Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 V 296



113 V 296

49. Urteil vom 14. Dezember 1987 i.S. I. gegen Christlichsoziale Kranken-
und Unfallkasse der Schweiz und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
Regeste

    Art. 3 Abs. 3 KUVG: Grundsatz der Gegenseitigkeit. Eine
Statutenbestimmung, welche die vor ihrem Inkrafttreten wiedereingetretenen
Mitglieder gegenüber den erst nach diesem Zeitpunkt wiedereintretenden
Mitgliedern in bezug auf die Zuteilung zu einer Eintrittsaltersgruppe
benachteiligt, verstösst gegen den Grundsatz der Gegenseitigkeit (Erw. 2).

    Art. 6bis Abs. 2 KUVG: Abstufung der Mitgliederbeiträge. Die
Umteilung in eine andere Eintrittsaltersgruppe stellt eine Änderung im
Mitgliedschaftsverhältnis dar. Ein Anspruch auf Umteilung kann mittels
Antrag jederzeit mit Wirkung für die Zukunft geltend gemacht werden
(Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Marlis I. (geb. 1942) war seit 1943 Mitglied der Christlichsozialen
Kranken- und Unfallkasse der Schweiz (CKUS). Im Jahre 1975 schloss sie
sich aus beruflichen Gründen einer andern Kasse an. Am 1. Juli 1976 trat
sie erneut der CKUS bei. Aufgrund der zu jenem Zeitpunkt geltenden Statuten
wurde sie der Beitrittsaltersgruppe B (31. bis vollendetes 40. Altersjahr)
zugeteilt. Auf den 1. Januar 1977 traten verschiedene Statutenänderungen
in Kraft. Art. 73 Ziff. 6 der Kassenstatuten bestimmte nunmehr, dass bei
Wiedereintritt in die Krankenpflege- und Krankengeldversicherung frühere
Mitgliedschaftsjahre der Erwachsenenaltersgruppen angerechnet werden.

    Im Januar 1985 ersuchte Marlis I. die Kasse um Abklärung der Frage,
ob sie unter Anrechnung der früher zurückgelegten Beitragsjahre in die
Altersgruppe A (Eintrittsalter vom 21. bis zum vollendeten 30. Altersjahr)
versetzt werden könne. Am 11. Februar 1985 stellte sie einen entsprechenden
Antrag. Mit Verfügung vom 22. Februar 1985 lehnte die Kasse dieses Gesuch
ab und stellte fest, dass Marlis I. "bei ihrem Wiedereintritt in die Kasse
am 1. Juli 1976 zu Recht der Altersgruppe B (vom 31. bis zum vollendeten
40. Altersjahr) zugeteilt worden" sei. Zur Begründung führte sie aus,
dass die Statutenänderung erst ab dem 1. Januar 1977 in Kraft getreten
sei, weshalb sie nur für Wiedereintritte, die nach diesem Datum erfolgten,
gelte. Selbst wenn die Statutenänderung rückwirkend anwendbar sein sollte,
könnte sich Marlis I. nicht darauf berufen, da sie seit 1977 die nach der
früher geltenden Regelung festgesetzten Beiträge bezahlt und es damit
versäumt habe, der Kasse innert angemessener Frist kundzutun, dass sie
mit dieser Einteilung nicht einverstanden sei.

    B.- Die Versicherte führte hiegegen Beschwerde mit dem Antrag,
die Kasse sei zu verpflichten, sie in die Beitrittsaltersgruppe A
umzuteilen und ihr die seit 1. Januar 1977 zuviel bezahlten Beiträge
zurückzuerstatten. Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern kam im
wesentlichen zum Schluss, Marlis I. habe es bis zu einer Unterredung mit
einem Kassenvertreter Ende 1984 widerspruchslos hingenommen, dass sie nach
Inkrafttreten der Statutenrevision nicht in die Altersgruppe A umgeteilt
worden sei. Erst nach Ablauf von über acht Jahren habe sie eine Abklärung
der Altersgruppeneinteilung veranlasst. Diese Zeitspanne liege nicht mehr
im Rahmen einer den Umständen angemessenen Überlegungs- und Prüfungsfrist,
innert welcher ein Versicherter das Vorgehen der Verwaltung anfechten
könne. Es müsse daher angenommen werden, dass Marlis I. die Einteilung
in die Altersgruppe B gebilligt habe. Mit dieser Begründung wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern die Beschwerde am 1. April 1986 ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Marlis I. das
vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuern.

    Während die Kasse auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung, in
teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei die Kasse
zu verpflichten, die Versicherte mit Wirkung ab Februar 1985 in die
Altersgruppe A umzuteilen, eventuell unter Rückerstattung der zuviel
bezahlten Beiträge im Rahmen der fünfjährigen Verjährungsfrist.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtet sich gegen eine
Verfügung, welche in Anwendung eines Tarifs im Einzelfall ergangen ist;
Art. 129 Abs. 1 lit. b OG steht der Verwaltungsgerichtsbeschwerde darum
nicht entgegen.)

