Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IA 168



114 Ia 168

26. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 29.
Januar 1988 i.S. Gemeinde Gaiserwald gegen Genossenschaft Migros St. Gallen
und Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Gemeindeautonomie.

    1. Voraussetzungen, unter denen sich eine Gemeinde im Verfahren der
staatsrechtlichen Beschwerde auf ihre Autonomie berufen kann (E. 2).

    2. Die sanktgallischen Gemeinden besitzen im Sachbereich der
Vergnügungssteuer, soweit es um die Festlegung des Gegenstandes der
Vergnügungssteuer geht, keine Autonomie (E. 3).

    3. Voraussetzungen, unter denen eine Gemeinde sonst staatsrechtliche
Beschwerde führen kann (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Die Genossenschaft Migros St. Gallen betreibt in Abtwil in der
politischen Gemeinde Gaiserwald auf einem Gelände von über 60 000 m2 das
Freizeit- und Einkaufszentrum Säntispark. Das Zentrum umfasst Bäder und
Freiluftanlagen, eine Spiel- und Sporthalle, Verkaufsläden, Restaurants
sowie ein Hotel.

    Am 20. August 1985 ersuchte die Genossenschaft Migros den Gemeinderat
Gaiserwald um eine rekursfähige Verfügung über die Vergnügungssteuerpflicht
der Anlagen des Säntispark. In seinem Beschluss vom 22. Mai 1986 beurteilte
der Gemeinderat Gaiserwald als vergnügungssteuerpflichtig den gesamten
Bäderteil, in der Spiel- und Sporthalle die Bowlingpisten, die Kegelbahnen,
die Bocciabahnen, die Minigolf-Anlage sowie die Variothek und auf dem
Spielplatz die gegen Entgelt benützbaren Einrichtungen.

    Einen dagegen eingereichten Rekurs hiess die
Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom
27. Oktober 1986 teilweise gut. Die Rekurskommission verneinte die
Steuerpflicht für die Bowlingpisten, die Kegel- und Bocciabahnen sowie
für das Blockhaus auf dem Spielplatz.

    Sowohl die Gemeinde Gaiserwald als auch die Genossenschaft Migros
erhoben gegen diesen Entscheid Beschwerde beim Verwaltungsgericht
des Kantons St. Gallen. Mit Entscheid vom 26. März 1987 hiess das
Verwaltungsgericht die Beschwerde der Genossenschaft Migros gut und hob den
Entscheid der Verwaltungsrekurskommission auf. Die Beschwerde der Gemeinde
Gaiserwald ist, nach den Akten zu schliessen, beim Verwaltungsgericht
noch hängig.

    Gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom
26. März 1987 führt die Gemeinde Gaiserwald fristgerecht staatsrechtliche
Beschwerde an das Bundesgericht. Sie beantragt:

    "Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom

    26. März sei aufzuheben;
   unter Kosten- und Entschädigungsfolge."

    In der Begründung beruft sie sich auf ihre Gemeindeautonomie und macht
eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Rechtsanwendung geltend.

    Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen beantragt in seiner
Vernehmlassung die Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde. Die
Genossenschaft Migros stellt den Antrag, die Beschwerde abzuweisen,
soweit darauf eingetreten werde, unter Kosten- und Entschädigungsfolge
zu Lasten der Beschwerdeführerin.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Eine Gemeinde ist in einem Sachbereich autonom, wenn das
kantonale Recht diesen Bereich nicht abschliessend ordnet, sondern ihn
ganz oder teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei eine
erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt (BGE 110 Ia 199 E. 2 mit Hinweis;
111 Ia 331 E. 2; 112 Ia 63 E. 3a, 342 E. 2). Ist diese Voraussetzung
erfüllt, so kann sich die Gemeinde mit staatsrechtlicher Beschwerde dagegen
zur Wehr setzen, dass die kantonale Behörde im Rechtsmittelverfahren
ihre Prüfungsbefugnis überschreitet oder dass sie bei der Anwendung
der kommunalen, kantonalen oder bundesrechtlichen Vorschriften, die den
betreffenden Sachbereich ordnen, gegen das Willkürverbot verstösst oder,
soweit kantonales oder eidgenössisches Verfassungsrecht in Frage steht,
dieses unrichtig auslegt oder anwendet (BGE 112 Ia 63 E. 3a, 270 E. 2a,
282 E. 3a, 342 E. 2 mit Hinweisen).

