Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 114 IA 143



114 Ia 143

23. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 22. Juni 1988 i.S. S. gegen Gerichtspräsident von Seftigen und
Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Personalunion von
Strafmandatsrichter und Sachrichter.

    1. Tragweite des Anspruchs auf den verfassungsmässigen Richter,
insbesondere einen unparteiischen, unbefangenen und unvoreingenommenen
Richter (E. 3).

    2. Der bernische Strafrichter erscheint nicht wegen der vorgängig
vorgenommenen Eröffnung der Strafverfolgung und Überweisung an den
Einzelrichter als voreingenommen (E. 5).

    3. Der bernische Strafrichter, der vorgängig ein Strafmandat erlassen
hat, genügt den Anforderungen von Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1
EMRK nicht (E. 7).

Sachverhalt

    A.- Gegen das Ehepaar S. wurde wegen Missachtung eines allgemeinen
Fahrverbots Anzeige erstattet. Der Untersuchungsrichter von Seftigen
eröffnete die gerichtliche Strafverfolgung am 27. Mai 1986 durch die
Überweisung an ihn als Einzelrichter. Als Gerichtspräsident von Seftigen
verurteilte er Herrn und Frau S. mit Strafmandat vom 2. Juni 1986 zu
einer Busse von je Fr. 20.-- und zur Übernahme der Gerichtskosten.

    Die Gebüssten erhoben gegen das Strafmandat Einspruch. Darauf hat
sie der Gerichtspräsident einvernommen, eine gekürzte Voruntersuchung
eingeleitet und verschiedene Beweismassnahmen vorgenommen. Am 2. April
1986 erachtete er die gekürzte Voruntersuchung als vollständig und überwies
die Beschuldigten (erneut) dem Einzelrichter.

    In der Folge lehnten die Beschuldigten den Gerichtspräsidenten als
befangen ab. Mit Beschluss vom 24. April 1987 wies die Anklagekammer des
Obergerichts des Kantons Bern das Ablehnungsgesuch ab.

    Gegen diesen Entscheid der Anklagekammer reichten Herr und Frau S. beim
Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde ein. Sie rügen in verschiedener
Hinsicht eine Verletzung von Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Es steht im vorliegenden Fall ausser Zweifel, dass Art. 58
Abs. 1 BV auf das Verfahren vor dem Einzelrichter von Seftigen, in dem über
die Einsprache gegen das Strafmandat zu befinden ist, Anwendung findet
und es sich um eine Strafsache im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK handelt
(vgl. BGE 114 Ia 53 E. 3a; 112 Ia 292 E. 2b; EuGRZ 1986 S. 671 E. b,
mit Hinweisen).

    b) Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK räumen dem
Einzelnen u.a. den Anspruch darauf ein, dass seine Sache von einem
unvoreingenommenen, unparteiischen und unbefangenen Richter beurteilt
wird. Damit soll garantiert werden, dass keine Umstände, welche ausserhalb
des Prozesses liegen, in sachwidriger Weise zugunsten oder zulasten einer
Partei auf das Urteil einwirken; es soll verhindert werden, dass jemand
als Richter tätig wird, der unter solchen Einflüssen steht und deshalb
kein "rechter Mittler" mehr sein kann. Voreingenommenheit in diesem
Sinne ist nach der Rechtsprechung anzunehmen, wenn Umstände vorliegen,
die geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Richters zu
erwecken. Solche Umstände können entweder in einem bestimmten Verhalten
des betreffenden Richters oder in gewissen äussern Gegebenheiten, wozu auch
funktionelle oder organisatorische Aspekte gehören, begründet sein. Für die
Ablehnung eines Richters braucht nicht nachgewiesen zu werden, dass dieser
tatsächlich befangen ist. Es genügt vielmehr, wenn Umstände vorliegen,
die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit
zu begründen vermögen. Bei der Beurteilung des Anscheins der Befangenheit
und der Gewichtung solcher Umstände kann nach der Rechtsprechung nicht auf
das subjektive Empfinden einer Partei abgestellt werden; das Misstrauen
in die Unvoreingenommenheit muss vielmehr in objektiver Weise begründet
erscheinen. Angesichts der Bedeutung von Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6
Ziff. 1 EMRK in einem demokratischen Rechtsstaat lässt sich eine einengende
Auslegung dieser Verfassungs- und Konventionsgarantien nicht vertreten
(BGE 114 Ia 53 ff. E. 3b und c; 112 Ia 292 E. 3; EuGRZ 1986 S. 670 E.
3, mit Hinweisen). Schliesslich hat das Bundesgericht darauf hingewiesen,
dass die Möglichkeit, das Urteil bei einer ordentlichen Rechtsmittelinstanz
anzufechten, am allfälligen Mangel in der Besetzung der Richterbank nichts
zu ändern vermöge; der Anspruch auf einen unvoreingenommenen Richter
muss vielmehr auch für das erstinstanzliche ordentliche Verfahren gelten
(BGE 114 Ia 60 E. 3d; 113 Ia 75 f.; 112 Ia 302 E. b; EuGRZ 1986 S. 674,
mit Hinweisen).

