Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 V 54



113 V 54

9. Urteil vom 20. Januar 1987 i.S. S. gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Bern
Regeste

    Art. 36 Abs. 2 UVG und Art. 36 Abs. 3 Satz 1 UVV:
Integritätsentschädigung: Zusammentreffen verschiedener Schadensursachen.

    - Art. 36 Abs. 3 Satz 1 UVV regelt grundsätzlich nur das
Zusammentreffen von Integritätsschäden, die nach dem UVG als solche
versichert sind (Erw. 2).

    - Art. 36 Abs. 2 UVG setzt voraus, dass der Unfall und das nicht
versicherte Ereignis eine bestimmte Schädigung gemeinsam verursacht haben;
die diesbezügliche Praxis zu Art. 91 KUVG gilt auch im Rahmen von Art. 36
Abs. 2 UVG (Erw. 2).

    - Art. 36 Abs. 2 Satz 2 UVG ist im Bereich der
Integritätsentschädigungen nicht anwendbar (Erw. 2).

    Art. 145 UVV: Übergangsrecht bei Berufskrankheiten. Art. 145 UVV
bezweckt einzig, für die Zeit ab 1. Januar 1984 die neue (erweiterte) Liste
gemäss Anhang I zur UVV auch für diejenigen Versicherten als anwendbar
zu erklären, deren Leiden vorher nicht als Berufskrankheit anerkannt
war. Ob diese Versicherten einen Leistungsanspruch besitzen, beurteilt sich
dagegen nach den hiefür massgebenden gesetzlichen Bestimmungen, zu welchen
insbesondere auch die Übergangsnorm des Art. 118 UVG gehört (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Der Versicherte erlitt am 27. Oktober 1979 einen
Motorradunfall. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) kam
für die Behandlung auf, die am 28. Januar 1984 abgeschlossen wurde. Als
Restfolge blieb eine Trigeminusneuropathie links zurück. Im März 1981
meldete er der SUVA einen Gehörschaden, welchen diese als Berufskrankheit
anerkannte. Die SUVA schloss diesen Fall im September 1983 ab.

    Mit Verfügung vom 7. Februar 1984 lehnte die SUVA die Zusprechung
einer Integritätsentschädigung ab. Die Begründung lautete im wesentlichen
dahin, dass die Behandlung des Gehörschadens vor dem 1. Januar 1984
abgeschlossen worden sei, mithin noch unter der Herrschaft des alten Rechts
(KUVG), welches das Institut der Integritätsentschädigung nicht kannte;
Art. 118 Abs. 2 lit. c UVG gelange daher nicht zur Anwendung. Was die
Folgen des Unfalls vom 27. Oktober 1979 angehe, so sei deren Behandlung
zwar erst nach dem 1. Januar 1984 abgeschlossen worden; doch seien die
wegen dieses Unfalls zurückgebliebenen Gesundheitsschäden allein zuwenig
erheblich, als dass sie einen Anspruch auf eine Integritätsentschädigung
auszulösen vermöchten. Auf Einsprache des Versicherten hin anerkannte
die SUVA dann aber, dass die Unfallfolgen eine starke und dauernde
Beeinträchtigung der Integrität bedeuteten, und sprach dem Versicherten
eine Integritätsentschädigung nach Massgabe einer Integritätseinbusse
von 20% zu. Hinsichtlich der für den Gehörschaden verlangten
Integritätsentschädigung beharrte sie jedoch auf ihrem Standpunkt
(Einspracheentscheid vom 22. März 1984).

    B.- Der Versicherte erhob Beschwerde und beantragte, es sei ihm
unter Einbezug des Gehörschadens eine Integritätsentschädigung auf
der Grundlage einer Integritätseinbusse von 30% zuzusprechen. Dabei
anerkannte er, dass die unfallbedingte Integritätseinbusse allein mit 20%
richtig bemessen worden sei. Mit Entscheid vom 18. Januar 1985 wies das
Versicherungsgericht des Kantons Bern die Beschwerde ab.