    Eine Gemeinde kann sich somit im Rahmen der Autonomiebeschwerde
zwar nicht auf die Verletzung in verfassungsmässigen Rechten der Bürger
berufen. Sie kann jedoch geltend machen, die kantonalen Instanzen hätten
zugunsten der Gegenpartei ein Grundrecht allzu weit ausgelegt oder zu ihrem
Nachteil einen Verfassungsgrundsatz verletzt und damit ihre Autonomie in
unzulässiger Weise eingeschränkt (BGE 112 Ia 63 E. 3a; 110 Ia 200 E. 3b mit
Hinweisen). In diesem Fall steht ihr auch die Beschwerde wegen Verletzung
von Art. 4 BV zu, aber nur dann, wenn sie sich im Zusammenhang damit auf
eine Verletzung in ihrer Autonomie berufen kann (BGE 112 Ia 269 E. 1a;
110 Ia 51 E. 4a).

    b) Ob und inwieweit eine Gemeinde in einem bestimmten Bereich autonom
ist, richtet sich nach kantonalem Verfassungs- und Gesetzesrecht; teilweise
werden auch ungeschriebene und historisch gewachsene Autonomiebereiche
anerkannt (GIACOMETTI, Staatsrecht der schweizerischen Kantone,
S. 76). Das Bundesgericht prüft auf staatsrechtliche Beschwerde hin
die Anwendung dieses kantonalen Rechts frei, soweit es sich um Normen
auf Verfassungsebene handelt; bei gesetzlichen Vorschriften erfolgt die
Überprüfung hingegen nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür
(BGE 112 Ia 342 E. 2 mit Hinweisen).

Erwägung 3

    3.- a) Die Beschwerdeführerin macht - unter Berufung auf Art.
4 des Gemeindegesetzes des Kantons St. Gallen vom 23. August 1979 -
geltend, bei der Anwendung der Vorschriften über die Vergnügungssteuer,
insbesondere bei der Anwendung von Art. 189 des Steuergesetzes des
Kantons St. Gallen vom 23. Juni 1970 (StG), bestehe für die Gemeinden
eine erhebliche Entscheidungsfreiheit. Die Vergnügungssteuer sei eine
Gemeindesteuer und falle in die kommunale Abgabehoheit (Art. 165 lit. e
StG). Ihr Vollzug könne von der Gemeinde durch kommunale Vorschriften
näher geregelt werden (Art. 193 Abs. 3 StG). Der Gemeinderat entscheide
Streitigkeiten über die Steuerpflicht, die Pflichten des Veranstalters
sowie die Steuerberechnung und regle den Steuerbezug (Art. 193 Abs. 2
bzw. Abs. 1 StG). Ins Gewicht falle sodann, dass Art. 189 dem Gemeinderat
im Rahmen der Feststellung der Steuerpflicht einen Beurteilungsspielraum
einräume, weil die entscheidenden Tatbestandselemente ((Vergnügen" und
"Unterhaltung" unbestimmte Rechtsbegriffe seien.

    b) Die Beschwerdeführerin stützt die von ihr beanspruchte Autonomie im
Sachbereich der Vergnügungssteuer nicht auf Verfassungsbestimmungen. Die
Kantonsverfassung (KV) garantiert ihr in diesem Bereich auch keine
Autonomie; vielmehr liegt das Steuerwesen in der Gesetzgebungskompetenz
des Grossen Rates (Art. 55 Ziff. 7 KV).

    c) Nach Art. 4 des Gemeindegesetzes sind die sanktgallischen
Gemeinden autonom, soweit die Gesetzgebung ihre Entscheidungsfreiheit
nicht einschränkt (Abs. 1). In der Rechtssetzung haben die Gemeinden
Entscheidungsfreiheit, wenn die Gesetzgebung keine abschliessende Regelung
trifft oder die Gemeinde ausdrücklich zur Rechtssetzung ermächtigt
(Art. 4 Abs. 2 Gemeindegesetz).

    Das kantonale Steuergesetz regelt u.a. auch die Gemeindesteuern
(Art. 1 lit. d StG). Es bestimmt in Art. 165 StG, welche Steuern
von den politischen Gemeinden erhoben werden. Darunter fällt auch
die Vergnügungssteuer (Art. 165 lit. d StG). Die in Art. 165 StG
enthaltene Aufzählung muss als abschliessende Regelung angesehen
werden. Die Gemeinden dürfen weder auf die Erhebung der in Art. 165 StG
aufgezählten Steuern verzichten, noch von sich aus andere Gemeindesteuern
einführen. Die Gemeinden des Kantons St. Gallen haben folglich keine
eigene, sondern nur eine abgeleitete Steuerhoheit; sie steht ihnen
nicht kraft ihrer Autonomie, sondern kraft gesetzlicher Ermächtigung zu
(vgl. WEIDMANN/GROSSMANN/ZIGERLIG, Wegweiser durch das st. gallische
Steuerrecht, S. 15).

    d) Es bleibt zu prüfen, ob den Gemeinden im Sachbereich der
Vergnügungssteuer aufgrund der im Steuergesetz enthaltenen Regelung ein
Autonomiebereich zusteht.