    c) Eine gewisse Besorgnis der Voreingenommenheit und damit Misstrauen
in das Gericht kann bei den Parteien immer dann entstehen, wenn der Richter
bereits in einem früheren Zeitpunkt in amtlicher (richterlicher oder
nichtrichterlicher) Funktion mit der konkreten Streitsache schon einmal
zu tun hatte. Das Bundesgericht hat zu solchen, als sog. Vorbefassung
bezeichneten Fällen in Urteilen vom 16. März 1988 Stellung genommen
(BGE 114 Ia 57 E. 3d, 114 Ia 139).

    Es hat darin allgemein ausgeführt, es könne nicht generell gesagt
werden, ob eine sog. Vorbefassung unter dem Gesichtswinkel von Verfassung
und Konvention zulässig oder aber unzulässig sei und in welchen Fällen dies
zutreffe. Es hat aber darauf hingewiesen, dass das Verfahren in bezug auf
den konkreten Sachverhalt und die konkret zu entscheidenden Rechtsfragen
trotz der Vorbefassung als offen erscheinen müsse und nicht den Anschein
der Vorbestimmtheit erwecken dürfe. Hierfür möge darauf abgestellt werden,
unter welchen tatsächlichen und verfahrensrechtlichen Umständen sich der
Richter im früheren Zeitpunkt mit der Sache befasste bzw. sich später zu
befassen hat. Es könne in Betracht fallen, welche Fragen in den beiden
Verfahrensabschnitten zu entscheiden sind und inwiefern sie sich ähnlich
sind oder miteinander zusammenhängen. Zu beachten sei ferner der Umfang
des Entscheidungsspielraums bei der Beurteilung der sich in den beiden
Abschnitten stellenden Fragen und die Bedeutung der Entscheidungen
auf den Fortgang des Verfahrens (BGE 114 Ia 57 E. d). So erachtete es
das Bundesgericht in bezug auf die Verfahrensordnung im Kanton Zürich
unter dem Gesichtswinkel von Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK
als unzulässig, dass der erstinstanzliche Richter des Obergerichts
des Kantons Zürich in der Sache selbst urteilt, nachdem er vorher als
Mitglied der Anklagekammer die Anklage zugelassen und die Strafsache dem
zuständigen Gericht überwiesen hatte (BGE 114 Ia 67 ff. E. 5b und c). In
bezug auf das bernische Strafverfahren (StrV) beurteilte es die Frage,
ob Mitglieder der Anklagekammer des Obergerichts, welche über den Umfang
der Überweisung entschieden (Art. 185 Abs. 2 und Art. 193 ff. StrV), im
Appellationsverfahren als Strafrichter amten dürfen (BGE 114 Ia 140 E. 4).

Erwägung 4

    4.- a) Die Beschwerdeführer stellen die Unbefangenheit des
Gerichtspräsidenten von Seftigen in verschiedener Hinsicht in Frage. Sie
machen zwar nicht geltend, er sei wegen eines bestimmten Verhaltens
tatsächlich befangen. Doch rügen sie, er sei wegen früheren Amtshandlungen
und somit aus funktionellen oder organisatorischen Gründen nicht mehr
unvoreingenommen.