    C.- Der Versicherte lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen
und seinen im kantonalen Verfahren gestellten Antrag erneuern. Auf die
Begründung wird in den Erwägungen einzugehen sein.

    Die SUVA beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 118 Abs. 1 UVG werden Versicherungsleistungen für
Unfälle, die sich vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes (1. Januar 1984)
ereignet haben, und für Berufskrankheiten, die vor diesem Zeitpunkt
ausgebrochen sind, nach dem bisherigen Recht (KUVG) gewährt. Gemäss
Art. 118 Abs. 2 lit. c UVG gelten jedoch für Versicherte der SUVA
in den in Abs. 1 erwähnten Fällen vom Inkrafttreten dieses Gesetzes
an dessen Bestimmungen unter anderem über die Invalidenrenten und
Integritätsentschädigungen, sofern der Anspruch erst nach dem Inkrafttreten
dieses Gesetzes entsteht.

    b) Erleidet der Versicherte durch den Unfall eine dauernde Schädigung
der körperlichen oder geistigen Integrität, so hat er gemäss Art. 24 Abs. 1
UVG Anspruch auf eine angemessene Integritätsentschädigung. Nach Art. 24
Abs. 2 UVG wird die Entschädigung mit der Invalidenrente festgesetzt oder,
falls kein Rentenanspruch besteht, bei der Beendigung der ärztlichen
Behandlung gewährt.

    c) Strittig ist, ob der Beschwerdeführer wegen des seinerzeit als
Berufskrankheit anerkannten Gehörschadens grundsätzlich Anspruch auf eine
Integritätsentschädigung gemäss Art. 24 UVG hat. Es ist unbestritten, dass
die Behandlung dieses Gehörschadens vor dem 1. Januar 1984 abgeschlossen
wurde, nämlich im September 1983. Gemäss Art. 24 Abs. 2 UVG wäre somit der
Anspruch auf eine Integritätsentschädigung im September 1983 entstanden,
wenn das KUVG diese Leistung vorgesehen hätte. Ein Leistungsanspruch
gemäss Art. 118 Abs. 2 lit. c UVG ist daher nicht gegeben.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer wendet hiegegen ein, die Aufspaltung eines
Integritätsschadens in einen altrechtlichen und einen neurechtlichen
Teil sei unzulässig, und beruft sich hiefür auf Art. 36 Abs. 3 UVV in
Verbindung mit Art. 36 Abs. 2 UVG. Gemäss Art. 36 Abs. 3 Satz 1 UVV ist die
Integritätsentschädigung nach der gesamten Beeinträchtigung festzusetzen,
wenn mehrere körperliche oder geistige Integritätsschäden aus einem
oder mehreren Unfällen zusammenfallen. Nach Art. 36 Abs. 2 UVG werden
Invalidenrenten, Integritätsentschädigungen und Hinterlassenenrenten
angemessen gekürzt, wenn die Gesundheitsschädigung oder der Tod nur
teilweise die Folge eines Unfalles ist (Satz 1); Gesundheitsschädigungen
vor dem Unfall, die zu keiner Verminderung der Erwerbsfähigkeit geführt
haben, werden dabei nicht berücksichtigt (Satz 2). Aus diesen Bestimmungen
schliesst der Beschwerdeführer, bei der Festlegung des Umfangs des
Integritätsschadens seien Beeinträchtigungen aus früheren Unfällen oder
Berufskrankheiten ebenfalls zu berücksichtigen. Wegen unfallfremder bzw.
berufskrankheitsfremder Faktoren dürfte die Integritätsentschädigung
nur dann gekürzt werden, wenn diese vor dem Unfall zu einer Verminderung
der Erwerbsfähigkeit geführt hätten. Umsomehr müsse das gelten, wenn die
Schädigung auf eine anerkannte Berufskrankheit zurückzuführen sei.

