Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IA 84



114 Ia 84

13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 20. April 1988 i.S. S. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht
(I. Strafkammer) des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 5 Ziff. 4 EMRK; Anspruch auf Replik im Haftentlassungsverfahren.

    Der Beschuldigte hat Anspruch darauf, sich im Verfahren, in dem über
sein Haftentlassungsgesuch entschieden wird, zu einer Vernehmlassung der
Strafverfolgungsbehörde zu äussern. Dieser Anspruch besteht unbekümmert
darum, ob die Stellungnahme der Behörde neue Argumente enthält oder nicht.

Sachverhalt

    A.- S. befindet sich seit längerer Zeit im Kanton Zürich in Haft. Am
29. Januar 1987 erhob die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen
S. wegen verschiedener Delikte Anklage. Die I. Strafkammer des Obergerichts
des Kantons Zürich führte am 14. Januar 1988 die Hauptverhandlung durch;
wegen Fernbleibens des Angeklagten S. verschob sie die Beratung.

    Am 12. Februar 1988 ersuchte S. um Entlassung aus der Haft. Das
Obergericht holte von der Staatsanwaltschaft eine Stellungnahme ein. Mit
Beschluss vom 24. März 1988 wies die I. Strafkammer des Obergerichts
das Haftentlassungsgesuch ab.

    Gegen diesen Entscheid reichte S. beim Bundesgericht staatsrechtliche
Beschwerde ein und beantragt dessen Aufhebung. Gestützt auf das
verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit sowie Art. 5 Ziff. 3 und
Ziff. 4 EMRK rügt er zum einen die Aufrechterhaltung der Haft und die Dauer
des Haftentlassungsverfahrens. Im Eventualstandpunkt macht er zum andern
geltend, es verstosse gegen Art. 4 BV und Art. 5 Ziff. 4 EMRK, dass er zur
Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft nicht habe Stellung nehmen können.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde im Eventualpunkt gut, ohne
zu den andern Rügen Stellung zu nehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- (...) Den Eventualantrag, die Sache sei an das Obergericht zur
neuen Beurteilung zurückzuweisen, begründet der Beschwerdeführer damit,
die kantonale Instanz habe seinen Anspruch auf ein kontradiktorisches
Verfahren (Art. 5 Ziff. 4 EMRK) sowie denjenigen auf rechtliches Gehör
(Art. 4 BV) verletzt, weil sie ihm keine Gelegenheit gegeben habe, zur
Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft Stellung zu nehmen. Diese formelle
Rüge ist vorab zu behandeln, denn sollte sie sich als begründet erweisen,
so müsste der angefochtene Entscheid aufgehoben werden, ohne dass auf
die anderen Vorwürfe einzugehen wäre.

Erwägung 3

    3.- Gemäss Art. 5 Ziff. 4 EMRK hat jedermann, dem seine Freiheit durch
Festnahme oder Haft entzogen wird, das Recht, ein Verfahren zu beantragen,
in dem von einem Gericht raschmöglichst über die Rechtmässigkeit der
Haft entschieden und im Falle der Widerrechtlichkeit seine Entlassung
angeordnet wird. Der Beschwerdeführer macht geltend, aufgrund dieser
Vorschrift habe er einen Anspruch darauf gehabt, zur Vernehmlassung
der Staatsanwaltschaft vom 4. März 1988 "in einer schriftlichen oder
mündlichen Replik" Stellung zu nehmen, und zwar unbekümmert darum,
ob der Staatsanwalt in seiner Antwort zum Haftentlassungsgesuch neue
Tatsachen oder auch nur Argumente vorgebracht habe, zu denen er - der
Beschwerdeführer - sich noch nicht habe äussern können. Dies ergebe sich
aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom
21. Oktober 1986 i.S. Sanchez-Reisse gegen die Schweiz. Die kantonale
Instanz habe demnach Art. 5 Ziff. 4 EMRK verletzt, indem sie ihm kein
Replikrecht zur Vernehmlassung des Staatsanwaltes eingeräumt, sondern
ihm diese erst mit dem angefochtenen Entscheid zugestellt habe.