    Materieller Streitgegenstand ist die Frage, welche
Einrichtungen des Freizeitzentrums Säntispark als Gegenstand der
Vergnügungssteuer in Betracht zu ziehen sind. In Art. 189 StG werden die
vergnügungssteuerpflichtigen Veranstaltungen umschrieben; in Art. 190
StG sind die steuerbefreiten Veranstaltungen aufgeführt. Diese Regelung
lässt den Gemeinden hinsichtlich des Gegenstandes der Vergnügungssteuer
keine Entscheidungsfreiheit. Zwar handelt es sich bei der in Art. 189
Abs. 1 StG verwendeten Formulierung "Veranstaltungen, die dem Vergnügen
und der Unterhaltung dienen" um einen auslegungsbedürftigen, mithin
unbestimmten Rechtsbegriff; eine Autonomie im Sinne eines selbständigen
Beurteilungsspielraums wird dadurch allerdings nicht geschaffen. Die
erwähnten unbestimmten Begriffe gehören dem kantonalen Recht an;
sie werden auch durch das kantonale Recht aufgrund einer Reihe
von in Art. 189 Abs. 2 lit. a-e und Art. 190 lit. a-d aufgeführten
Veranstaltungen konkretisiert. Aus Gründen der rechtsgleichen Behandlung
der Steuerpflichtigen hat der Kanton zudem ein Interesse daran, dass
die kantonalrechtlich geregelte Vergnügungssteuer im ganzen Kanton
einheitlich gehandhabt wird. Besondere örtliche Verhältnisse, die
einen Entscheidungsfreiraum der Gemeinde rechtfertigen könnten, sind
im Falle der Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe im Bereiche der
Vergnügungssteuer nicht zu berücksichtigen. Unter diesen Umständen bleibt
kein Raum für einen Autonomiebereich der Gemeinden - zumindest nicht,
soweit es darum geht, den Gegenstand der Vergnügungssteuer festzulegen.

    Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass gemäss Art. 193
Abs. 3 StG der Gemeinderat ermächtigt wird, Vollzugsvorschriften
zu erlassen. Ob sich diese Ermächtigung auf den Erlass von
Verfahrensvorschriften beschränkt, wie aus der Marginalie und dem übrigen
Inhalt des Art. 193 StG geschlossen werden könnte, braucht nicht weiter
geprüft zu werden. Es erscheint ausgeschlossen, dass der Gemeinderat
aufgrund der Ermächtigung zum Erlass von Vollzugsvorschriften das im
kantonalen Steuergesetz umschriebene Steuerobjekt oder den Kreis der
Steuerpflichtigen erweitern oder beschränken darf.

    e) Die Beschwerde wegen Verletzung der Gemeindeautonomie ist daher
abzuweisen, weil die Beschwerdeführerin im streitigen Bereich keine
Autonomie geniesst.

    In ihrer Begründung weist die Beschwerdeführerin schliesslich
darauf hin, dass für sie der Entscheid über die Steuerpflicht der
Beschwerdegegnerin von grosser finanzieller Tragweite sei. Sie beruft sich
indessen nicht auf die Bestandesgarantie (vgl. BGE 110 Ia 50 f.). Damit
entfällt eine Prüfung der staatsrechtlichen Beschwerde unter diesem
Gesichtspunkt.

Erwägung 4

    4.- Die Beschwerdeführerin erhebt die Rügen der willkürlichen
Sachverhaltsfeststellung und der willkürlichen Rechtsanwendung einzig
im Zusammenhang mit der - zu Unrecht - behaupteten Verletzung in ihrer
Autonomie. Sie erhebt sie mit Recht nicht als selbständige Rügen,
weil sie dazu nach ständiger Rechtsprechung nicht berechtigt wäre. Die
staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von verfassungsmässigen
Rechten steht grundsätzlich nur den Privaten gegenüber dem Staate
zu. Öffentlichrechtliche Korporationen wie die Gemeinden können -
von der Verletzung in ihrer Autonomie abgesehen - nur ausnahmsweise
wegen Verletzung in verfassungsmässigen Rechten Beschwerde führen -
nämlich in den Fällen, wo sie nicht hoheitlich handeln, sondern sich
auf dem Boden des Privatrechts bewegen und vom angefochtenen Entscheid
in gleicher Weise wie ein Privater betroffen sind (BGE 112 Ia 62 E. 1b,
363 E. 5a mit Hinweisen). Wo sie gegenüber den Steuerpflichtigen ihre
Gemeindesteuerhoheit geltend machen, sind sie nicht in dieser Lage. Sie
müssen sich mit einem für sie ungünstigen Entscheid abfinden.