    Dieser Betrachtungsweise kann nicht gefolgt werden. Nach dem oben
Gesagten hat der Beschwerdeführer nach Massgabe von Art. 118 Abs. 2 lit. c
UVG für die mit dem Gehörschaden gegebene Integritätseinbusse keinen
Entschädigungsanspruch. Dem ist auch im Rahmen von Art. 36 Abs. 3 Satz 1
UVV Rechnung zu tragen. Diese Verordnungsbestimmung regelt grundsätzlich
nur das Zusammentreffen von Integritätsschäden, die nach dem Gesetz als
solche versichert sind.

    Zu Unrecht beruft sich der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang
auf Art. 36 Abs. 2 UVG. Diese Kürzungsbestimmung setzt voraus,
dass der Unfall und das nicht versicherte Ereignis eine bestimmte
Gesundheitsschädigung gemeinsam verursacht haben. Dagegen ist diese
Bestimmung nicht anwendbar, wenn die beiden Einwirkungen einander nicht
beeinflussende Schäden verursacht haben, so etwa wenn der Unfall und
das nicht versicherte Ereignis verschiedene Körperteile betreffen und
sich damit die Krankheitsbilder nicht überschneiden. Diesfalls sind
die Folgen des versicherten Unfalles für sich allein zu bewerten
(MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 470 f.; zur
gleichlautenden altrechtlichen Praxis zu Art. 91 KUVG siehe BGE 107 V 238
Erw. 3, 105 V 207 Erw. 2, 104 V 161 f. sowie MAURER, Recht und Praxis
der schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, S. 302). Im
vorliegenden Fall können die Krankheitsbilder der Trigeminusneuropathie
und des Gehörschadens klar auseinandergehalten werden, und ebenso
lassen sich die hieraus resultierenden Integritätseinbussen isoliert
würdigen und festlegen. Dementsprechend geht der Beschwerdeführer in
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde selber von zwei getrennt messbaren
Integritätsschäden aus, nämlich der Einbusse von 20% wegen der
Trigeminusneuropathie und 10% wegen des Gehörschadens. Ist Art. 36 Abs. 2
UVG hier nicht anwendbar und lässt sich der nicht versicherte Schaden
ausscheiden, so ist nicht ersichtlich, weshalb von Art. 118 Abs. 2 lit. c
UVG abgewichen werden könnte bzw. ein Schaden mit zu berücksichtigen wäre,
der nach Massgabe von Art. 24 Abs. 2 UVG bereits unter der Herrschaft des
alten Rechts einen Anspruch auf eine Integritätsentschädigung begründet
hätte, wenn das Gesetz diese Leistungskategorie damals schon gekannt hätte.

    Der vom Beschwerdeführer angerufene Satz 2 des Art. 36 Abs. 2 UVG
sodann ist schon deshalb nicht anwendbar, weil dieser gemäss klarem
Wortlaut nur die Renten beschlägt, kann sich doch das dort verwendete
Kriterium der "Erwerbsfähigkeit" lediglich auf die Invalidenrenten
beziehen. Dass das der Wille des Gesetzgebers ist, ergibt sich (entgegen
der Auffassung von MAURER in Unfallversicherungsrecht, S. 470 N. 1228a)
klar aus dem französischen und italienischen Text von Satz 2 des Art. 36
Abs. 2 UVG, in welchem ausdrücklich von den Renten die Rede ist (Toutefois,
en réduisant les rentes, on ne tiendra pas compte des états antérieurs
qui ne portaient pas atteinte à la capacité de gain / Per la riduzione
delle rendite non si terrà tuttavia conto delle affezioni anteriori non
pregiudizievoli alla capacità di guadagno).

Erwägung 3

    3.- Der auf Art. 118 Abs. 1 und Art. 118 Abs. 2 lit. c UVG gestützten
vorinstanzlichen Feststellung, dass keine Integritätsentschädigung
gewährt werden kann, wenn der Anspruch darauf gemäss Art. 24 Abs. 2 UVG
nicht nach dem 1. Januar 1984 entstanden ist, hält der Beschwerdeführer
ferner Art. 145 UVV entgegen. Danach werden für die im Anhang I zur
UVV aufgeführten Krankheiten, die nach der Verordnung vom 17. Dezember
1973 über Berufskrankheiten (AS 1974 47) keinen Anspruch begründeten,
Versicherungsleistungen ab dem Inkrafttreten der UVV ausgerichtet.