    Aus den Urteilen vom 16. März 1988 geht hervor, dass für die
Beurteilung der Unbefangenheit eines Richters, der in der gleichen Sache
bereits vorher Entscheidungen getroffen hat, auf die tatsächlichen und
verfahrensrechtlichen Umstände und die konkret zu entscheidenden Fragen
abzustellen ist. Im Hinblick auf die Rügen der Beschwerdeführer gilt es
daher vorerst, das Verfahren kurz darzustellen.

    b) Nach Art. 80 StrV bewirkt der Eingang einer Strafanzeige
beim Untersuchungsrichter die Rechtshängigkeit der Strafsache. Der
Untersuchungsrichter hat danach aufgrund von Art. 82 StrV zu prüfen,
ob die zur Anzeige gebrachten Handlungen mit Strafe bedroht sind und
ob die gesetzlichen Voraussetzungen der Strafverfolgung vorliegen. In
bezug auf die Strafdrohung untersucht er dabei die Strafbarkeit der zur
Anzeige gebrachten Handlung lediglich nach dem Geschehnis, wie es in der
Strafanzeige dargestellt ist. Er ist nicht befugt, Erhebungen darüber
anzustellen, ob sich der Sachverhalt wirklich so zugetragen hat und ob die
angezeigte Person die strafbare Handlung überhaupt begangen haben könnte
und demnach schuldverdächtig sei (MAX WAIBLINGER, Das Strafverfahren des
Kantons Bern, N. 1 zu Art. 82, N. 1 zu Art. 86; vgl. GERARD PIQUEREZ,
Traité de procédure pénale bernoise et jurassienne, Neuchâtel 1983, Band I,
S. 335 f. und N. 490). Hinsichtlich der gesetzlichen Voraussetzungen der
Strafverfolgung prüft er die Prozessvoraussetzungen wie etwa die örtliche
Zuständigkeit, die Zuständigkeit der ordentlichen Strafverfolgungsbehörden,
formrichtiger und rechtzeitiger Strafantrag, die Voraussetzung des
Grundsatzes ne bis in idem oder die Frage der Verjährung (WAIBLINGER,
aaO, N. 2 zu Art. 82; PIQUEREZ, aaO, S. 336 N. 491). Erachtet der
Untersuchungsrichter diese Voraussetzungen als nicht erfüllt, so beantragt
er nach Art. 84 Abs. 1 StrV, der Anzeige keine Folge zu geben. Sind diese
Voraussetzungen indessen gegeben, so eröffnet er die Strafverfolgung. Dies
geschieht nach Art. 88 Ziff. 1 StrV in den Fällen, die in die Zuständigkeit
des Geschworenengerichts oder des Amtsgerichts fallen, durch die Einleitung
einer Voruntersuchung. In den übrigen Fällen wird die Strafverfolgung nach
Art. 88 Ziff. 2 StrV durch die Überweisung an den Einzelrichter eröffnet
(F. FALB, Das bernische Strafverfahren, 3. Auflage 1975, S. 293 ff. und
394; JÜRG AESCHLIMANN, Das bernische Strafverfahren, Besonderer Teil I,
Bern 1987, § 84 S. 28 f.).

    Erfolgt in dieser Weise die Überweisung an den Einzelrichter, so stehen
diesem die folgenden Möglichkeiten der Verfahrensfortsetzung offen (FALB,
aaO, S. 395; AESCHLIMANN, aaO, § 151 S. 160): Die Angelegenheit kann
im summarischen Verfahren, umfassend das Strafmandatsverfahren oder das
mündliche Verfahren ohne Hauptverhandlung (Art. 219 und Art. 227 StrV),
weitergeführt werden; der Richter kann eine gekürzte Voruntersuchung
nach Art. 88 Ziff. 2 und Art. 227a StrV anordnen; und schliesslich kann
er die Hauptverhandlung ansetzen.

    Das Strafmandatsverfahren kann wie im vorliegenden Fall zu einem
Strafmandat führen (Art. 219 ff. StrV). Als Sanktion kommt lediglich eine
Busse oder ein Verweis in Frage. Ein Einspruch gegen ein Strafmandat hat
zur Folge, dass der Richter das weitere Verfahren einleitet (Art. 225
Abs. 1 StrV). Er lädt den Angeschuldigten zur ersten Einvernahme nach
Art. 226 Abs. 2 StrV vor oder setzt bereits die Hauptverhandlung an (FALB,
aaO, S. 399; AESCHLIMANN, aaO, S. 165). Stellt sich nach dem Einspruch
gegen ein Strafmandat oder bei der mündlichen Abhörung heraus, dass der
Angeschuldigte wahrscheinlich keine strafbare Handlung begangen hat oder
eine Prozessvoraussetzung fehlt, so kann der Richter vor Einleitung des
weitern Verfahrens eine gekürzte Voruntersuchung im Sinne von Art. 88
Ziff. 2 StrV durchführen (Art. 227a StrV; AESCHLIMANN, aaO, § 159
S. 170). Führt das Verfahren auf diese Weise nicht zu einer Erledigung
des Falles, so setzt der Gerichtspräsident die (Haupt-)Verhandlung an
(Art. 228 Abs. 1 StrV).

