf eine
Arrestprosequierungsklage wegen eines im Ausland hängigen Prozesses
nicht ein und führt dieses Verfahren später nicht zu einem in der Schweiz
anerkennbaren und vollstreckbaren Urteil, so fällt der Arrest und damit
ein bundesrechtlicher Schutzanspruch dahin, obwohl der Arrestgläubiger
alles getan hat, was er tun konnte. Der schweizerische Richter darf in
einem solchen Fall den Rechtsschutz nur verweigern, wenn im Ausland mit
hinreichender Gewissheit ein vollstreckbares Urteil zu erwarten ist. Das
setzt eine entsprechend klare Rechtslage voraus.

    c) Das Bundesgericht tritt somit auf eine Berufung gegen einen
kantonalen Entscheid ein, mit dem die Einrede der Rechtshängigkeit
gutgeheissen oder verworfen wird. Mit freier Kognition prüft es zunächst
die vorliegend allerdings nicht streitige Frage, ob der Streitgegenstand
des ausländischen mit demjenigen des inländischen Verfahrens identisch
ist. An der Identität ändert die vorliegende Arrestprosequierungsklage
nichts, hat sie doch eine materiellrechtliche Forderung zum Gegenstand
(AMONN, Grundriss SchKG, 4. A. 1988, S. 414, N. 74; FRITZSCHE,
Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. II, 2. A. 1968, S. 237); ob auf diese
Forderung schweizerisches Recht anzuwenden ist, wird der Sachrichter
zu entscheiden haben. Ebenfalls freier Kognition unterliegt sodann die
Rechtsfrage der Abwägung zwischen der Gefahr widersprüchlicher Urteile
und der Gefahr, den Ansprecher durch Nichteintreten des bundesrechtlichen
Schutzes zu berauben.

    Im Berufungsverfahren, vorbehältlich der Ausnahmen von Art. 63
Abs. 2/64 OG, nicht zu überprüfen sind hingegen der vom Handelsgericht
festgestellte Sachverhalt (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG) und die von der
Beklagten mehrmals gerügte Verletzung des aus Art. 4 BV abgeleiteten
Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 43 Abs. 1 2. Satz OG). Der
Überprüfung entzogen ist im Berufungsverfahren der angefochtene
Beschluss auch insoweit, als das Handelsgericht auf ausländisches Recht
abstellt (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG); eine berufungsfähige Anwendung von
ausländischem Recht als schweizerischem Ersatzrecht steht hier nicht in
Frage (BGE 92 II 118 ff. E. I 3-7). Die Rüge der Verletzung von Art. 63 OG
erweist sich insoweit als gegenstandslos und verkennt im übrigen, dass die
Vorinstanz bloss die zur Wahrung des schweizerischen Rechtsschutzanspruchs
erforderliche Prognose darüber zu stellen hatte, ob ein vollstreckbares
englisches Urteil mit ausreichender Gewissheit zu erwarten sei. Nicht
berufungsfähig ist schliesslich die Anwendung kantonalen Prozessrechts
(Art. 55 Abs. 1 lit. c OG); das Bundesrecht sieht vorbehältlich der
Garantie des Wohnsitzrichters (Art. 59 BV) für die Prosequierung eines
in der Schweiz erwirkten Arrestes keinen zwingenden Gerichtsstand am
Arrestort vor (FRITZSCHE, aaO S. 238) und lässt auch die Beurteilung
durch ein Schiedsgericht (BGE 101 III 62 f. E. 2) oder einen ausländischen
Gerichtsstand zu, sofern das dort eingeleitete Verfahren zu einem in der
Schweiz vollstreckbaren Urteil führen kann (BGE 106 III 94 E. 2a).