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 6bis Abs. 2 KUVG sind die Kassen berechtigt, die
Mitgliederbeiträge nach Eintrittsalter, Geschlecht und örtlich bedingten
Kostenunterschieden abzustufen. Der auf 1. Januar 1977 in Kraft getretene
neue Art. 73 Ziff. 6 der Statuten der Beschwerdegegnerin bestimmt, dass das
erwachsene Mitglied während der ganzen Dauer der Mitgliedschaft, sofern
diese nicht unterbrochen wurde, die der Einteilung nach Altersgruppen
entsprechenden Beiträge zu entrichten hat. Bei Wiedereintritt werden in der
Krankenpflege- und Krankengeldversicherung frühere Mitgliedschaftsjahre
der Erwachsenenaltersgruppen angerechnet. Diese neue Regelung
enthält in zeitlicher Hinsicht keine Schranken. Es fehlt auch eine
Übergangsbestimmung. Eine gesetzeskonforme Auslegung führt jedoch zum
Schluss, dass die auf 1. Januar 1977 geänderte Regelung nur dahingehend
verstanden werden kann, dass sie sich auch auf Versicherte bezieht, die vor
deren Inkrafttreten wieder der Kasse beigetreten sind. Die gegenteilige,
von der Beschwerdegegnerin vertretene Auffassung, wonach die neue
Bestimmung nur Versicherten, die nach dem 1. Januar 1977 wieder beigetreten
sind, zugute kommen soll, verletzt das Prinzip der Gegenseitigkeit,
nach welchem die anerkannten Krankenkassen laut Art. 3 Abs. 3 KUVG die
Krankenversicherung zu betreiben haben. Nach diesem Grundsatz muss zwischen
den Beiträgen einerseits und den Versicherungsleistungen anderseits ein
Gleichgewicht bestehen. Weiter besagt er, dass Kassenmitgliedern unter
den gleichen Voraussetzungen die gleichen Vorteile zu gewähren sind
(BGE 112 V 287 Erw. 3 mit Hinweisen). Der Grundsatz der Gegenseitigkeit
verbietet damit, dass ein Versicherter in den Genuss von Vorteilen kommt,
welche die betreffende Kasse nicht auch ihren andern Mitgliedern gewährt,
die sich in vergleichbarer Lage befinden (BGE 109 V 148, 108 V 258 Erw. 3a,
106 V 178 Erw. 3 mit weiteren Hinweisen). Würden die Versicherten bezüglich
Einteilung in die Beitrittsaltersgruppen unterschiedlich behandelt je
nachdem, ob der Wiedereintritt in die Zeit vor oder erst nach der in Frage
stehenden Statutenrevision gefallen ist, hätte dies zur Folge, dass die
vor dem 1. Januar 1977 wieder eingetretenen Versicherten für die ganze
Mitgliedschaftsdauer ab diesem Datum gegenüber der Gruppe der erst nach
diesem Zeitpunkt Wiedereingetretenen offensichtlich schwer benachteiligt
würden. Die erste Gruppe hätte für die gleiche Versicherungsdeckung
unter Umständen wesentlich höhere Beiträge zu entrichten als die
zweite Gruppe. Ein triftiger Grund für diese Ungleichbehandlung ist
nicht ersichtlich, befinden sich doch beide Gruppen von Versicherten
- abgesehen vom Stichtag des Wiedereintritts - in der genau gleichen
Situation. In der angefochtenen Verfügung weist die Kasse im übrigen
selbst auf mögliche Konsequenzen dieser Ungleichbehandlung hin, indem
sie ausführt, dass ein Versicherter, dessen Wiedereintritt vor dem 1.
Januar 1977 erfolgt ist, unter Umständen eine Umteilung in eine andere
Altersgruppe dadurch erreichen könnte, dass er aus der Kasse austritt und
ihr später erneut beitritt. Wohl müsste er in einem solchen Fall in Kauf
nehmen, dass er bezüglich seines Gesundheitszustandes als Neueintretender
behandelt würde; dieser Umstand ist indessen im vorliegenden Zusammenhang
ohne Bedeutung. Es ist somit davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin
als Wiedereintretende für die Altersgruppeneinteilung grundsätzlich
die Anrechnung früherer Mitgliedschaftsjahre beanspruchen kann. Bei
diesem Ergebnis handelt es sich um einen Fall unechter Rückwirkung;
eine solche liegt nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn das neue Recht
gestützt auf Sachverhalte, die früher eingetreten sind, nur für die Zeit
seit seinem Inkrafttreten Anwendung findet bzw. wenn bei der Anwendung
des neuen Rechts auf Verhältnisse abgestellt wird, die schon unter der
Herrschaft des alten Rechts entstanden sind und beim Inkrafttreten des
neuen Rechts noch andauern. Diese Rückwirkung ist grundsätzlich zulässig,
sofern ihr nicht wohlerworbene Rechte entgegenstehen (BGE 108 V 119, 107
Ib 196 Erw. 3b und 203, 106 Ia 258 Erw. 3a, 104 Ib 219 Erw. 6, 103 V 41
Erw. 3a, 99 V 202 f.; RKUV 1985 Nr. K 627 S. 131 Erw. 2a). Es stellt sich
somit noch die Frage, ab welchem Zeitpunkt die Beschwerdeführerin in den
Genuss der Statutenänderung gelangt.