Erwägung 5

    5.- Die Beschwerdeführer stellen die Unbefangenheit des
Gerichtspräsidenten von Seftigen in verschiedener Hinsicht in
Frage. Zum einen machen sie geltend, er genüge den Verfassungs- und
Konventionsgarantien daher nicht, weil er als Untersuchungsrichter die
Angelegenheit sich selber als Einzelrichter zur gerichtlichen Beurteilung
überwiesen hatte. Sie beziehen sich hierfür sowohl auf den Beschluss vom
27. Mai 1986 als auch auf jenen vom 2. April 1987.

    a) Die Beschwerdeführer rügen, der Gerichtspräsident erscheine im
Hinblick auf die materielle Beurteilung der Strafsache deshalb nicht
als unbefangen und unvoreingenommen, weil er als Untersuchungsrichter
mit Beschluss vom 27. Mai 1986 die Sache zur gerichtlichen Beurteilung
an sich als Einzelrichter überwiesen hatte. Wie oben dargelegt, hat der
Untersuchungsrichter zu prüfen, ob die zur Anzeige gelangten Handlungen
mit Strafe bedroht sind und die gesetzlichen Voraussetzungen der
Strafverfolgung vorliegen (Art. 82 Abs. 1 StrV). Er stützt seine Prüfung
allein auf die Anzeige. Er untersucht indessen in keiner Weise, ob die
angeschuldigte Person verdächtig sei, die in der Anzeige geschilderten
Handlungen begangen zu haben und demnach schuldig zu sein. Erachtet
der Untersuchungsrichter diese Voraussetzungen als gegeben, hat er die
Strafverfolgung zu eröffnen, was durch die Überweisung an den Einzelrichter
geschieht. Er beurteilt damit in diesem Verfahrensabschnitt keine Fragen,
die in einem engen Zusammenhang mit dem späteren Urteil in der Sache selbst
stehen (vgl. BGE 114 Ia 68 E. bb). Spezielle oder schwierig zu beurteilende
Prozessvoraussetzungen waren im vorliegenden Fall nicht zu prüfen (vgl. BGE
114 Ia 68 E. bb). Bei objektiver Betrachtung kann ihm wegen dieser Prüfung
keine Voreingenommenheit vorgeworfen werden. Das Bundesgericht hat dem
Umstand der Eröffnung der Untersuchung für sich allein genommen kein
Gewicht beigelegt (BGE 112 Ia 300, EuGRZ 1986 S. 674). Die Beschwerdeführer
können aus dem Umstand, dass der Untersuchungsrichter nicht nur die
Strafverfolgung eröffnet, sondern zusätzlich die Sache auch überwiesen hat,
nichts ableiten. Anders als in den am 16. März 1988 beurteilten Fällen
kommt der Überweisung an den Einzelrichter im Hinblick auf den Fortgang
des Verfahrens keine ausschlaggebende Bedeutung zu; die Sache kann nämlich
immer noch im summarischen Verfahren mit einem Strafmandat oder einem
Urteil ohne Hauptverhandlung erledigt oder im Falle der Haltlosigkeit
der Anzeige in einfacher Weise beendet werden.

    Daraus ergibt sich, dass der Einzelrichter nicht wegen der Eröffnung
der gerichtlichen Strafverfolgung und der Überweisung vom 27. Mai 1986 als
befangen im Sinne von Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK erscheint.

    b) Die Beschwerdeführer beziehen sich ferner auf den Beschluss vom
2. April 1987, mit welchem die gekürzte Voruntersuchung geschlossen und
die Angeschuldigten (erneut) dem Einzelrichter überwiesen wurden. In
dieser erneuten Überweisung erblicken die Beschwerdeführer einen weitern
Grund zur Annahme der Voreingenommenheit.