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im erwähnten
Urteil vom 21. Oktober 1986 festgestellt, die Schweiz habe Art. 5
Ziff. 4 EMRK verletzt, weil über ein Haftentlassungsgesuch in einem
Verfahren entschieden worden sei, das dem von der EMRK geforderten
Mass an kontradiktorischer Ausgestaltung nicht entsprochen habe (Urteil
Sanchez-Reisse, Publications de la Cour européenne des droits de l'homme,
Série A, vol. 107, S. 19 Ziff. 51, S. 20 Ziff. 52 u. S. 23). Dem Urteil
lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der argentinische Staatsangehörige
Sanchez-Reisse war im März 1981 in der Schweiz auf ein Ersuchen der
Republik Argentinien hin in Auslieferungshaft genommen worden. Er wandte
sich im Januar und Mai 1982 mit Haftentlassungsbegehren an das Bundesamt
für Polizeiwesen (BAP). Dieses leitete die Gesuche an das Bundesgericht
zum Entscheid weiter. Im einen Fall nahm das BAP zum Gesuch unaufgefordert
Stellung, im anderen erstattete es eine Vernehmlassung. Das Bundesgericht
wies die Begehren ab, ohne dass es zuvor dem Gesuchsteller Sanchez-Reisse
die Stellungnahmen des BAP zur Replik unterbreitet hatte. Der Europäische
Gerichtshof erachtete ein solches Vorgehen als mit Art. 5 Ziff. 4 EMRK
unvereinbar. Er führte aus, aufgrund dieser Vorschrift habe Sanchez-Reisse
einen Anspruch auf ein kontradiktorisches Verfahren gehabt, und um dieser
Verfahrensgarantie zu entsprechen, hätte dem Gesuchsteller Gelegenheit
gegeben werden müssen, zu den Vernehmlassungen des BAP Stellung zu nehmen,
sei es mündlich an einer Verhandlung, sei es durch eine schriftliche
Eingabe. Wohl habe Sanchez-Reisse bereits in seinen Haftentlassungsbegehren
dargelegt, aus welchen Gründen er die Freilassung verlange. Damit sei
aber dem Erfordernis der Waffengleichheit nicht ausreichend Rechnung
getragen worden, denn das BAP habe in seiner Stellungnahme tatsächliche
oder rechtliche Argumente vorbringen können, die "Reaktionen, Kritik
oder sogar Fragen" des Gesuchstellers hätten auslösen können, und mit
Rücksicht darauf wäre es nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK notwendig gewesen,
ihm ein Replikrecht einzuräumen (Urteil Sanchez-Reisse, S. 19 Ziff. 51).

    Wie der Beschwerdeführer zutreffend ausführt, ergibt sich aus
diesen Erwägungen des Europäischen Gerichtshofes, dass die EMRK dem
Angeschuldigten im Verfahren betreffend Prüfung eines Gesuches um
Entlassung aus der Untersuchungs-, Sicherheits- oder Auslieferungshaft
ein weitergehendes Replikrecht einräumt, als ihm aufgrund von Art. 4
BV gewährt wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu dieser
Verfassungsbestimmung besteht ein Anspruch auf Replik nur dann, wenn
die Strafverfolgungsbehörde in ihrer Vernehmlassung neue erhebliche
Gesichtspunkte geltend macht, zu denen der Angeschuldigte noch keine
Stellung nehmen konnte (BGE 111 Ia 3 mit Hinweisen). Demgegenüber
muss ihm aufgrund von Art. 5 Ziff. 4 EMRK nach dem erwähnten Urteil
des Europäischen Gerichtshofes Gelegenheit gegeben werden, zu jeder
Vernehmlassung zu replizieren, unbekümmert darum, ob die Behörde neue
Tatsachen vorbrachte oder nicht (vgl. dazu die abweichenden Meinungen der
beiden in der Minderheit gebliebenen Richter, Frau Bindschedler-Robert
und Herr Pinheiro Farinha, Urteil Sanchez-Reisse, S. 24-26). Wenn aus
dieser Vorschrift ein solcher allgemein geltender Anspruch auf Replik im
Haftprüfungsverfahren abgeleitet wird, könnte das zu einer Verzögerung des
Verfahrens führen und somit dem in der gleichen Vorschrift garantierten
Anspruch auf einen möglichst raschen Entscheid widersprechen (vgl. das
Votum der Richterin Frau Bindschedler-Robert, Urteil Sanchez-Reisse,
S. 24 f.). Der Europäische Gerichtshof war sich hierüber im klaren. Er
hat das in Kauf genommen und im dargelegten Sinn entschieden.

    Das Bundesgericht erachtet es als geboten, dieser sehr strengen
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu
folgen. Das bedeutet für den zu beurteilenden Fall, dass das Obergericht
dem Beschwerdeführer hätte Gelegenheit geben müssen, zur Vernehmlassung
der Staatsanwaltschaft vom 4. März 1988 Stellung zu nehmen. Weil es
das unterliess, hat es das dem Beschwerdeführer aufgrund von Art. 5
Ziff. 4 EMRK zustehende Replikrecht verletzt. Bei dieser Sachlage
braucht nicht geprüft zu werden, ob der Beschwerdeführer auch nach
Art. 4 BV Anspruch auf Replik gehabt hätte, was er behauptet, indem er
geltend macht, in der Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft seien neue
Elemente angeführt worden. Die staatsrechtliche Beschwerde ist wegen des
erwähnten Verfahrensmangels gutzuheissen und der angefochtene Beschluss
des Obergerichts vom 24. März 1988 aufzuheben, unbekümmert darum, ob das
Gericht nach Gewährung des Replikrechts zu einem andern Ergebnis kommt.