Erwägung 3

    3.- a) Die Kasse hat die Beschwerdeführerin auf den 1. Juli 1976 in
Anwendung der damals geltenden Bestimmungen in die Eintrittsaltersgruppe
B eingestuft. Über eine allfällige Umteilung in die Altersgruppe A hat
die Kasse bis 1985 nicht entschieden. Dass sie die Umteilung nicht von
sich aus - ohne Gesuch der Beschwerdeführerin - auf den 1. Januar 1977
vorgenommen hat, kann entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht als
formlose materielle Verfügung oder als Entscheid im Sinne von Art. 30
Abs. 1 KUVG qualifiziert werden, welche nicht mehr angefochten werden
können, wenn der Versicherte dagegen nicht innert nützlicher Frist
einschreitet und der Kasse seine abweichende Auffassung bekanntgibt
(vgl. BGE 110 V 168 Erw. 2b, 102 V 16 Erw. 2a; RSKV 1982 Nr. 474 S. 27
Erw. 3a, 1981 Nr. 434 S. 7 Erw. 1, Nr. 461 S. 206 und Nr. 464 S. 230;
GOSSWEILER, Die Verfügung im schweizerischen Sozialversicherungsrecht,
Diss. Bern 1983, S. 208 und 220).

    Im vorliegenden Fall setzte eine allfällige Umteilung in eine andere
Altersgruppe als Änderung im Mitgliedschaftsverhältnis notwendigerweise
einen Antrag der Versicherten voraus. Da ein solcher fehlte, konnte
auch kein materieller Entscheid in einem konkreten Einzelfall mit den
dargestellten Folgen bei fehlender Anfechtung getroffen werden.

    Begehren um Änderungen im Mitgliedschaftsverhältnis können
grundsätzlich nur mit Wirkung für die Zukunft gestellt werden, indem
angenommen wird, dass ein Versicherter bis zum Zeitpunkt, da er das
entsprechende Gesuch stellt, auf eine Änderung verzichtet. Ob ein solcher
Verzicht aus Rechtsunkenntnis, Nachlässigkeit, fehlendem Bedarf oder
aus anderen Gründen erfolgt, ist unerheblich. Der Versicherte hat
es selbst zu vertreten, wenn er von der Möglichkeit der Änderung im
Mitgliedschaftsverhältnis als Gestaltungsrecht nicht rechtzeitig Gebrauch
macht. Der Verzicht auf eine Änderung während längerer Zeit hat jedoch
keine Verwirkung des Anspruchs zur Folge. Da die Berechtigung, Beiträge
aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersklasse entrichten
zu können, ein auf Dauer angelegter Anspruch ist, kann er auch nach
längerem Verzicht ohne weiteres jederzeit mit Wirkung für die Zukunft
erhoben werden.

    b) Wie aus der angefochtenen Verfügung ersichtlich ist, hat die
Beschwerdeführerin den Anspruch auf Umteilung erstmals mit Schreiben vom
11. Februar 1985 formell geltend gemacht, weshalb sie ab Februar 1985
in die ihren früher zurückgelegten Mitgliedschaftsjahren entsprechende
Altersgruppe umzuteilen ist. Über die richtige Einstufung nach Massgabe
der früheren Mitgliedschaftsjahre sowie über die Höhe der Beiträge ab
1. Februar 1985 und eine allfällige Rückvergütung zuviel bezahlter Beiträge
ab diesem Datum wird die Kasse, an welche die Sache zurückgewiesen wird,
noch zu verfügen haben.

Erwägung 4

    4.- (Kostenpunkt.)

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne teilweise
gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 1. April 1986 und die angefochtene Kassenverfügung vom 22. Februar
1985 aufgehoben werden und die Sache an die Christlichsoziale Kranken- und
Unfallkasse der Schweiz zurückgewiesen wird, damit diese über den Anspruch
der Beschwerdeführerin auf Umteilung in eine andere Altersbeitrittsgruppe
ab 1. Februar 1985 und die Rückerstattung zuviel bezahlter Beiträge
neu verfüge.