    Für die Beurteilung dieser Rüge ist vorerst die Bedeutung dieses
Überweisungsbeschlusses zu klären. Mit der Eröffnung der Strafverfolgung
nach Art. 86 Abs. 1 StrV und der Überweisung an den Einzelrichter nach
Art. 88 Ziff. 2 StrV geht die Sache an den Gerichtspräsidenten als
Einzelrichter über. Spricht dieser ein Strafmandat aus und wird dagegen
Einspruch erhoben, so ist nicht erneut der Untersuchungsrichter, sondern
weiterhin der Einzelrichter mit der Sache befasst. Der Einspruch hat
lediglich zur Folge, dass der Richter das weitere Verfahren einleitet
(Art. 225 Abs. 1 StrV). Aufgrund der bernischen Verfahrensordnung ist
es nach dem Einspruch denn auch der Einzelrichter, der die Einvernahme
nach Art. 226 Abs. 2 StrV und die gekürzte Voruntersuchung im Sinne von
Art. 227a StrV durchführt. Daraus geht hervor, dass es nach Abschluss der
gekürzten Voruntersuchung keiner neuen Überweisung an den Einzelrichter
bedarf, weil die Sache bereits an ihn überwiesen war (FALB, aaO, S. 295
und S. 410). Es kann daher ohne Willkür angenommen werden, eine erneute
Überweisung habe keine selbständige Bedeutung und es könne ihr lediglich
der Sinn zukommen, dass die gekürzte Voruntersuchung nichts hervorgebracht
hat, was eine höhere Zuständigkeit begründen könnte.

    Bei dieser Sachlage kann nicht gesagt werden, mit dem Beschluss vom
2. April 1987 seien Fragen beantwortet worden, welche der materiellen
Beurteilung ähnlich sind oder mit dieser in einem Zusammenhang stehen. Er
ist auch für den Fortgang des Verfahrens nicht von entscheidender
Bedeutung. Unter diesen Umständen kann der Einzelrichter auch nicht wegen
seines Beschlusses vom 2. April 1987 als voreingenommen im Sinne von
Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK bezeichnet werden. (...)

Erwägung 7

    7.- Die Beschwerdeführer erachten schliesslich den Gerichtspräsidenten
von Seftigen deshalb als voreingenommen im Sinne von Art. 58 Abs. 1 BV
und Art. 6 Ziff. 1 EMRK, weil dieser vorher bereits das Strafmandat gegen
sie erlassen hat.

    a) Das Verfahren des Strafbefehls, der Strafverfügung, des
Strafmandates oder ähnliche Verfahren zeichnen sich im allgemeinen
dadurch aus, dass einerseits eine von der Strafuntersuchung getrennte
materielle Beurteilung fehlt und dass das entsprechende Erkenntnis vom
Untersuchungsrichter oder einer Verwaltungsbehörde ausgeht. Der Strafbefehl
wird rechtskräftig, wenn der Betroffene keine Einsprache einlegt; er
hat ohne weiteres aufgrund einer blossen Einsprache die Möglichkeit, die
Durchführung eines ordentlichen Strafverfahrens zu verlangen (vgl. BGE
112 Ia 302 f., EuGRZ 1986 S. 675 E. f, mit Hinweisen auf Praxis und
Literatur). Der Europäische Gerichtshof hat dazu ausgeführt, im Hinblick
auf die grosse Zahl leichter Zuwiderhandlungen, insbesondere im Bereich des
Strassenverkehrs, könne ein Vertragsstaat gute Gründe dafür haben, seine
Gerichte von der Verfolgung und Ahndung solcher Verstösse zu entlasten. Die
Übertragung dieser Aufgaben auf Verwaltungsbehörden verstosse um so
weniger gegen die Konvention, als der Betroffene wegen jeder so ergangenen
Entscheidung ein Gericht anrufen kann, das die Garantien des Art. 6
EMRK bietet (Urteil i.S. Belilos vom 29. April 1988, Publications de
la Cour Européenne des Droits de l'Homme, Série A, Vol. 132, Ziff. 68;
Urteil i.S. Lutz vom 25. August 1987, Série A, Vol. 123, Ziff. 57 =
EuGRZ 1987 S. 399 ff. [S. 402]; Urteil i.S. Oeztürk vom 21. Februar
1984, Série A, Vol. 73, Ziff. 56 = EuGRZ 1985 S. 62 ff. [S. 68]; Urteil
i.S. Deweer vom 27. Februar 1980, Série A, Vol. 35, Ziff. 49 = EuGRZ 1980
S. 667 ff. [S. 672]). In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass ein
solches Verfahren einerseits eine Entlastung der Gerichte mit sich bringt
und dem Betroffenen andererseits die Umtriebe und Peinlichkeiten eines
öffentlichen Verfahrens erspart (vgl. STEFAN TRECHSEL, Die Europäische
Menschenrechtskonvention, ihr Schutz der persönlichen Freiheit und die
schweizerischen Strafprozessrechte, Bern 1984, S. 288; THEO VOGLER, in:
Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention,
N. 241 ff. zu Art. 6; PHILIPPE ABRAVANEL, L'opposition à l'ordonnance
de condamnation en procédure pénale vaudoise, in: JdT 131/1983 III S. 2).