    Es ist unbestritten, dass der in Art. 145 UVV normierte
Tatbestand auf den Beschwerdeführer nicht zutrifft, da dieser an einer
Berufskrankheit leidet, die schon unter dem alten Recht versichert
war. Der Beschwerdeführer vertritt jedoch die Auffassung, dass diese
Bestimmung in seinem Fall gleichwohl anwendbar sei, denn wenn nach
Art. 145 UVV für nicht versichert gewesene Berufskrankheiten Leistungen
gewährt würden, so müsse das umsomehr für bereits früher versicherte
Berufskrankheiten gelten; "es wäre doch wohl nicht richtig, diejenigen
Versicherten schlechterzustellen, deren Leiden schon nach altem Recht als
Berufskrankheit anerkannt war". Art. 145 UVV zielt indessen nicht auf eine
Schlechterstellung der Versicherten mit bisher anerkannter Berufskrankheit
ab, sondern bezweckt einzig, für die Zeit ab 1. Januar 1984 die neue
(erweiterte) Liste gemäss Anhang I zur UVV auch für diejenigen Versicherten
als anwendbar zu erklären, deren Leiden vorher nicht als Berufskrankheit
anerkannt war. Mehr als diese Gleichstellung hinsichtlich der Anerkennung
als Berufskrankheit ist nicht gewollt. Ob ein Versicherter, der in den
Genuss der besagten Gleichstellung kommt, infolge seiner Berufskrankheit
Leistungsansprüche besitzt, beurteilt sich dagegen nach den massgeblichen
gesetzlichen Bestimmungen. Dazu gehört vorab die grundlegende Übergangsnorm
des Art. 118 UVG (über den im Rahmen von Art. 145 UVV hinauszugehen der
Bundesrat ohnehin nicht ermächtigt wäre). Demnach kann der in Art. 145
UVV erfasste Versicherte eine Integritätsentschädigung nur erhalten,
wenn der Anspruch darauf nach dem 1. Januar 1984 entstanden ist. Der
Beschwerdeführer beruft sich daher zu Unrecht auf Art. 145 UVV.

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer räumt ein, dass er für seinen Gehörschaden
nie eine Integritätsentschädigung erhalten würde, wenn nicht ein anderes
Ereignis, das zu einer Integritätsentschädigung führt, diesen Anspruch
auslösen würde. Solche Besserstellungen durch ein späteres Ereignis kämen
aber nach dem Gesetz auch sonst immer wieder vor, wie sich das am Beispiel
des Verlusts paariger Organe (Art. 29 Abs. 3 UVV) zeige.

    Auch dieses Argument vermag dem Beschwerdeführer nicht zu
helfen. Zwar ist es richtig, dass der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber
verschiedenenorts für die Versicherten grosszügigere Lösungen getroffen
hat, was in der Hauptsache mit dem Ziele geschah, altrechtliche Mängel
oder Unzulänglichkeiten zu beheben (wie etwa auch mit dem oben bereits
erwähnten, die Invalidenrenten betreffenden Satz 2 des Art. 36 Abs. 2
UVG). Wo indessen solche Neuerungen als notwendig erachtet wurden,
fanden sie ausdrücklichen Eingang in Gesetz oder Verordnung. Es ist nicht
angängig, aus einer allgemeinen Tendenz des Gesetzgebers zur Besserstellung
der Versicherten gegenüber der altrechtlichen Ordnung oder aus spezifischen
Lösungen zu hier nicht in Frage stehenden Problemen für den vorliegenden
Fall eine Regelung abzuleiten, die Art. 118 Abs. 2 lit. c UVG widerspricht.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.