    Das Strafmandatsverfahren nach der bernischen Verfahrensordnung
zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht der Untersuchungsrichter ist,
welcher das Strafmandat erlässt (vgl. TRECHSEL, aaO, S. 290). Eine
Anhörung der Beschuldigten findet nicht statt. Im vorliegenden Fall ist die
Zulässigkeit des Strafmandates vom 2. Juni 1986 nicht in Frage gestellt
(vgl. zur Zulässigkeit des Strafmandates und ähnlicher Verfahren BGE 112
Ia 302 f., EuGRZ 1986 S. 675 E. f, mit Hinweisen auf die Judikatur und
Literatur). Im vorliegenden Fall ist es ausschliesslich von Bedeutung im
Hinblick auf die Frage, ob der Strafmandatsrichter unter dem Gesichtswinkel
von Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK die Einsprache selber
behandeln und das ordentliche Verfahren durchführen dürfe.

    b) Im Hinblick auf die Rüge der Beschwerdeführer ist vorerst zu
untersuchen, welche Fragen im Strafmandatsverfahren einerseits und im
darauffolgenden Einsprache- bzw. Hauptverfahren andererseits geprüft
werden. Im Strafmandatsverfahren prüft der Richter die Begründetheit
der Strafanzeige und beurteilt die Strafsache materiell. Es endet mit
einer Verurteilung zu einer Busse oder einem Verweis. Das Strafmandat
hat für den Verurteilten die Bedeutung eines Urteils, und es sind denn
darin u.a. auch die Angeschuldigten, die Bezeichnung der strafbaren
Handlung mit Angabe des Zeitpunkts und des Ortes der Widerhandlung,
die angewandten Gesetzesbestimmungen und die Sanktion zu nennen
(Art. 220 StrV; AESCHLIMANN, aaO, § 153 S. 162). Auf Einspruch hin ist
die Strafsache erneut zu prüfen, und es ist zu beurteilen, ob sich der
Beklagte der vorgeworfenen Handlung tatsächlich schuldig gemacht hat und
welche Sanktion auszufällen ist. Damit ist in beiden Verfahren dieselbe
materielle Frage zu untersuchen. Daran ändert der Umstand nichts,
dass im Stadium des Strafmandates der Schuldvorwurf nur beschränkt
geprüft wird und insbesondere keine Beweiserhebungen erfolgen und
eine Einvernahme des Angeschuldigten unterbleibt (vgl. BGE 114 Ia 67
E. aa und bb). Urteilt dieselbe Person vorerst als Strafmandatsrichter
und hernach als Einzelrichter über die Strafsache, so erscheint das
Verfahren materiell trotz hernach erfolgter Beweiserhebungen nicht mehr
als hinreichend offen. Es kann aus objektiver Sicht mit Grund befürchtet
werden, der Einzelrichter habe sich im Strafmandatsverfahren bereits in
einem Ausmasse eine Meinung über die Sache gebildet, die ihn an einer
vorurteilslosen Beweiswürdigung und unvoreingenommenen Überprüfung seines
eigenen Entscheides hindert und ihn deshalb im Hinblick auf die neu zu
treffende Entscheidung nicht mehr als unbefangen erscheinen lässt.

    Dem Strafmandatsrichter kommt ein breiter Entscheidungsspielraum zu. Er
kann nicht nur ein Strafmandat erlassen, sondern nach der Überweisung
ebensosehr entweder die Einstellung beantragen oder aber das weitere
Verfahren einleiten. Zudem misst er die Art und Höhe der Sanktion zu. Es
kann auch nicht gesagt werden, aus der Sicht des Verfahrensfortganges
komme dem Strafmandat keine wesentliche Bedeutung zu. Das Strafmandat
schliesst das Verfahren vielmehr ab und wirkt für den Betroffenen wie
ein Urteil, das mangels eines Einspruches in Rechtskraft erwächst und
vollstreckt werden kann (Art. 224 StrV). Der Einspruch kann wegen
der Besonderheit des Strafmandatsverfahrens nicht als eigentliches
Rechtsmittel bezeichnet werden, weshalb der Richter nicht schon ohne
weiteres aufgrund von Art. 32 Ziff. 6 StrV abgelehnt werden kann (vgl. für
das eigentliche Rechtsmittelverfahren Art. 22 Abs. 1 lit. b OG sowie BGE
114 Ia 58, mit Hinweisen). Der Betroffene wird den Einspruch aber als
etwas Ähnliches auffassen wie ein Rechtsmittel (vgl. WAIBLINGER, aaO,
N. 1 zu Art. 225). Er kann daher aus berechtigten objektiven Gründen
Misstrauen in die Unvoreingenommenheit des Strafrichters empfinden,
wenn der Strafmandatsrichter das von ihm erlassene Strafmandat selber
überprüfen soll.

    In der Literatur zum summarischen Verfahren wird auf die Problematik
hingewiesen, die sich im Falle einer Einsprache aus der Überprüfung des
Strafmandats durch denselben Richter ergibt. Insbesondere wird ausgeführt,
es falle dem Richter schwer, seinen eigenen Entscheid vorurteilsfrei
nachzuprüfen und die später erbrachten Beweise unvoreingenommen zu
würdigen. Der Fehlbare werde daher wenig Vertrauen in den Einspruch haben
und sich unter Umständen deshalb zu einem Verzicht veranlasst sehen. Aus
diesen Gründen lehnt die Literatur die Überprüfung des Strafmandats im
ordentlichen Verfahren durch denselben Richter mehrheitlich ab (JEAN
GRAVEN, Préface à l'enquête internationale sur la condamnation sans
débats, sowie FRANCOIS CLERC, La procédure simplifiée en Suisse, je in:
Revue internationale de droit pénal, 1962, S. 391 und S. 533 f.; TRECHSEL,
aaO, S. 290 f., mit weitern Hinweisen; MAX HOFSTETTER, Die summarischen
Verfahren vor dem Einzelrichter im Strafverfahren des Kantons Bern,
Diss. Bern 1939, S. 21 f.; anderer Meinung WAIBLINGER, aaO, N. 5 zu
Art. 32).

    Gesamthaft gesehen ergibt sich, dass der Einzelrichter im
Strafmandatsverfahren nicht nur den hinreichenden Tatverdacht prüft
(vgl. BGE 114 Ia 67 E. b), sondern vielmehr beurteilt, ob der Beklagte
die vorgeworfene Widerhandlung begangen hat, und bejahendenfalls
eine Sanktion ausspricht; hernach prüft er auf Einspruch hin und nach
Beweiserhebungen im ordentlichen Verfahren erneut die gleiche Frage und
befindet über Schuld und Strafe. Besteht in beiden Verfahren personelle
Identität des Richters, so erwecken die genannten Umstände die Besorgnis,
dass sich der Einzelrichter im Strafmandatsverfahren bereits eine Meinung
gebildet hat und demnach der Ausgang des Hauptverfahrens vorbestimmt und
somit nicht mehr hinreichend offen ist. Die Besorgnis ist um so grösser,
als es der Einzelrichter und nicht ein Richterkollegium ist, welcher
über den Einspruch befindet (vgl. EuGRZ 1986 S. 674). Wie dargelegt,
ändert daran die Möglichkeit eines ordentlichen Rechtsmittels nichts
(oben E. 3b). Die gesamten Umstände sind von einem derartigen Gewicht,
dass das Misstrauen in die Unbefangenheit des erkennenden Richters nicht
nur aus der Sicht des Angeschuldigten, sondern auch in objektiver Weise
begründet erscheint. Demnach genügt der abgelehnte Gerichtspräsident,
welcher bereits das Strafmandat erlassen hat, den Anforderungen von
Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht.

    Somit erweist sich die vorliegende Beschwerde in diesem Punkte als
begründet und ist wegen Verletzung von Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6
Ziff. 1 EMRK gutzuheissen.